19. September 2023
Eisenbahnen boten einst schnelle Verbindungen durch Jugoslawien. Heute werden Zugreisen durch marode Infrastruktur und Grenzkontrollen ausgebremst – ein Sinnbild für den Untergang der internationalistischen Vision Titos und den kapitalistischen Kahlschlag.
Der berühmte Blaue Zug von Josip Broz Tito bei der Eröffnung der Strecke Belgrad-Bar am 28. Mai 1976.
Wikimedia Commons / OrjenDie Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien war einst von rund 10.000 Kilometern Schiene durchzogen. Züge transportierten Fracht von den kosovarischen Minen zu den serbischen Fabriken und brachten Jugendliche aus allen sechs Teilrepubliken zu Sommerlagern an die kroatische Küste. Da der jugoslawische Pass einen einzigartigen Zugang zu West und Ost ermöglichte, konnte man in Belgrad in einen Zug steigen und im benachbarten Österreich, Ungarn oder sogar (per Fahrt im Orient-Express) in Istanbul aufwachen.
Doch seit dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens in einen Flickenteppich aus ethnisch separierten Staaten ist das Schienennetz nur noch ein Schatten seiner selbst. Krieg, die NATO-Bombardements, Privatisierung, Verwahrlosung, Diebstahl, die in westlichen Konferenzräumen ausgearbeitete Grenzziehung und die Ausbeutung durch ausländisches Kapital haben alle ihren Teil zum anhaltenden Verfall des Schienennetzes in der Region beigetragen. Der Niedergang der Bahn steht stellvertretend für das Schicksal des Westbalkans in seiner postsozialistischen Ära.
Heute gibt es in Serbien nur noch eine einzige Direktverbindung, die die Staatsgrenzen überschreitet: die ebenso geschichtsträchtige wie inzwischen heruntergekommene Linie von Belgrad nach Bar an der montenegrinischen Küste. Es dauerte fast ein Vierteljahrhundert, bis dieses Meisterwerk jugoslawischer Ingenieurskunst fertiggestellt war. Es überquert eines der schönsten Bergmassive Europas – mit kilometerlangen Tunneln und hunderten Brücken, darunter die einst höchste Eisenbahnbrücke der Welt. Die Bahn rollte langsam durch die mit Kiefern bewachsenen Gipfel und wurde an den Haltestellen von Bahnhofsvorstehern mit ihren markanten Schirmmützen und Trillerpfeifen begrüßt. Wenn man diese zerklüftete Landschaft sieht, ist es ein Leichtes, sich die harten Bedingungen beim Bau der Strecke vorzustellen, bei denen über 100 Menschen ums Leben kamen – dies ist auch eine deutliche Erinnerung daran, dass das jugoslawische Sozialismusmodell seinen Arbeiterinnen und Arbeitern des Öfteren keinen angemessenen Arbeitsschutz bot.
»Einige der Gleise wurden von internationalen Brigaden gelegt, die in den Jahren nach dem Sieg über den Nazifaschismus nach Jugoslawien strömten, um dem Land wieder auf die Beine zu helfen.«
Die 1976 von Präsident Josip Broz Tito eingeweihte Strecke war der Stolz Jugoslawiens. Tito selbst bestritt die Reise nach Montenegro mit dem berühmten Blauen Zug, mit dem er durch die Balkanhalbinsel tourte, um für seine Vision einer dezentralisierten Föderation sozialistischer Republiken zu werben, die weder an Washington noch an Moskau gebunden wäre. Einige der anderen Gleise, auf denen er reiste, wurden von freiwilligen Jugendbrigaden aus ganz Jugoslawien – ein Viertel davon waren Frauen – sowie von 56 internationalen Brigaden gelegt, die in den Jahren nach dem Sieg über den Nazifaschismus in das Land strömten, um ihm wieder auf die Beine zu helfen.
Titos föderales Projekt schaffte es, die ethnischen Spannungen (größtenteils) in Schach zu halten. Ein dezentralisiertes politisches Modell sollte das friedliche Zusammenleben statt ethnisch-nationalistischem Chauvinismus fördern und verhindern, dass eine Region der föderativen Republik eine Art Vormachtstellung oder Vorherrschaft erlangt. Nach dem Tod des Staatsoberhaupts im Jahr 1980 und insbesondere nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus sowjetischer Prägung wurden die interethnischen Spannungen aber sowohl von lokalen politischen Machthabern als auch von ausländischen Mächten extrem angefacht. Sowohl der Westen als auch der Osten strebten nach Einfluss und einem Stück vom Kuchen in der strategisch wichtigen und im schrecklichsten, aber wahrsten Sinne des Wortes bald zerstückelten Region.
Bezeichnenderweise war die letzte offizielle Reise des Blauen Zugs im Staatsauftrag die Fahrt des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević zum Schauplatz der historischen Schlacht zwischen Serben und Osmanen auf dem Amselfeld im Kosovo, wo er eine Rede hielt, die weithin als Vorbote des Krieges zwischen serbischen und albanischen Nationalisten angesehen wird. Ethnische Säuberungen und die Abspaltung der ehemaligen Föderalstaaten folgten bald.
Die Reise von Belgrad nach Bar ist inzwischen eine transnationale. Man reist von Serbien nach Bosnien und Herzegowina, zurück nach Serbien und weiter nach Montenegro. Reisende im Nachtzug werden zweimal von wortkargen Grenzbeamten geweckt, die die Pässe sehen wollen, während die jeweilige Grenzpolizei den Zug mit Hunden auf der Jagd nach Geflüchteten auf dem Weg nach Westeuropa durchsucht. Zudem hat sich die Trasse so sehr verschlechtert, dass die Fahrt im Jahr 2023 vier Stunden länger dauert als 1976 (die teilweise stundenlangen Verspätungen gar nicht erst mitgerechnet). 2006 entgleiste der Zug in einer Schlucht, wobei 47 Menschen starben und 200 verletzt wurden.
»In den 1990er Jahren zerstörten lokale Milizen und Militärtruppen diverse Eisenbahnstrecken auf dem gesamten Westbalkan.«
Im laufenden Jahr gab es trotz Modernisierungsmaßnahmen ebenfalls mehrere Unfälle, darunter ein tödlicher Zusammenstoß mit einer 61-jährigen Autofahrerin. Die nahezu antiken, aus Frankreich und Deutschland erworbenen Fahrzeuge sind außen mit Graffiti beschmiert und innen zwar romantisch-charmant, aber ebenfalls ziemlich heruntergekommen. Bis vor kurzem wurden auf der Strecke noch Lokomotiven aus Titos blauem Zug eingesetzt. Jetzt verstauben diese vor dem Belgrader Hauptbahnhof und warten darauf, zu Museumsstücken umgebaut zu werden.
Ähnlich frustrierend ist die Situation in ganz Serbien. Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Personenzüge im Land liegt Berichten zufolge bei knapp 50 Kilometern pro Stunde – das ist nur wenig schneller als 1884, als die erste Strecke zwischen Belgrad und der südserbischen Stadt Niš gebaut wurde. Mehrere Faktoren haben zur anhaltenden Verschlechterung der Bahn-Lage beigetragen. In den 1990er Jahren zerstörten lokale Milizen und Militärtruppen diverse Eisenbahnstrecken auf dem gesamten Westbalkan. 1999 beschädigte dann die NATO bei ihren Bombenangriffen auf Serbien rund 600 Kilometer Eisenbahnschienen (und tötete zehn Zivilistinnen und Zivilisten bei einem Angriff auf einen Personenzug).
Es folgten Plünderungen, Verwahrlosung und Privatisierung, mit schlimmen Folgen für die Sicherheitsstandards. Im vergangenen Dezember erlitten 51 Menschen Vergiftungen, als ein mit Ammoniak beladener Zug entgleiste. Der Diebstahl von Oberleitungen führte zu Verzögerungen beim Wiederaufbau der Strecke Belgrad-Bar, und in Nordserbien entgleiste ein Zug, nachdem Schrauben aus den Schienen geklaut worden waren.
Der Zustand einiger Strecken hat sich in den vergangenen Jahren etwas verbessert, vor allem dank ausländischer Investitionen aus Russland, China und der EU, die alle versuchen, in der Region strategisch zu punkten. So wurde unter anderem die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Belgrad und der zweitgrößten Stadt des Landes, Novi Sad, auf russische und chinesische Kosten gebaut. Die Strecke ist Teil von Pekings Neuer Seidenstraße, mit der das Reich der Mitte seinen Zugang zu den Weltmärkten durch den Ausbau von Schienen-, Straßen- und Seehandelsrouten durch 150 Länder verbessern will. Dadurch geraten viele dieser schwächeren Staaten in Chinas Schuld. Auch Serbien muss in den kommenden Jahren mehrere Milliarden Euro an Peking zahlen, um Kredite zu bedienen, die es bei chinesischen Banken aufgenommen hat, um damit chinesische Unternehmen für den Aufbau der Infrastruktur in Serbien zu bezahlen.
In diesem Jahr kündigte Belgrad außerdem ein Kreditpaket der Europäischen Investitionsbank (EIB) und der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in Höhe von 1,6 Milliarden Euro sowie den bisher größten EU-Zuschuss für das Land in Höhe von 600 Millionen Euro für die Modernisierung der Eisenbahnlinie nach Niš an. Russische Kredite finanzieren derweil die Modernisierung der Strecke Belgrad-Bar und andere ähnliche Projekte. Der Balkan ist ein strategisches Schlachtfeld für diese Mächte. Der nahezu autokratisch regierende serbische Präsident Aleksandar Vučić steht sowohl in Brüssel als auch in Moskau unter zunehmendem Druck, seine heikle Zwei-Seiten-Politik aufzugeben und sich in der Konfrontation zwischen Ost und West zu entscheiden.
Wie lange Verzögerungen, Fehler und verschwendete Gelder für die Strecke Belgrad-Budapest zeigen, sind die Infrastruktur-Vorzeigeprojekte in Serbien makropolitischen und wirtschaftlichen Interessen unterworfen, die wenig mit dem Leben der einfachen Menschen zu tun haben. Die neuen Hochgeschwindigkeitszüge nach Novi Sad mögen schnittig, sauber und bis zu 200 Kilometer pro Stunde schnell sein, doch obwohl sie bei angeblich vielen Einheimischen beliebt sind, mussten sie ihre Geschwindigkeit drosseln, nachdem sie mehrfach bei Vorbeifahrten mit Steinen beworfen wurden.
»Unpünktlichkeit, Fahrtausfälle und lange Warteschlangen sind keine Seltenheit und treiben verärgerte Pendler zurück ins eigene Auto, was wiederum zu mehr Verkehrsaufkommen und Stau führt.«
Nirgendwo werden die zweifelhaften Vorteile ausländischer Investitionen in die Infrastruktur so deutlich wie in Belgrad selbst. Der wunderschöne österreichisch-ungarische Hauptbahnhof der Hauptstadt wurde 2018 geschlossen, um Platz für das überaus umstrittene Projekt Belgrade Waterfront zu schaffen. Wer jetzt in den Zug ins montenegrinische Bar oder in eine der meisten anderen serbischen Städte einsteigen möchte, muss eine gute halbe Stunde nach außerhalb des Stadtzentrums fahren. Regenwasser tropft vom Dach des hässlichen, halbfertigen Bahnhofsgebäudes, das von der Stadt absolut isoliert ist und weder über grundlegende Einrichtungen noch über adäquate ÖPNV-Anschlüsse verfügt.
Ich war selbst dort: auf dem Weg hielt mein Bus zum Bahnhof auf halber Strecke, sodass ich zwanzig Minuten lang über die Autofahrspuren flitzen musste, um noch pünktlich zur Abfahrt nach Bar am Bahnhof anzukommen. Der neue Bahnhof im Stadtteil Prokop heißt offiziell »Beograd Centar«. Angesichts ihrer Entfernung zum Stadtzentrum wird die Station allerdings von den Einheimischen nicht mit diesem hochtrabenden Namen bedacht.
Auch in Belgrad selbst ist der ÖPNV in schlechtem Zustand. Die serbische Hauptstadt ist die größte Stadt Europas ohne ein Schnellbahnsystem in Form von Metro, U- oder S-Bahnen. Man setzt nach wie vor auf eine alternde Flotte von Bussen und Oberleitungsbussen. Unpünktlichkeit, Fahrtausfälle und lange Warteschlangen sind keine Seltenheit und treiben verärgerte Pendler zurück ins eigene Auto, was wiederum zu mehr Verkehrsaufkommen und Stau führt. Die Stadt wird lokal spöttisch als »halbe Metropole« (in Anspielung auf das serbokroatische Wort »pola«, das heißt »halb«) bezeichnet, weil sie keine U-Bahn hat. Pläne für ein Metrosystem sind nahezu ein Jahrhundert lang immer wieder an Missmanagement und Geldmangel gescheitert, und erst mit der Belgrade Waterfront bekommt die Hauptstadt endlich eine U-Bahn. Doch genau wie der neue »Centar«-Bahnhof wird auch dieses 4,6 Milliarden Euro teure Projekt weithin als Mittel zur Unterstützung der Waterfront-Entwicklung und als Mittel angesehen, die Taschen der regierungsnahen Eliten zu füllen.
»Wir hinken dem Rest Europas bestimmt ein halbes Jahrhundert hinterher; aber das ist trotzdem keine gute Lösung«, kommentiert Zoran Bukvić, Transport-Koordinator bei Ne dawimo Beograd, einer Umweltschutzgruppe, die es schon in den Stadtrat von Belgrad sowie das nationale Parlament geschafft hat. Wie er erklärt, wurde ein längerfristiger Plan, der wichtige Wohn-, Dienstleistungs- und Gewerbegebiete anbinden sollte, verworfen. Die neue Metro-Endstation ist nun direkt unterhalb der Waterfront geplant: »Der Endpunkt wurde an die Belgrade Waterfront gelegt, um den Grundstückswert dort zu steigern und diesen Teil der Stadt für den Bau und die Entwicklung attraktiver zu machen.« Dadurch hätten sich allerdings auch die Kosten für das U-Bahn-Projekt drastisch erhöht, da die Tunnel nun tief unter dem Fluss Save verlegt werden müssen, fügt Bukvić hinzu.
Die Erschließung, Entwicklung und der Bau der Waterfront wurde an eine Investmentfirma aus Abu Dhabi vergeben, die dafür einen Anteil von 68 Prozent an dem Projekt erhält. Oppositionspolitiker kritisieren, dass die serbischen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wohl trotzdem einen Großteil der Kosten übernehmen werden müssen. Überschattet wurden die Bauarbeiten, die zum Teil auf dem ehemaligen Gelände der serbischen Eisenbahngesellschaft stattfinden, durch den Tod von Arbeitern, Zwangsräumungen, illegale Abrissarbeiten sowie Korruptions- und Intransparenz-Vorwürfe (so gab es bei der Ausschreibung keinen Wettbewerb; konkurrierende Aufträge wurden nicht öffentlich bekannt gemacht).
Als Alternative zur neuen Metro, die die Taschen ausländischer Geschäftsleute und ihrer einheimischen Freunde füllen soll, schlägt Bukvić ein weniger tief liegendes U-Bahn-System vor, das Orte mit echtem öffentlichem Bedarf verbinden und Platz auf den Straßen für mehr öffentliche Verkehrsmittel und Fahrradwege schaffen würde. Er warnt davor, dass die Serbinnen und Serben entgegen dem europäischen Trend in Zukunft eher verstärkt auf den privaten Pkw setzen werden. Vor allem würden alte Dieselautos aus dem Westen importiert.
Doch solange die Petrodollars weiter fließen, gibt es kaum eine Chance, dass eine solche Politik umgesetzt wird. Die geplante Metrolinie wird von Kritikern als eine Bahn »von nirgendwo nach nirgendwo« bezeichnet. Für ein Revival des ÖPNV und des Zugverkehrs sowohl in Serbien als auch auf dem gesamten Balkan sieht es leider ähnlich düster aus.
Matt Broomfield ist Organizer und Autor, unter anderem des Buches Brave Little Sternums: Poems from Rojava.