28. April 2021
Glaubt man der Historikerin Hedwig Richter, dann war das deutsche Kaiserreich eine Triebfeder der Demokratie – ein »Aufbruch in die Moderne«. Das ist naiv.
Beschmiertes Bismarck-Denkmal in Frankfurt-Höchst.
Ein Historikerstreit war es nicht, auch wenn sich etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort meldeten. Hedwig Richters 2020 erschienenes Buch Demokratie. Eine deutsche Affäre wurde unter anderem in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Süddeutschen Zeitung, im Spiegel, im Tagesspiegel und im Deutschlandfunk Kultur besprochen. Die Meinungen gingen auseinander, die Kritik überwog. Eine Weichzeichnung des Kaiserreiches wurde Richter vorgeworfen. Für einen Historikerstreit hätte die Auseinandersetzung eine grundlegende und offene Fragestellung gebraucht. Die aber fehlte. Vielmehr bildeten sich zwei Fraktionen, die in drastischen Worten über Stil, Forschungsstand und Forschungsbefund in Streit gerieten.
Gelobt wurde Richters Buch in der FAZ. Das könnte daran liegen, dass Autorin, Redaktion und Leserschaft in zwei zentralen Aspekten einer Meinung sind. Erstens besteht Einigkeit darin, dass es Eliten waren, die der Demokratie zum Durchbruch verhalfen. Zweitens sei die demokratische Entwicklung keine Sache von Revolutionen, sondern von Reformen gewesen. Diese Positionen provozierten Einwände, denen sich die Autorin stellte. Schützenhilfe bekam Richter abermals von der FAZ, in der Patrick Bahners hinter der Kritik den Neid und die Freudlosigkeit alter Herren vermutete, denen die spielerische und emotionale Sprache der Kollegin aufstoße, und die schließlich dogmatisch an der These vom deutschen Sonderweg festhielten. Beachtenswert aber ist, dass diese These keinen zentralen Aspekt der Kritik bildete, sondern vorrangig in der Selbstdarstellung der Autorin eine Funktion erfüllte.
Tatsächlich hat die These in der Forschung längst ihre hegemoniale Stellung verloren, was nicht heißt, dass demokratiefeindliche und autoritäre Traditionen als Erklärung für den Nationalsozialismus keine Rolle mehr spielten. Hinter der Überhöhung gegenteiliger Meinungen steckt Kalkül. Umringt von Papiertigern wird jeder zum Dompteur. Wer mächtige Forschungslücken konstruiert, für den eröffnen sich Präsentationsmöglichkeiten für die eigene Forschung. Als der Neoliberalismus in die Wissenschaft einzog und mit der Einführung des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes ein Instrument zum Abbau des akademischen Mittelbaus geschaffen wurde, änderte sich neben der Beschäftigungsstruktur auch die Fächerkultur. Heute sind über 90 Prozent der unter 45-jährigen Forschenden befristet angestellt. Wer erfolgreich sein will, muss sich Strategien der Aufmerksamkeitsökonomie zunutze machen, um das Scheinwerferlicht auf eigene Arbeitsergebnisse zu lenken.
Auch in der Geschichtswissenschaft gehört Klappern zum Handwerk. Und Hedwig Richter klappert gut. Konnten Guido Knopp und Christopher Clark noch als Fernsehhistoriker gelten, gehört Richter zur Generation der Livestream-Historikerinnen, die eine über die Fachgrenzen reichende Öffentlichkeit ansprechen und soziale Medien zur Profilierung nutzen. Die Aufmerksamkeit, die Richters neuester Publikation Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich zuteil wird, ist daher groß.
Der Grundton ihres 140-seitigen Essays ist optimistisch. Der Inhalt lässt sich in vier Worten zusammenfassen: Alles wird immer besser. Ein überraschendes Motiv, wenn man bedenkt, dass das Kaiserreich in einem Weltkrieg unterging. Richter argumentiert im Dreischritt: Wo eben noch düstere Verhältnisse geherrscht haben, erhöhten Krisen und eine aufmerksame Öffentlichkeit den Reformdruck und führten schließlich zum Fortschritt. Der sei kein Produkt gesellschaftlicher Konflikte, sondern resultiere aus dem Einklang der Vielen wie aus dem Engagement der Einzelnen. Das deutsche Kaiserreich sei im öffentlichen Bewusstsein und in Teilen der Forschung »exotisiert«. Richter schreibt dagegen an, protokolliert im Zeichen einer Entexotisierung und Differenzierung. Gemeint ist damit, dass unterm Kaiser nicht alles schlecht war. Jedenfalls nicht schlechter als in den USA, Frankreich oder Großbritannien.
Man kann die These vom deutschen Sonderweg kritisieren, die den Nationalsozialismus mit autoritären Kontinuitäten in der deutschen Geschichte erklärt. Es ließen sich Brüche aufzeigen, Weichenstellungen identifizieren, Grautöne finden. Richter zufolge lief aber alles recht normal ab. Wie überall im nordatlantischen Raum hätte sich um 1900 auch in Deutschland eine »Zivilgesellschaft« entwickelt. Die deutsche Geschichte habe einen gewöhnlichen Verlauf genommen. Dutzende zivilgesellschaftliche Neuanfänge benennt der Text, ebenso viele Gegenbeispiele verschweigt er.
Das liegt wesentlich daran, dass Richter soziale Konflikte ohne besondere Tiefenschärfe darstellt. Zwei Beispiele seien genannt: In einem unscheinbaren Nebensatz wird die effektive Durchsetzung der Schulpflicht als Beispiel eines positiven Effekts der engen staatlichen Kontrolle aufgeführt. Richtig ist: Das Kaiserreich kannte keine Schul-, sondern in weiten Teilen nur eine Unterrichtspflicht. Ob der Unterricht in einer Schule oder in der Familie stattfand, blieb letztlich die Entscheidung des Hausherrn. Wenn Kinder aus proletarischen Haushalten Volksschulen besuchten, dann war mit 14 Jahren Schluss. Unterrichtet wurden Proletarierkinder auch nicht von studierten Pädagogen, sondern von Volksschullehrern, die an konfessionsgebundenen Lehrerseminaren ausgebildet wurden. Eine höhere Bildung, vermittelt durch studiertes Personal, war ein Elitenprivileg.
»Der Text ist an sozialer Ungleichheit so wenig interessiert wie an politischer Praxis oder Herrschaftsmechanismen.«
Darüber schweigt Richter und so erscheint Bildung auch nicht als ein wesentlicher Faktor sozialer Ungleichheit. Stattdessen bricht sich im Text eine geradezu naive Bildungsidee bahn, wonach um 1900 alle klüger wurden. Entspräche Richters Beschreibung der historischen Realität, wären die Kämpfe um die Einheitsschulmodelle in der Weimarer Republik zwischen alten Eliten und progressiven Pädagogen vollkommen unverständlich.
Zweitens zieht die Autorin die Biographien von Frauen heran, um ihre Fortschrittsbeschreibung zu illustrieren. Entgegen ihrer These von der überragenden Bedeutung reformistischer Ansätze, ist das Frauenwahlrecht ein Ergebnis der Novemberrevolution. Überhaupt konnten Frauen erst 1908 Mitglied politischer Parteien werden. Politische Partizipation war ihnen vorher – mit der Ausnahme von Frauen- und Wohlfahrtsvereinen – versagt. Richter zeichnet diese Entwicklung nach, ohne aber einen deutlichen Unterschied zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung zu markieren, was eine Perspektive auf die unterschiedlichen Lebenssituationen ermöglicht hätte.
Beide Beispiele mögen Nebenaspekte sein. Aber sie zeigen, dass der Text an sozialer Ungleichheit so wenig interessiert ist wie an politischer Praxis oder Herrschaftsmechanismen. Der Kaiser ist in Richters Buch entweder abwesend oder ein Nebendarsteller. Bemerkungen wie, eine »starke Staatsmacht bedeutet neben Drangsalierung und Überwachung auch: einen Rechtsstaat, der immer wieder dafür sorgte, dass vor dem Gesetz alle gleich waren« oder »der Kaiser besaß keine direkten Kompetenzen bei der Gesetzgebung«, blenden Klassenjustiz, Polizeistaat und die politische Praxis im Kaiserreich aus. Denn obwohl der Reichstag an Einfluss gewann, blieben Militärfragen, Außenpolitik und Verwaltungshoheit kaiserliche Obliegenheiten. Der Kaiser hatte die Entscheidungskompetenz, den Beamtenapparat nach seinen Interessen einzusetzen und Posten in der Verwaltung nach seinem Ermessen zu besetzen. Verwaltungsfragen waren keine Parlamentsangelegenheiten. Reichskanzler und Regierung wurden nicht vom Parlament gewählt, sondern durch den Kaiser bestimmt. Dies alles bleibt entweder ungesagt oder wird nur gestreift.
Der Effekt ist, dass Richters teleologische Perspektive sich durch nichts irritieren lässt. Die Darstellung entspricht der folgenden Metapher, die politische Geschichte zur Naturgeschichte macht: »Wie die aufgehende Sonne breitete sich im nordatlantischen Raum die Idee der Gleichheit aus – um die alte aufklärerische Metapher zu verwenden, die gerne von Reformerinnen und Reformern aufgegriffen wurde.« Richter schreibt dies direkt nach einem Absatz über die Bedeutung des Kommunistischen Manifests. Das ist nun gerade die Schrift, in der es heißt: »Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philantrophen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art.« Richters Augenmerk liegt auf dieser Gruppe, ihr gilt ihre Sympathie, und als wollte sie Marx und Engels recht geben, plädiert sie in der Einleitung für »bürgerliche und sozialdemokratische Mäßigung«. Dass die politischen Attribute »bürgerlich« und »sozialdemokratisch« widerstandslos nebeneinander stehen, macht abermals deutlich, woran es dem Text fehlt: einem Bewusstsein für Widersprüche.
Dass die Autorin sich für die Reformbestrebungen bürgerlicher Kräfte interessiert, ohne diese durch Aufstiegsstrategien und Machtkonstellationen zu kontextualisieren, ist eine methodische Schwäche ihrer Arbeit; himmelschreiend ist aber, dass jeder Widerspruch in Einklang gebracht wird: »Doch immer mehr Frauen engagierten sich auch in der Sozialdemokratie oder in einem christlichen Verein. An Feiertagen wie dem Sedantag erfüllte viele ein Gefühl des Stolzes, doch ebenso sehr war ihnen wohl auch evangelisch oder hamburgisch zumute. Und wenn sie sich sozialistisch oder christlich missionarisch engagierten, konnten sie zugleich von transnationalen Empfindungen erfüllt sein.« Dies kann nebeneinander stehen, weil der Begriff der Herrschaft nirgendwo auftaucht. Feinde der Frauenbewegung kommen kaum vor. Militarismus nennt Richter eine Massenbewegung. Dass dieser auch ein Herrschaftsinstrument war, erwähnt sie nicht.
Am Ärgerlichsten äußert sich das mangelnde Bewusstsein an Machtkonstellationen in Einwürfen, die die egalisierende Kraft des Krieges loben: »Der Krieg befestigte die Gleichheit, er riss regionale Mauern nieder, relativierte die Klassenschranken und befreite die Einzelnen aus dem Korsett lokaler Kulturen und Ordnungen.« Befestigung von Gleichheit, Niederreißen von Mauern, Befreiung aus dem Korsett – Richter ist keine Bellizistin, aber schönere Bilder vom Krieg finden sich nur bei Ernst Jünger.
»Statt Imperialismus, sozialer Ungleichheit oder Klasse triumphiert im Text die ›Inklusion‹.«
Sie wolle keine Pickelhaubengeschichte schreiben, betonte Richter im SWR2-Gespräch mit Eckart Conze und Michael Epkenhans. Aber wer über deutsche Geschichte sprechen will, der kann unmöglich von Pickelhauben schweigen. Die Gesellschaft des Kaiserreiches ist für Richter ein reiner Pluralismus, »eine hochpolitisierte Zivilgesellschaft«. Dabei rekonstruiert die Autorin in erster Linie Formen bürgerschaftlichen Engagements. Sie bezieht den Standpunkt des illusorischen Gemeinwesens.
Richters Begeisterung für die Knospen der Demokratie verdeckt, dass der Begriff der Zivilgesellschaft auf das Kaiserreich kaum übertragen werden kann, suggeriert er doch – anders als der Begriff der Öffentlichkeit es tut – selbstbestimmtes und freies Handeln. Beides muss man sich leisten können – das galt erst recht um 1900. Klassenkonflikte aber sind mehr als Debatten um Empowerment.
Der Standpunkt des illusorischen Gemeinwesens macht sich auch in den zentralen Begriffen geltend. Statt Imperialismus, sozialer Ungleichheit oder Klasse triumphiert im Text die »Inklusion«. Die Nation diene als gemeinschaftsstiftender Rahmen politischer Partizipation, die Entstehung eines Weltmarkts wirke als Innovativkraft. Alles und alle seien zusammengekommen und hätten sich zu Wort melden können. Die rasante Bevölkerungsentwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ die »Masse« entstehen. Deren Bedürfnisse zu ignorieren, hätte keine Regierung sich erlauben dürfen. Weltmarktkonkurrenz – ein Begriff, der den Weltmarkt mit dem Nationalismus verbindet – sucht man im Text vergeblich. Vielmehr erscheint die Industrieentwicklung – bei Richter im Begriff des Kapitalismus zusammengefasst – als Motor des Wohlstands. So wird die progressive preußische Einkommenssteuerreform von 1891 zum Markstein für die soziale Marktwirtschaft.
Man muss wissen: Um das Jahr 1900 betrug die durchschnittliche Wochenarbeitszeit etwa 60 Stunden. Richter aber konstatiert: »So ergab sich der überwältigende Erfolg des Kapitalismus wesentlich daraus, dass er gezähmt wurde und damit tatsächlich die Massen beglückte.« Das Glück schrumpft beim Blick in die amtliche Statistik, die für 1900 über 130.000 Streikende zählt. Im Jahr 1905 und 1912 gab es etwa eine halbe Million Streikender, 1906, 1910 und 1911 jeweils weit über 300.000.
Bei Richter wird »[d]er unterdrückte Mann, der die Drecksarbeit erledigte, … zum politischen Akteur«. Er organisiert sich und profitiert als Konsument, dem jede Ladentür offenstehe: »Wichtiger als Sonderanfertigungen von Luxusgütern wurde die Massenware: der preiswerte Mantel, die feinen Strümpfe für alle und die guten Unterhosen, immer bessere und günstigere Medikamente, der billige Schmuck, bezahlbare Schuhe. Kosmetik wurde vom Luxus- zum Massenartikel. 1907 entwickelte Henkel das Waschmittel Persil. Das Unternehmerpaar Gertrud und Oscar Troplowitz brachte 1911 Nivea auf den Markt, die Hautcreme für alle.« Das Bild von der Gemeinschaft der Konsumenten lässt außer Acht, dass sich Nominal- und Reallohnniveau infolge rasant steigender Preise ab 1900 immer deutlicher voneinander unterschieden und Arbeiterfamilien trotz kläglicher hygienischer Wohnbedingungen einen wesentlichen Teil ihres Einkommens für Miete und Nebenkosten ausgaben. Richter schildert diese Verhältnisse in den Großstädten – allerdings nicht, um die Alltagsgeschichte und Lebenswirklichkeiten einer Mehrheit der Stadtbevölkerung zu beschreiben, sondern um den Elan philanthropischer Sozialreformerinnen und -reformer zu illustrieren.
Alles, was König Midas berührte, ward zu Gold. Alles, was Hedwig Richter behandelt, wird zu Demokratiegeschichte. In beiden Fällen siegt die Kurzsichtigkeit. Eine optimistische Demokratiegeschichte als emanzipatorisches Projekt ist mehr als wünschenswert – sie ist notwendig. Sie wäre dem Gedanken verpflichtet, dass, wo Schatten ist, auch irgendwo Licht sein müsse. In Richters Essay aber herrscht eitel Sonnenschein, es blendet vor teleologischem Optimismus. Seit 2020 ist Richter Professorin an der Universität der Bundeswehr in München. Sie unterrichtet dort Offiziere in deutscher Geschichte.
Christian Dietrich ist Historiker. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die europäisch-jüdische Geschichte, deutschsprachige Pressegeschichte und Labour History.
Christian Dietrich ist Historiker.