05. November 2020
Seit der Verschärfung des Abtreibungsgesetztes ist Polen von einer Welle des Protests erfasst. Dabei geht es nicht nur um Frauenrechte. Im Widerstand auf den Straßen zeigt sich der Frust über die rechtsnationale Regierung.
Seit das Verfassungsgericht am 22. Oktober das strenge polnische Abtreibungsrecht weiter verschärfte, regt sich lautstarker Protest.
Hunderttausende gehen in diesen Tagen in Polen gegen das Abtreibungsverbot auf die Straße. Die Proteste sind inzwischen zu der größten sozialen Bewegung angewachsen, die Polen seit Jahrzehnten gesehen hat. In Europa zählt Polen seit den 1990er Jahren zu den Ländern mit den striktesten Abtreibungsgesetzen; am 22. Oktober verschärfte das Verfassungsgericht die Gesetzeslage noch weiter, und entschied, dass schwere Fehlbildungen des Fötus keinen hinreichenden Grund mehr für einen Schwangerschaftsabbruch darstellen.
Die reproduktiven Rechte sind seit Jahren ein zentraler Gegenstand politischer Auseinandersetzungen in Polen. Bereits im Jahr 2016 versuchte die rechtsnationale Regierungspartei PiS, eine Verschärfung des Abtreibungsgesetztes zu verabschieden. Die »Schwarzen Proteste« konnten das noch verhindern. Nach dem jüngsten Gerichtsurteil kam es nun erneut landesweit zu heftigen Protesten, einschließlich Streiks.
Die feministische Aktivistin Agnieszka Dziemianowicz-Bąk war schon 2016 bei den »Schwarzen Protesten« eine der Hauptorganisatorinnen und spielt auch bei den aktuellen Mobilisierungen wieder eine führende Rolle. Seit den Wahlen vom Oktober 2019 ist sie Abgeordnete im Sejm (Unterhaus) der linken Koalition Lewica. David Broder sprach mit ihr über die Offensive gegen reproduktive Rechte, die Frustrationen der Bevölkerung über die PiS-Regierung und die Erfolge, die die Protestbewegung bereits errungen hat.
Die Reaktionen der letzten Wochen auf das Urteil des Verfassungsgerichts fielen heftig aus. Bemerkenswert ist vor allem aber auch, dass die Bewegung sehr breit in der Bevölkerung mobilisiert. So haben sich etwa auch Beschäftigte aus der Agrarwirtschaft oder dem Taxigewerbe den Protesten angeschlossen. Was macht diese Bewegung so stark?
Bei dem Urteil selbst ging es um reproduktive Rechte. Polens Abtreibungsgesetze waren vorher schon sehr restriktiv, aber das Urteil des Verfassungsgerichts kommt einem Abtreibungsverbot gleich. Dies führte zu Massenprotesten, zunächst von Frauen. Aber bald schlossen sich andere Gruppen an – Gewerkschafterinnen, Bauern, Unternehmerinnen.
Hier zeigt sich ein Massenprotest der gesamten polnischen Gesellschaft. Die Bewegung hat zwar immer noch eine feministische Agenda, aber sie weist auch darüber hinaus. Die Proteste sind auch ein Zeichen der Frustration der Bevölkerung über das Versagen der Regierung während der Corona-Krise und über die steigende Zahl der Todesfälle.
Im Vergleich zu den »Schwarzen Protesten« im Jahr 2016 sind die Slogans und Symbole diesmal radikaler, mitunter sogar vulgär – die populärste Parole der Demonstrationen lautet: »Verpisst euch!« Auch das zeigt, dass sich die Proteste gegen die aktuelle politische Situation im Allgemeinen richten, nicht nur gegen das Abtreibungsverbot.
Das hat Vorteile und Nachteile. Einerseits besteht die Gefahr, dass das feministische Anliegen in die allgemeine liberale Ablehnung gegen die regierende PiS aufgeht und dadurch verwässert wird. Was wir aber auch sehen, ist eine breitere Solidarität innerhalb der polnischen Gesellschaft, etwa zwischen Gewerkschafterinnen und Feministinnen. Das mag in vielen westlichen Ländern normal sein, aber nicht in Polen, wo nach dreißig Jahren neoliberaler »Schockdoktrin« ein allgegenwärtiger Individualismus herrscht.
Anfang dieser Woche hast Du im Parlament eine Rede gehalten, mit einem Kleiderbügel in der Hand – einem Symbol dafür, dass viele Frauen in Polen schon vor diesem Urteil für heimliche, widerrechtliche Abtreibungen zahlen mussten. In den Medien wird die PiS immer wieder auch als »sozialkonservative« Partei eingeordnet, die sich für ein solideres Sozialhilfesystem stark macht. Dass die Politik der PiS dazu führt, dass Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, massive finanzielle Kosten auf sich nehmen müssen, wird verschwiegen.
Ja, dieses Narrativ, dass die PiS den Sozialstaat ausbauen will, ist gute PR für diese Partei. Politisch sind sie sicherlich nicht liberal, wirtschaftlich sind sie aber absolut neoliberal ausgerichtet.
Und ein Abtreibungsverbot hat sehr schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Jedes Jahr lassen 120.000 Frauen in Polen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. Die meisten werden illegal in Polen durchgeführt, wer es sich leisten kann, reist dafür ins Ausland.
Der Kleiderbügel ist lediglich ein Symbol – auch illegale Abtreibungen werden natürlich nicht mehr auf diese Weise durchgeführt. Aber wir befürchten, dass dieses Verbot nicht nur weitere wirtschaftliche Ausschlüsse produziert, sondern auch, dass diejenigen, die nicht die finanziellen Mittel haben, um für eine Abtreibung ins Ausland zu gehen, erheblichen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt würden.
Die Tatsache, dass dieses Verbot nicht vom Parlament beschlossen, sondern durch ein Gerichtsurteil verhängt wurde, stellt eine weitere Provokation dar. Die PiS hat im Parlament die Mehrheit und hätte einen entsprechenden Gesetzentwurf ohne Probleme verabschieden können – aber das hätte bedeutet, dass die Entscheidung transparent und vor der ganzen Gesellschaft getroffen werden müsste.
Dazu sind sie zu feige, auch weil Umfragen zeigen, dass die Gesellschaft nicht hinter dem Abtreibungsverbot steht. Ganze 80 Prozent der Bevölkerung sind gegen das Verbot und 60 Prozent sind für eine Lockerung der Abtreibungsgesetze. Diese gesellschaftlichen Mehrheiten lassen vermuten, dass sogar ein Teil der Wählerschaft der PiS in dieser Hinsicht nicht hinter der Partei steht, auch wenn die Wählerinnen und Wähler dieser Partei im Allgemeinen recht konservativ sind.
Es gab einige Vermutungen, dass Präsident Andrzej Duda – der im Juli als unabhängiger, aber von der PiS unterstützter Kandidat wiedergewählt wurde – versuchen könnte, das Urteil etwas abzumildern, und zwar mit einer vermeintlichen »Kompromisslösung«, die Abtreibungen in sehr begrenztem Rahmen erlauben würde. Wie werden die Demonstrierenden das Deiner Einschätzung nach auffassen?
Die Mehrheit der Protestierenden will nicht einfach, dass alles so bleibt, wie es die letzten dreißig Jahre war – die meisten befürworten eine Lockerung der Gesetzeslage, auch wenn ein Teil der Bewegung lediglich den Status quo erhalten will.
Ich glaube nicht, dass sich die Menschen mit diesem Vorschlag zufriedengeben würden. Es ist auch kein wirklicher »Kompromiss«, sondern eher ein Versuch, das Urteil milder klingen zu lassen. Andrzej Duda bemüht dabei bewusst sehr unpräzise Formulierungen, die zwar eine offene Auslegung erlauben, die sich aber medizinisch nicht definieren lassen. Wenn eine Abtreibung nur dann erlaubt ist, wenn der Fötus schwere Fehlbildungen aufweist und »ohne Zweifel« unmittelbar nach der Geburt sterben würde, bedeutet das dann, dass es nicht erlaubt ist, eine Abtreibung durchzuführen, wenn der Fötus ein paar Tage überleben würde?
Der Vorsitzende der PiS Jarosław Kaczyński hat die Proteste scharf kritisiert und verurteilte sie etwa bei einer Fernsehansprache vor dem Hintergrund polnischer Nationalflaggen als einen Angriff auf die nationalen katholischen Werte. Eine rechtsextreme Gruppe, die sich selbst als »Nationalgarde« bezeichnet, fühlt sich nun dazu berufen, Kirchen vor Angriffen zu schützen. Werden solche Gruppierungen durch Kaczyński ermutigt und in welchem Verhältnis stehen sie zu der Polizei?
Die Polizei geht gegen die aktuellen Demonstrationen ähnlich brutal vor wie im letzten Sommer gegen die LGBT-Proteste. Aber – und das ist bezeichnend – eine Woche nach der Ansprache von Kaczyński musste die Polizei dazu übergehen, die Demonstrierenden vor dieser rechtsextremen Bürgerwehr zu beschützen.
Kaczyński ist auch für die Innere Sicherheit zuständig. Die führende politische Figur der Regierung appelliert hier also an den Widerstand rechtsextremer Milizen; diese folgen seinem Aufruf und kämpfen nun sowohl gegen die Polizei als auch gegen die Protestierenden. Das ist absurd.
Viele Kommentatorinnen und Kommentatoren sagen, Kaczyński sei verrückt geworden und habe die Kontrolle über die Situation verloren. Das glaube ich ehrlich gesagt nicht: Er will dieses Chaos und die Eskalation des Konflikts, denn das ist sowohl der Regierung als auch Kaczyński selbst durchaus zuträglich. Denn es gab immer wieder Auseinandersetzungen mit seinen kleineren Koalitionspartnern sowie mit dem Justizminister Zbigniew Ziobro. Durch eine Eskalation der aktuellen Lage versucht er, die Aufmerksamkeit von der Pandemie und den wachsenden Infektionszahlen abzulenken.
Was die »Nationalgarde« vor den Kirchen anbelangt, muss erst einmal klargestellt werden, dass von einem Angriff auf die Kirchen kaum die Rede sein kann. Am vergangenen Sonntag, an einem Tag, gab es vereinzelt Demonstrationen und Protestbanner in einigen Kirchen, aber das war es dann auch schon. Niemand hat die Kirchen »angegriffen« und mittlerweile werden die Kirchen von niemandem mehr adressiert. So kommt es zu diesen sonderbaren Bildern von Soldaten, Polizisten und rechtsextremen Gruppen, die die Kirchen »bewachen«, die von den Protesten gar nicht mehr beachtet werden.
Die Proteste von 2016, die sich gegen einen früheren Versuch einer Verschärfung des Abtreibungsrechts richteten, fanden auch in Irland eine gewisse Resonanz. Die Pro-Choice-Bewegung Repeal the 8th (etwa: Widerruft den achten Verfassungszusatz), kämpfte dort 2018 erfolgreich dafür, dass eine Volksabstimmung zur Aufhebung des Abtreibungsverbots führte. Die Bewegung errang damit einen großen Fortschritt für die reproduktiven Rechte – trotz der Schwäche der parlamentarischen Linken und der begrenzten Palette des politischen Mainstreams. Die Präsidentschaftswahlen in Polen vor zwölf Monaten spielten sich nur zwischen zwei politischen Kräften ab, nämlich der PiS und der eher zentristischen Opposition, die auch nicht gerade »liberal« ist. Können die aktuellen Proteste dazu beitragen, die Starre der polnischen Politik aufzubrechen?
Ich denke, wir befinden uns an einem Punkt, an dem es in beide Richtungen ausschlagen könnte. Es war von Beginn an klar, dass diese Proteste linker und radikaler sind als noch 2016 und dass sie auf eine progressive Politik hinauswollen.
Dennoch besteht im Moment die Gefahr, dass die Bewegung von der zentristischen Bürgerplattform (Platforma Obywatelska) vereinnahmt wird, die, wie Du schon sagtest, kaum als politisch liberal zu bezeichnen ist, aber nunmal die stärkste Opposition im Parlament ist. Es könnte passieren, dass die Polarisierung zwischen der PiS und ihren Gegnerinnen und Gegnern noch zunimmt. Unsere Hoffnung ist eher, dass sich die politische Landschaft Polens verändern wird, wenn wir die Debatte in eine progressivere Richtung lenken und die jüngere Generation und ihre Forderungen in den Vordergrund rücken.
Die meisten Protestierenden sind nicht organisiert, sondern kommen auf eigene Faust zu den Demonstrationen. Die größte Organizing-Gruppe ist jedoch das polnische Frauenstreik-Bündnis (Ogolnopolski Strajk Kobiet, OSK), das im Laufe des Jahres 2016 entstanden ist. Das Bündnisses begreift seine Aufgabe in der Organisation von Protesten und der Vernetzung von Aktivistinnen und Aktivisten – nicht aber in politischer Führung im eigentlichen Sinne. Außerdem ist es politisch sehr heterogen – einige stehen der Bürgerplattform nahe, andere sind näher an der Linken.
Wie groß ist die Chance, dass die Regierung angesichts der Proteste nachgibt? Gibt es da Parallelen zu 2016?
Vor vier Jahren musste die Regierung lediglich die Gesetzesvorlage zurückziehen, so einfach wird es dieses Mal nicht, da man das Verfassungsgericht in der Entscheidung herangezogen hat. Die Regierung hat hier also einen viel begrenzteren Spielraum, und ob sie letztendlich doch einknicken, ist schwer zu sagen.
Was die Regierung aber tun könnte, ist, den als Notlösung von der Linken vorgelegten Gesetzentwurf zur Entkriminalisierung von Abtreibungen zu verabschieden. Dadurch würden sich nicht die schwangeren Frauen, die eine Abtreibung vornehmen lassen, strafbar machen, sondern diejenigen, die sie anbieten, also etwa Ärztinnen und Ärzte. Ein solcher Gesetzentwurf würde zunächst einmal denjenigen Frauen helfen, die bereits im Krankenhaus sind und auf einen Schwangerschaftsabbruch warten; das wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Man müsste dafür noch nicht einmal das geltende Gesetz ändern, könnte damit aber Kompromissbereitschaft signalisieren und die Debatte über reproduktive Rechte zurück ins Parlament holen.
Meine pessimistische Einschätzung wäre, dass sie versuchen, Dudas vermeintlichen »Kompromiss« zu erlassen, und dann den öffentlichen Rundfunk und die Propagandamaschinerie anzukurbeln, um die Demonstrationen als unsinnig und im Kampf gegen die Pandemie hinderlich darzustellen.
Viel wird also auch davon abhängen, wie sehr sich der Protest politisiert und ob die Debatte in die Institutionen und das Parlament getragen werden kann. Aber die Bewegung hat in den letzten Jahren – und das sage ich als Feministin und Politikerin – bereits einen positiven Effekt gehabt. Frauen sind im öffentlichen Raum sichtbar und es werden mehr Journalistinnen aus der Bewegung zu den Debatten eingeladen. Der Feminismus ist jetzt in der polnischen Politik präsent und das wird uns erhalten bleiben.