24. September 2020
Vor 10 Jahren wurde Jacobin in den USA gegründet. Mit scharfen Analysen und einer klaren Schreibe hat das Magazin seither eine neue Generation für sozialistische Politik begeistert.
Es ist wieder soweit!
Ich wünschte, ich könnte behaupten, ich hätte Jacobin durch Occupy Wall Street entdeckt, oder während ich für Bernie Sanders Wahlkampf machte oder bei irgendeinem anderen Ereignis, das mich als einen prototypischen Millennial ausweisen würde, der nach dem Finanzcrash von 2008 Sozialist geworden ist. Aber das stimmt nicht.
Als Jacobin in den USA im Herbst 2010 startete, hatte ich mein Studium bereits abgeschlossen und war nach Europa gezogen, um dem düsteren US-amerikanischen Arbeitsmarkt und seiner ebenso düsteren politischen Landschaft zu entfliehen. Keine der frühen Ausgaben tauchte auf meinem Radar auf, obwohl ich die Occupy-Bewegung und die daraus entstandene Literatur relativ interessiert verfolgte.
Tatsächlich war der erste Jacobin-Text, an den ich mich heute noch erinnern kann, ein Artikel von Gavin Mueller aus dem Jahr 2012 über Sex House, eine obskure Reality-TV-Satire, von der ich damals ein begeisterter Fan war. Ich hatte schon vorher von dem Magazin gehört, aber es war diese vom autonomen Marxismus geprägte kritische Lesart einer YouTube-Serie, die mich aufmerksam werden ließ. Die Tatsache, dass ich hier eine sozialistische Zeitschrift las, die eine intelligente Diskussion über nerdigen Internet-Humor eröffnete, beeindruckte mich und ich wurde schnell Abonnent. Etwas später bat mich die Redaktion sogar, selbst ein paar Artikel zu verfassen und ich wurde schließlich Redakteur des Magazins. Die Gelegenheit, mich von der eher sektiererischen sozialistischen Politik abzuwenden, in der ich damals engagiert war, kam mir wie gerufen und dennoch begriff ich erst später, wie sehr Jacobin den Begriff des Sozialismus für meine Generation – und hoffentlich viele weitere – neu definieren würde.
Wie vermutlich viele US-amerikanische Sozialistinnen und Sozialisten zwischen 30 und 40, kam ich als gelangweilter Teenager in den 1990ern zuallererst im Internet mit der Linken in Berührung, bevor man dann nach dem 11. September 2001 einen Gang höher schaltete. Als die Bush-Administration kriminelle (aber zunächst populäre) Kriege eröffnete, begannen ich und viele andere für wöchentliche Antikriegsdemonstrationen zu mobilisieren.
Die Antikriegsbewegung war extrem durchmischt – Linksliberale, Anarchisten und Mitglieder der Grünen Partei bis hin zu der kuriosen Revolutionary Communist Party und ihrer berüchtigten Vorfeldorganisation World Can’t Wait (WCW) waren darunter. Die Gewerkschaftsbewegung war so gut wie abwesend. Jegliches Gerede von Streiks oder Arbeitskämpfen beschränkte sich auf die Ermahnung marxistischer Politsekten, die versuchten uns zu erklären, was alles möglich wäre, wenn wir doch bloß eine in der militanten Arbeiterbewegung verwurzelte, sozialistische Massenpartei hätten.
Früher oder später kamen die meisten von uns zu dem Entschluss, dass der einzige Ausweg aus diesem Schlamassel darin bestand, einen Demokraten – irgendeinen Demokraten – zu wählen, und Bush aus dem Amt zu bugsieren. Damals dachte ich, wir würden aus unserem Protest Politik machen. Im Nachhinein würde ich sagen, dass wir unsere Politik aufgegeben hatten und uns stattdessen hinter den faden Zentristen John Kerry stellten, der am Ende ohnehin die Wahl verlor.
Doch nach den Enttäuschungen der Kerry-Kampagne kamen einige von uns zu dem Schluss, dass an den Appellen der marxistischen Sekten doch etwas dran war: Ob es uns nun gefiel oder nicht, mussten wir einsehen, dass weder die sozialen Proteste der Antikriegsbewegung noch der Elektoralismus der Demokratischen Partei dazu in der Lage gewesen waren, den Krieg zu stoppen. Nur der Aufbau einer sozialistischen Alternative würde uns aus dieser politischen Sackgasse führen können. So realitätsfern es auch klang, ohne eine Basis in der Arbeiterinnenklasse würden sozialistische Ideen für immer eine Randexistenz fristen müssen. Wir hatten keine andere Wahl, als »die Partei aufzubauen«.
Das war leichter gesagt als getan. Die sozialistische Linke in den USA war Mitte der 2000er Jahre ein bunt zusammengewürfelter Haufen kleiner, ideologisch starrer Gruppen ohne jegliche soziale Basis, die sich hauptsächlich darin unterschieden, dass sie den Zeitpunkt des Scheiterns der Sowjetunion verschieden datierten. Die Entscheidungsfindung für eine der politischen Gruppen glich daher eher einer Runde der interaktiven Spielbücher Choose Your Own Adventure. Welcher Weg zum Sozialismus klang spannender: der parlamentarische oder der revolutionäre? Welcher Aufstand eines krisengeschüttelten Kaiserreich kam einem romantischer vor: der russische oder der chinesische? Für welche Spielart des Sozialismus man sich entschied hatte mit den politischen Gegebenheiten ungefähr so viel zu tun wie das das eigene Sternzeichen oder mit wem man zufälligerweise gemeinsam studiert hatte.
Wie alle anderen Splittergruppen – ob religiös, kulturell oder politisch – pflegten sie ihre eigenen Gewohnheiten und hatten ihr eigenes Vokabular. Während man zu einem »Kader« ausgebildet wurde, fing man an, bestimmte Phrasen zu verwenden und obskure Figuren zu zitieren, die im intellektuellen Leben der bevorzugten Gruppe eine wichtige Rolle spielten. Damit signalisierte man den anderen Mitgliedern, dass man sich seinen Platz in den Rängen verdient hatte und es verlieh einem obendrein auch noch das Gefühl, eine ernsthafte politische Person zu sein. Hatte man das Glück, einen Artikel schreiben zu dürfen, dann erschien er in einer der vielen Publikationen, die – wie meine Mutter es einmal diplomatisch formuliert hatte – so aussahen, als würden sie »von einer kleinen Gruppe von Menschen für eine kleine Gruppe von Menschen« produziert.
Wir haben es gut gemeint und an vielen Kämpfen teilgenommen, auf die ich stolz bin, aber im Nachhinein waren wir hoffnungslos überfordert und realitätsfremd. Für jede neue Person, die wir rekrutierten, verloren wir zwei weitere – entweder wegen politischer Frustration, persönlicher Erschöpfung oder einer Mischung aus beidem.
Es war daher ein kleines Wunder, dass das Team von Leuten, das Jacobin gegründet hatte, weitgehend unbeschadet aus diesem Zustand hervorging und einen sozialistischen Schreibstil prägte, der frisch und zugänglich war – und der vor allem nicht die kleine, bestehende sozialistische Linke als seine Zielgruppe betrachtete. Selbst frühe Artikel wie die Rezension von Sex House nahmen die Welt wie sie ist als ihren Ausgangspunkt, ohne von den Leserinnen und Lesern zu erwarten, einen Hintergrund in radikaler Politik oder abstrakten theoretischen Debatten mitzubringen. Das machte Jacobin damals – und auch heute – zu einer unentbehrlichen Ressource für Sozialistinnen und Sozialisten jeder Couleur, ganz unabhängig davon, ob man nun unsere Interpretation der Russischen Revolution teilt oder wie man etwa die Potenziale des Geo-Engineering einschätzt.
Jacobin kann sich die Wiederbelebung der sozialistischen Linken in den USA, die wir in den letzten fünf Jahren beobachten konnten, nicht auf die eigene Fahne schreiben – das ist vielmehr dem Kapitalismus zu verdanken. Doch Jacobin ist es gelungen, eine der weltweit meistgelesenen sozialistischen Publikationen zu werden, die Menschen, die durch die Finanzkrise radikalisiert und durch die Bernie-Sanders-Kampagne mobilisiert wurden, als Orientierungspunkt dient. Die vielen Artikel, die wir in den letzten zehn Jahren veröffentlicht haben, machten eine ganze Generation mit sozialistischer Theorie und Geschichte vertraut. Diese Ideen waren bei der Gründung des Magazins fast schon ausgestorben und wurden durch die Publikation wieder in den US-amerikanischen Mainstream gespült. In diesem Sinne war Jacobin notwendig, aber nicht ausreichend. Ein schickes Magazin allein reichte nicht, um den Sozialismus in den USA wieder zu bestärken, aber es hat sicherlich eine bedeutsame Rolle dabei gespielt.
Diejenigen von uns, die zu dem Magazin kamen und schon vor der Bernie-Sanders-Kampagne in der sozialistischen Linken aktiv waren, lernten durch das Schreiben für Jacobin, die hölzerne Sprache unserer verschiedenen »Traditionen« abzulegen und Texte für Menschen zu verfassen, die ihre Zeit nicht überwiegend damit verbringen, über den Sozialismus nachzudenken.
Warum sollte man von »gelebter Erfahrung« sprechen, wenn »Erfahrung« bereits hinlänglich beschreibt, was gemeint ist? Warum auf obskure europäische Theoretiker oder interne marxistische Streitereien verweisen, wenn sie einem Argument nichts hinzufügen und Leserinnen möglicherweise eher befremden? Jacobin verlangt von seinen Autorinnen und Autoren nicht, Komplexität zu vernachlässigen, aber das Magazin fordert sie dazu auf, zweimal darüber nachzudenken, ob sich dasselbe Argument nicht auch auf klarere Weise ausdrücken lässt. Es hat mich und viele andere zu besseren Autoren gemacht und dafür gesorgt, dass die Erkenntnisse, die wir im Laufe der Jahre gewonnen haben, früher oder später einem breiteren Publikum vermittelt werden konnten.
In den letzten Jahren wurden in einer Reihe von Ländern fremdsprachige Ableger von Jacobin gestartet – darunter auch in Deutschland, wo ich lebe und an der Gründung mitgewirkt habe. Wir gehen alle etwas anders an das Projekt heran, aber wir teilen die Überzeugung, dass die Linke unseres jeweiligen Landes von dem Ehrgeiz, der Bescheidenheit und dem Stil, durch den sich Jacobin auszeichnet, profitieren kann.
Jahrzehnte der politischen Niederlagen haben unsere Erwartungen geschmälert, aber wir alle hegen die Hoffnung, dass wir die Missstände unserer Welt nur durch mehr Demokratie und Freiheit beheben können. Insofern sollten wir alle hoffen, dass Jacobins kommende Jahrzehnte noch erfolgreicher sein werden, als das erste.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.