26. Juli 2024
Die einen halten die voraussichtliche Präsidentschaftskandidatin der US-Demokraten für eine Law-and-Order-Politikerin, die anderen für eine progressive Pragmatikerin. Ein Blick auf die Karriere von Kamala Harris zeigt: auf jeden ihrer progressiven Vorstöße folgte eine konservative Gegenoffensive.
Die amtierende Vizepräsidentin Harris könnte sich nach links bewegen, wenn sie politisch unter Druck gesetzt wird.
Da sich US-Präsident Joe Biden nicht mehr zur Präsidentschaftswahl im November stellt, öffnen sich plötzlich die Türen für diverse ambitionierte Politikerinnen und Politiker der Demokratischen Partei, die eigentlich erst in vier Jahren mit ihrer potenziellen Kandidatur gerechnet hätten. Wenig überraschend stellen sich dabei große Teile der Parteispitze, der Medien, der Spender und auch Biden selbst hinter eine Person: Kamala Harris, die amtierende Vizepräsidentin.
Harris wird also die demokratische Präsidentschaftskandidatin (und vielleicht auch nächste Präsidentin). Nun stellen sich viele Menschen die offensichtliche Frage: Wer ist Kamala Harris eigentlich – und wofür steht sie? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Vermutlich hätte Harris selbst ihre Schwierigkeiten damit.
Wie so viele Politikerinnen und Politiker der Demokraten, die den Übergang von den Obama-Jahren über Bernie Sanders’ Aufstieg bis hin zur Biden-Präsidentschaft miterlebt haben, hat Harris eine bisweilen merkwürdige Metamorphose durchlaufen: Aus der knallharten Staatsanwältin wurde eine Art progressive Wortführerin und schließlich die aktuelle Version von Kamala Harris – wie auch immer man diese bezeichnen möchte. Auf ihrem Weg hat sie einige bemerkenswerte progressive Erfolge errungen und etwa erfolgreich große Konzerne verklagt und einige Polizeireformen durchgeführt.
Doch Harris’ Karriere bietet auch einigen Anlass zur Beunruhigung, nicht zuletzt in Hinblick auf ihre Zeit als Staatsanwältin – um gegen Donald Trump zu bestehen, will sie sich nun besonders auf diese Erfahrung stützen. Leider hat die amtierende Vizepräsidentin sich nicht sonderlich oft als mutige Politikerin hervorgetan, die die Strukturen, die die Lebensbedingungen für arbeitende Amerikanerinnen und Amerikaner erschweren, entschlossen verändern will. Die (potenzielle) Wählerschaft der Demokraten muss sich daher fragen: Welche Kamala Harris bekommen wir, wenn sie Präsidentin wird?
Zunächst zum Positiven. Tatsächlich lassen sich viele Erfolge in Harris’ beruflicher Laufbahn finden, die durchaus lobenswert sind. 2004 verteidigte sie erstmals im großen öffentlichen Rahmen ihre Prinzipien. Sie war zur Bezirksstaatsanwältin von San Francisco gewählt worden und hatte versprochen, niemals die Todesstrafe zu verhängen. Weniger als sechs Monate nach ihrem Amtsantritt bekam sie dafür viel Gegenwind – vom Polizeichef der Stadt über die Polizeikräfte selbst bis hin zur demokratischen Senatorin Dianne Feinstein forderten viele die Todesstrafe für einen 21-Jährigen, der einen verdeckten Ermittler getötet hatte.
Harris war bei der Beerdigung des Beamten anwesend. Nach einer Rede, in der Feinstein Harris scharf kritisierte, gaben ihr 2.000 Polizeikräfte stehende Ovationen. Die Generalstaatsanwältin des Bundesstaates und vormalige Senatorin Barbara Boxer (deren Posten Harris später übernahm) suchte ebenfalls nach Möglichkeiten, um Harris’ früheres Versprechen auszuhebeln, scheiterte aber letztendlich. Es ist in Teilen also Harris’ Standhaftigkeit zu verdanken, dass der Mörder der Todesstrafe entging.
Mit anderen Worten: Gleich zu Beginn ihrer Karriere widersetzte sich Harris ihrer eigenen Partei sowie der Polizeibehörde ihrer Stadt und nahm öffentliche Demütigungen in Kauf, um nicht von ihrer Ablehnung der reaktionären Forderung nach der Todesstrafe abzurücken. 2009, versuchte Harris’ republikanischer Konkurrent um das Amt des Generalstaatsanwalts, ihren Widerstand gegen die Todesstrafe erneut gegen sie zu verwenden. Er werde die Wahl, wie er es ausdrückte, zu einem »Referendum über die Todesstrafe« machen. Harris ließ sich erneut nicht beirren und blieb hart.
»Als Generalstaatsanwältin kämpfte sie gegen Konzerne wie BP, Chevron, Comcast, Cosco Busan, ExxonMobil und die South California Gas Company.«
Sie trat außerdem immer wieder als Kritikerin des amerikanischen Strafrechtssystems in Erscheinung. Das ist ein positives Zeichen. Ihre Ansichten fasste sie in ihrem 2009 erschienenen Buch Smart on Crime: A Career Prosecutor’s Plan to Make Us Safe zusammen. Auf diesen Titel bezog sie sich daraufhin immer wieder. Ihr »smarter« Ansatz legt den Fokus darauf, »die kriminellen Karrieren von Straftätern schon viel früher zu beenden«, Täter »dauerhaft aus dem System der Kriminalität herauszuholen«, für »niedrigere Rückfallquoten« zu sorgen und »in umfassende Maßnahmen zu investieren, um die Zahl der jungen Straftäter, die erstmals in das Strafrechtssystem eintreten, zu verringern«. Einer ihrer Vorschläge sah vor, dass man Häftlingen und insbesondere jugendlichen Straffälligen, die keine Gewalttaten begangen haben, berufsrelevante Qualifikationen vermittelt.
So sprach sich Harris für eine Reform des sogenannten Three-Strikes-Gesetzes in Kalifornien aus und verhängte dementsprechend keine lebenslangen Haftstrafen für Personen, die zum dritten Mal straffällig geworden waren. Außerdem führte sie 2004 das Programm »Back on Track« ein. Damit werden Ersttäter zwischen 18 und 24 Jahren in 18-monatige Ausbildungsprogramme der lokalen City Colleges vermittelt. Dies trug dazu bei, dass die Rückfallquote in der Stadt innerhalb von sechs Jahren von 54 Prozent auf 10 Prozent sank. Später forderte Harris, dass Bewährungshelfer keine Wohnsitzbeschränkungen für Sexualstraftäter verhängen können.
Auch während ihrer Zeit als Bezirksstaatsanwältin und später als Generalstaatsanwältin des Bundesstaats Kalifornien vertrat Harris eine Reihe progressiver Positionen. Sie lehnte die homophobe Proposition 8 ab [Anmerkung der Redaktion: Referendum, dass ein Ehe-Verbot für homosexuelle Paare forderte], verteidigte Obamacare vor Gericht, unterstützte die Bewerbung eines Einwanderers ohne Papiere um eine Anwaltslizenz, setzte sich für ein Gesetz ein, das die Transparenz bei der Datenerfassung im Internet erhöht, stellte sich gegen die hetzerische Initiative »Kill the Gays« und reichte beim Obersten Gerichtshof einen Schriftsatz ein, in dem sie forderte, dass öffentliche Universitäten bei der Zulassung der Bewerberinnen und Bewerber berücksichtigen dürfen, ob sie Teil einer diskriminierten Gruppe sind. Unter ihrer Leitung führte das kalifornische Justizministerium Bodycams ein, Polizistinnen und Polizisten mussten eine Schulung zu systemischem und implizitem Rassismus absolvieren und Harris wurde für die beschleunigte Prüfung sogenannter »rape kits« gelobt, mit denen Sexualverbrechen effektiver geahndet werden sollen.
Harris hat auch eine beachtliche Bilanz bei Aktionen gegen Verbrechen von Konzernen vorzuweisen. 2011 reichte sie einen von 31 weiteren Generalstaatsanwälten unterzeichneten Antrag vor dem Obersten Gerichtshof ein. Darin forderte sie, dass es Pharmakonzernen nicht länger erlaubt sein sollte, ihre Konkurrenten dafür zu bezahlen, dass sie Generika ihrer Medikamente vom Markt fernhalten. Im Jahr 2012 richtete sie im Büro der Generalstaatsanwaltschaft eine Abteilung für Privatsphärenschutz ein. Im Zuge dessen wurde ein Unternehmen zu einer hohen Geldstrafe verdonnert, weil es heimlich Spyware auf den Computern seiner Kundinnen und Kunden installiert hatte.
2011 erwirkte Harris den höchsten Vergleich in einem Betrugsfall seit Jahrzehnten: Ein Unternehmen hatte fünfzehn Jahre lang das staatliche Versicherungsprogramm für bedürftige und behinderte Personen unsachgemäß und übermäßig in Anspruch genommen. Sie schloss außerdem mit zwei Ex-Führungskräften des Finanzunternehmens Countrywide einen Vergleich über 6,5 Millionen Dollar wegen derer verbrecherischen Kreditvergabepraxis und forderte eine »Homeowners’ Bill of Rights«. Dies führte dazu, dass die Zahl der Zwangsversteigerungen im Bundesstaat stark zurückging. Die Nachrichtenseite Daily Kos bezeichnete Harris als »den schlimmsten Albtraum der Banking-Gangster«.
Auch im Bereich Umwelt und Klima kann die amtierende Vizepräsidentin einige wichtige Erfolge vorweisen. Als Bezirksstaatsanwältin gründete sie die erste Abteilung für Umweltrecht in San Francisco und ging gegen Straftäter vor, die der illegalen Müllentsorgung und der Luftverschmutzung bezichtigt wurden. Als Generalstaatsanwältin kämpfte sie gegen Konzerne wie BP, Chevron, Comcast, Cosco Busan, ExxonMobil und die South California Gas Company. Cosco Busan musste dem finanziell größten Vergleich seiner Art zustimmen (das Unternehmen war 2007 für auslaufendes Öl in der Bucht von San Francisco verantwortlich gewesen).
»Harris hat die Todesstrafe nie grundsätzlich infrage gestellt. Im Gegenteil: Sie hat sich aktiv dafür eingesetzt, dass sie bestehen bleibt.«
Während der Präsidentschaft von Donald Trump wurde Harris noch deutlicher. Sie sprach sich für ein einheitliches und universelles Gesundheitssystem nach dem sogenannten Single-Payer-Prinzip aus sowie für die Abschaffung der College-Studiengebühren für Familien mit einem Jahreseinkommen von weniger als 140.000 Dollar. Sie übte regelmäßig Kritik an Trumps Politik. In ihrer kurzen Zeit im Senat brachte sie Gesetzentwürfe ein, um den Pay Gap für schwarze Frauen zu beseitigen und die Rechtslage von Migrantinnen und Migranten zu klären, die an US-Einreisestellen festgehalten werden. Sie war mitzuständig für Gesetzesentwürfe zur Erhöhung des Mindestlohns auf Bundesebene, zur Schließung von Steuerschlupflöchern für große Ölkonzerne, zum Verbot des Einsatzes gefährlicher Pestizide in der Landwirtschaft sowie zum Stopp neuer Öl- und Gaspachtverträge im Arktischen Ozean.
Auf den ersten Blick sieht Harris’ Bilanz erst einmal beeindruckend aus. Bei näherer Betrachtung erscheint ihr Einsatz für ihre ethisch-politischen Prinzipien jedoch nicht ganz so makellos.
Denn auf der anderen Seite war und ist Harris’ Arbeit durchzogen von Maßnahmen, die ihre erklärten Visionen untergraben. Die Todesstrafe ist erneut ein gutes Beispiel: Harris verdient hohe Anerkennung dafür, dass sie sich weigerte, einen Mann hinrichten zu lassen, obwohl sie unter enormem Druck stand, genau dies zu tun. Diese Widerstandskraft führt sie auch gerne selbst an, doch in ihrer Zeit als Generalstaatsanwältin hat sie die Todesstrafe nie grundsätzlich infrage gestellt oder versucht, sie abzuschaffen. Im Gegenteil: Sie hat sich aktiv dafür eingesetzt, dass sie bestehen bleibt.
So legte Harris Berufung ein, nachdem ein Bundesrichter die Vollstreckung der Todesstrafe in Kalifornien für verfassungswidrig erklärt hatte. Sie halte die Entscheidung und die entsprechende Begründung für »fehlerhaft«. Als der Fall durch die nächsten Instanzen ging, verteidigte Harris die Todesstrafe weiter.
»In der Praxis hat sich gezeigt, dass sich der ›Smart-on crime‹-Ansatz von Harris kaum von dem ›Tough on crime‹-Ansatz unterscheidet.«
Man könnte nun einwenden, dass es die Aufgabe einer Generalstaatsanwältin ist, die Gesetze des Staates korrekt auszulegen und zu verteidigen – unabhängig von ihren persönlichen Ansichten. In krassem Gegensatz zur Todesstrafenfrage weigerte sich Harris jedoch, die homophobe Proposition 8 in ähnlicher Weise vor Gericht zu verteidigen. Ihre Begründung dabei: Es handele sich um »einen Vorschlag, der richterlich als verfassungswidrig eingestuft wurde«. Doch genau das hatte auch der Bundesrichter im Fall der Todesstrafe getan.
Diese Diskrepanz zwischen Worten und Taten zieht sich durch Harris’ Herangehensweise an das Strafrecht im Allgemeinen. Ihre Statements lesen sich oft wunderbar. So kritisierte sie ihre Konkurrentin auf einen Sitz im Senat, Barbara Boxer. Diese helfe »die Krise der Masseninhaftierungen in den USA anzuheizen, indem sie sich dafür einsetzt, immer mehr Jugendliche ins Gefängnis zu schicken, mehr Gefängnisse zu bauen und die Mindeststrafen für gewaltlose Straftaten zu erhöhen«. Harris verfasste außerdem einen Meinungsartikel über weibliche Gefängnisinsassinnen, in dem sie auf die Misshandlung von Frauen in den Haftanstalten und die wirtschaftlichen Kosten der Haft für ihre Angehörigen hinweist. Sie betonte oft, dass man sich bei der Verbrechensbekämpfung nicht fragen solle, ob man »soft« oder »tough« gegen Kriminalität vorgehe – vielmehr solle man einen »smarten« Ansatz verfolgen.
In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass sich der »Smart on crime«-Ansatz von Harris kaum von dem »Tough on crime«-Ansatz unterscheidet. Unter anderem verteidigte sie das ungewöhnlich strikte Three-Strikes-System in Kalifornien. Es ist das einzige Gesetz seiner Art in den gesamten USA, das selbst dann lebenslange Haftstrafen für einen dritten »Strike« vorsieht, wenn es sich um ein geringfügigeres oder gewaltloses Verbrechen handelt. Harris rief die Wählerinnen und Wähler außerdem dazu auf, Proposition 66 abzulehnen – eine Initiative, die das bestehende Gesetz dahingehend reformiert hätte, dass nur schwere oder Gewalt-Straftaten zu lebenslangen Haftstrafen nach dem Three-Strikes-Prinzip führen würden.
Sie versprach, dass sie im Falle einer Ablehnung der Initiative einen eigenen Reformvorschlag vorlegen würde. Dieser entpuppte sich jedoch als lauwarm: Er sah lediglich die Streichung einiger Third-Strike-Vergehen vor. Später unterstützte Harris dann einen anderen Vorstoß, der mit Proposition 66 identisch war, mit dem aber weiterhin allen, die zuvor wegen Mordes, Vergewaltigung oder Kindesmissbrauchs verurteilt worden waren, eine lebenslange Haftstrafe auch für relativ geringfügige dritte Vergehen drohte. Allerdings konnten Personen mit solchen nicht schwerwiegenden »Third Strikes« nun einen Antrag auf Neuverhandlung stellen.
Harris’ beharrlicher Einsatz für das Three-Strikes-System war überraschend. Als sie für das Amt der Generalstaatsanwältin kandidierte, wurde sie in dieser Frage sogar von ihrem republikanischen Gegenkandidaten links überholt. Tatsächlich hatte dieser vier Jahre zuvor als Bezirksstaatsanwalt von Los Angeles County eine Reform des Three-Strikes-Gesetzes ins Gespräch gebracht. Harris hatte sich dagegen ausgesprochen.
Harris eilt der Ruf voraus, als eine der wenigen Strafverfolgerinnen immer mal wieder lebenslange Haftstrafen für nicht-gewalttätige Third Strikes verhindert zu haben. Das ist aber nicht ausreichend, wenn das zugrundeliegende Gesetz bestehen bleibt, sodass zukünftige, härter agierende Richter weiterhin die Möglichkeit haben, harte und unverhältnismäßige Strafen zu verhängen. Kurz gesagt: Harris ging nie an die Wurzel des Problems.
Glücklicherweise gab es später Reformen zur Three-Strikes-Regelung. Diese gehen aber nicht auf Harris zurück. Stattdessen stimmten die kalifornischen Wählerinnen und Wähler in Volksabstimmungen 2012 und 2014 für zwei Initiativen, die Richterinnen und Richtern mehr Spielraum bei der Strafzumessung einräumten und außerdem rückwirkend das Strafmaß für bestimmte geringfügige Straftaten reduzierten. Harris hat zu beiden Initiativen nicht öffentlich Stellung bezogen. Stattdessen behauptete sie, ihre persönliche Parteinahme stehe im Konflikt mit ihrer Pflicht, den Abstimmungstext für das Referendum zu verfassen. Ein Parteifreund der Demokraten, der ebenfalls als Generalstaatsanwalt tätig war, bezeichnete diese Erklärung für Harris’ Zurückhaltung als »Quatsch«.
Harris’ Kampf für harte Strafmaßnahmen beschränkte sich nicht auf das Three-Strikes-Gesetz. Ein weiteres Beispiel steht im Kontrast zu ihren geäußerten Bedenken beim Thema Inhaftierung von Frauen und deren wirtschaftliche Auswirkungen für Haushalte. So setzte sie sich als Bezirksstaatsanwältin erfolgreich für ein im gesamten Bundesstaat geltendes Gesetz gegen Schulschwänzen ein, das sie bereits in San Francisco durchgesetzt hatte. Mit dem Gesetz drohte den Eltern chronisch schwänzender Kinder eine Geldstrafe von bis zu 2.000 Dollar und ein Jahr Gefängnis. Bis Oktober 2012 wurden bereits zwei Mütter auf Basis dieses Gesetzes inhaftiert. »Wir machen die Eltern auf das Thema aufmerksam«, meinte Harris in ihrer Antrittsrede als Generalstaatsanwältin. »Wenn ihr eurer Verantwortung gegenüber euren Kindern nicht nachkommt, werden wir dafür sorgen, dass ihr die volle Härte und die Konsequenzen des Gesetzes zu spüren bekommt.«
Harris scheint eine besondere Leidenschaft für das Thema Schulschwänzen zu haben, die sie seit ihrer Zeit als Bezirksstaatsanwältin in San Francisco hegt. Ihr Engagement in diesem Bereich scheint aber auch das Ergebnis politischer Taktik zu sein. So schrieb die Los Angeles Daily News (in einem Leitartikel, der Harris ansonsten sehr wohlgesonnen war), es sei »schwer, nicht zu dem Schluss zu kommen, dass Harris das Schwänzen als Wahlkampfthema gewählt hat, weil es ein Thema ohne großes politisches Risiko ist«.
»Mit dem Gesetz drohte den Eltern chronisch schwänzender Kinder eine Geldstrafe von bis zu 2.000 Dollar und ein Jahr Gefängnis.«
Harris setzte sich in der Folge für eine Kalifornien-weite Datenerhebung über Schulschwänzer ein. Diese Daten sollten als Grundlage für künftige Maßnahmen gegen das Schwänzen dienen, ähnlich wie es in San Francisco bereits erprobt worden war. Als die Daily News allerdings bei Harris nachfragte, was dieses Datensammeln in der Stadt eigentlich gebracht habe, »schien sie dies nicht zu wissen oder auch nur darüber nachgedacht zu haben«, so die Zeitung.
Besonders verstörend war Harris’ Vorgehen im Fall Daniel Larsen, der von Anfang bis Ende eine rechtliche Farce war. Zwei Polizeibeamte hatten im Jahr 1999 behauptet, sie hätten gesehen, wie der wegen Einbruchs vorbestrafte Larsen ein langes Messer aus seinem Hosenbund zog und es unter ein Auto warf. Für illegalen Waffenbesitz wurde er – entsprechend dem von Harris unterstützten Three-Strikes-Gesetz – zu 27 Jahren Haft mit anschließender lebenslanger Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Lassen wir einmal außen vor, dass die Strafe für das vermeintliche Delikt unverhältnismäßig hart war: Schon die Entscheidung der Polizisten, Larsen anzuhalten und zu durchsuchen, war fadenscheinig. Darüber hinaus berichteten Zeugen, dass nicht Larsen, sondern ein ihn begleitender Mann das Messer weggeworfen habe. Bei der Verhandlung befragte Larsens inkompetenter Verteidiger (dem später die Anwaltslizenz entzogen wurde) nicht einen einzigen Zeugen.
Elf Jahre später hob ein Richter die Verurteilung aufgrund der offensichtlich mangelhaften Beweislage und der Inkompetenz von Larsens Pflichtverteidigung auf. Doch der Mann saß noch mehr als zwei weitere Jahre ein. Warum? Weil die selbsterklärte Gegnerin der »Masseninhaftierung« Kamala Harris gegen die Entscheidung des Richters Berufung einlegte – mit der Begründung, Larsen habe seine Unterlagen zu spät eingereicht. Ein reiner Formfehler brachte ihm somit mehr als zwei zusätzliche Jahre in Haft ein.
Zehntausende Menschen forderten Harris mit einer Petition auf, Larsen endlich freizulassen. Zahlreiche Bürgerrechtsgruppen appellierten ebenfalls an sie. Doch selbst als Larsen schließlich nach vierzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war, focht Harris die Freilassung nochmals an. Fünf Monate später stand Larsen daher erneut vor Gericht und musste dagegen ankämpfen, für ein von ihm nicht begangenes Verbrechen erneut im Knast zu landen.
Harris’ oftmals vorgetragene Sorgen über die hohen Inhaftiertenzahlen im Land waren erneut nicht zu vernehmen, als der kalifornische Gouverneur Jerry Brown in Reaktion auf die Anordnung des US Supreme Court, die Überbelegung der Gefängnisse zu reduzieren, ankündigte, er werde 730 Millionen Dollar einsetzen, um Insassen in privatwirtschaftlich geführte Gefängnisse und leerstehende Untersuchungshaftzellen zu verlegen. Nun hätte man erwarten können, dass sich Harris kritisch über derartige Pläne äußern würde – zumal es im kalifornischen Senat einen alternativen Plan gab, der vorsah verstärkt auf psychologische Betreuung und Drogentherapie für die Inhaftierten zu setzen. Doch Harris schwieg. Die Mercury News aus San Jose kritisierte diese Untätigkeit und erinnerte ihre Leserschaft daran, dass Harris sogar »ein Buch über das Thema« geschrieben hatte.
Des Weiteren weist Harris immer wieder darauf hin, dass »der War on Drugs gescheitert« ist. Ihre eigene Bilanz bei Gesetzesreformen im Bereich Drogen während ihrer Zeit als Generalstaatsanwältin ist jedoch niederschmetternd. Sie schloss sich beispielsweise nicht den Versuchen anderer Staaten an, Marihuana von der Liste der gefährlichsten Substanzen der Drug Enforcement Agency zu streichen. Als der damalige Präsident Barack Obama Razzien in den kalifornischen Marihuana-Ausgabestellen durchführen ließ, gab Harris nicht mehr als eine lasche, inhaltsleere Erklärung ab. Als sie 2012 nach der Legalisierung von Marihuana gefragt wurde – also weniger als ein Jahr bevor sie vor dem Versagen im War on Drugs warnte – lachte Harris nur und winkte ab. Wie schon beim Three-Strikes-Gesetz wurde sie auch in dieser Frage von ihrem republikanischen Gegner 2014 links überholt.
Die Divergenz zwischen Harris’ Worten und Taten zeigt sich auch in ihrem Ansatz bezüglich tödlicher Polizeieinsätze. So unterstützte sie zwar einen Gesetzesentwurf, nach dem Berichte über Schusswechsel mit Polizeibeteiligung immer online veröffentlicht werden müssen, Anti-Bias-Trainings für die Beamten vorgeschrieben sind und diese bei Einsätzen Bodycams tragen müssen. Als Bezirksstaatsanwältin weigerte sie sich hingegen, die Namen von Polizeibeamten herauszugeben, deren Aussagen zu Verurteilungen geführt hatten – obwohl den Beamten in der Vergangenheit selbst unzulässige Verhaftungen und anderes Fehlverhalten nachgewiesen werden konnten. Als Generalstaatsanwältin lehnte sie später die landesweite Einführung von Bodycams für Polizisten ab und stellte sich gegen einen Gesetzesentwurf, mit dem ihre Behörde verpflichtet werden sollte, alle tödlichen Schusswechsel mit Polizeibeteiligung umgehend zu untersuchen.
»Harris-Fans picken gerne einige weiße Kritiker heraus und beschweren sich, es seien stets dieselben Leute, die Harris angreifen. Dabei ist es nicht sonderlich schwer, Menschen zu finden, die Harris’ Leistungen nicht hochschätzen, darunter auch viele People of Color.«
Mitglieder des Legislative Black Caucus (die ebenfalls der Demokratischen Partei angehören) kritisierten sie deswegen. Melina Abdullah, eine Black-Lives-Matter-Aktivistin und Professorin für panafrikanische Studien, kommentierte: »Jetzt ist nicht die Zeit für Zaudern [...] Wie Martin Luther King schon wusste: Wenn man den Schwarzen sagt, sie sollen warten, heißt das: Das wird niemals passieren.«
Es gab viele weitere Bürgerrechtler und Aktivistinnen, die Harris kritisierten, darunter Jeff Adachi, Pflichtverteidiger in San Francisco, und Phelicia Jones von der Justice for Mario Woods Coalition, die ehemals eine Unterstützerin von Harris war. Jones fragte sich, »wie viele Menschen noch sterben müssen«, bevor Harris endlich eingreife, und warf ihr vor, »denjenigen Leuten den Rücken zu kehren, die sie dahin gebracht haben, wo sie heute ist«. Harris-Fans picken gerne einige (weiße) Kritiker heraus und beschweren sich dann, es seien »stets dieselben drei Leute«, die Harris angreifen. Dabei ist es nicht sonderlich schwer, zahlreiche unterschiedliche Menschen zu finden, die Harris’ Leistungen nicht sonderlich hochschätzen, darunter auch viele People of Color.
Obwohl sie in einer sehr guten Position war, um das kalifornische Strafrechtssystem umzugestalten, gilt Harris in dieser Thematik eher als Randfigur. Der Orange County Register bezeichnete sie als eine »zu vorsichtige und oft zu berechnende Politikerin«, die brisanten Themen lieber ausweiche.
Earl Ofari Hutchinson, Vorsitzender des Los Angeles Urban Policy Roundtable, monierte gegenüber der Sacramento Bee, Harris hätte »eine energischere Verfechterin einer umfassenden Reform der Strafjustiz« sein können. Sie sei aber offenbar »nicht gewillt gewesen, wirklich stark und mutig zu sein«. Harris’ Stimme sei letztlich fast unbedeutend und nicht entscheidend für die spätere Neugestaltung des Strafrechtssystems gewesen, fügt die Zeitung hinzu. Hier und da habe es große Veränderungen gegeben und es seien »einige Grundfeste erschüttert worden; aber es war nicht [Harris], die für diese Erschütterungen sorgte«.
Harris versuchte außerdem, eine Klage von Häftlingen gegen die Praxis der Isolationshaft in Kalifornien abzuweisen. Aus ihrer Behörde hieß es dazu lapidar, in kalifornischen Gefängnissen gebe es »keine Isolations- oder Einzelhaft« (trotzdem wurde der Fall schließlich in einem historischen Vergleich beigelegt, der ein schwerer Schlag gegen diese Praxis war). Harris versuchte ebenso, den Antrag eines transsexuellen Häftlings auf eine geschlechtsangleichende Operation zu blockieren. Als ein Staatsanwalt ein gefälschtes Dokument in die Niederschrift des Geständnisses eines Angeklagten einfügte, bezeichnete ein Berufungsgericht dies als »empörendes Fehlverhalten seitens der Behörden«. Harris stellte sich erneut dagegen. Ihrer Ansicht nach gehe die Wortwahl zu weit. Man könne nicht von »empörendem« Verhalten sprechen; schließlich handele es sich bei dem Fall nicht um körperliche Gewalt.
Einer der gravierendsten Kritikpunkte an Harris’ juristisch-politischer Laufbahn ist ihre Haltung gegenüber den Rechten von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern. So bekämpfte sie beispielsweise eine Klage einer Organisation zur Legalisierung der Prostitution in Kalifornien. Noch gravierender war vermutlich ihre Kampagne gegen Backpage, eine häufig von Sexarbeiterinnen genutzte Anzeigen-Website. Auffällig kurz vor der Senatswahl stellte Harris Strafanzeige gegen Backpage. Sie beschuldigte die Seite, »das größte Online-Bordell der Welt« zu sein. Unter dem harten öffentlichen Druck sah sich die Website schließlich dazu gezwungen, ihren Anzeigenbereich zu schließen.
Backpage war keineswegs eine ehrenwerte Organisation. Tatsächlich wurde sie neben der Vermittlung von Sexarbeit nicht selten für Kinderhandel missbraucht. Für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter war die Seite aber eine kostengünstige, einfache und sichere Möglichkeit, Kundschaft zu finden, ohne auf den Straßenstrich gehen oder mit Zuhältern arbeiten zu müssen. Die Schließung der Anzeigenseite von Backpage bedeutete für viele Personen in der Branche vor allem mehr Unsicherheit und Gefahr. »Kamala Harris hat Druck gemacht, den Laden zu schließen. Aber sie hat keine Programme ins Leben gerufen, die kalifornischen Müttern helfen, sich besser um ihre Familien zu kümmern, indem sie ihnen besseren Zugang zu sicheren Wohnungen, Bildung und Gesundheitsfürsorge ermöglichen«, beschwerte sich eine Sexarbeiterin. Sie fährt fort: »Wir Sexarbeiterinnen haben uns für diese Arbeit entschieden, damit wir solche Dinge bezahlen können.«
Nochmals: Harris hat gezeigt, dass sie sich bei gewissen Themen in eine gute Richtung bewegen kann und will. 2017 verfasste sie zusammen mit Rand Paul einen Kommentar in der New York Times, in dem die beiden erklären, dass Kautionszahlungen »unverhältnismäßig vielen Menschen aus einkommensschwachen Gruppen und Communities of Color schaden«. Sie forderten eine Reform oder einen Ersatz für die bisherige Praxis und legten tatsächlich einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Doch noch kurz davor, nämlich im Juni 2016, hatte Harris die Verfassungsmäßigkeit von Kautionszahlungen betont. Im Dezember sprach sie sich dann für das genaue Gegenteil aus.
Angesichts von Harris’ Standpunkten beim Thema Kriminalität ist es vielleicht nicht überraschend, dass sie auch nicht immer die eifrigste Verfechterin von bürgerlichen Freiheiten war.
Es stimmt einerseits, dass Harris die kalifornischen Bewährungshelfer angewiesen hat, keine pauschalen Wohnsitzbeschränkungen für Sexualstraftäter mehr zu verhängen. Damit unterband sie die unfaire Anwendung eines Gesetzes, wonach Sexualstraftätern untersagt werden kann, an bestimmten Orten zu wohnen beziehungsweise umzuziehen. Zuvor war die Zahl der obdachlosen Sexualstraftäter innerhalb von drei Jahren um das Vierundzwanzigfache gestiegen. (Abgesehen davon, dass es barbarisch ist, jemanden bewusst obdachlos zu machen: Das Risiko von Sexualstraftätern, erneut straffällig zu werden, steigt mit der eigenen Obdachlosigkeit dramatisch an. Das Gesetz führte letztlich dazu, dass die Sicherheit für die Allgemeinheit abnahm.)
Harris setzte das Ende der Wohnsitzbeschränkung jedoch erst durch, nachdem der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates diese Regelung für verfassungswidrig erklärt hatte. Zuvor hatte sie sogar gegen die gleichlautende Entscheidung einer niedrigeren Instanz Berufung eingelegt. Harris hatte seit 2006 das sogenannte Jessica’s Law unterstützt, mit dem die Regelung eingeführt worden war. 2010 wurde sie bei diesem Thema daher schon wieder von der republikanischen Konkurrenz links überholt.
»Harris befürwortete die sogenannte familiäre DNA-Abfrage. Aufgrund von Datenschutzbedenken wurde die Technik in Kanada nicht eingeführt und in Maryland sowie in Washington explizit verboten.«
Etwa zur gleichen Zeit unterstützte Harris ein Gesetz, mit dem Sexualstraftätern die Nutzung von Social-Media-Seiten wie Facebook verboten worden wäre. Der Gesetzentwurf stieß auf viel Kritik. Das lag nicht nur an Bedenken hinsichtlich Datenschutz, Privatsphäre und bürgerlichen Grundfreiheiten, sondern auch daran, dass das Gesetz unwirksam gewesen wäre: Die meisten Sexualverbrechen an Kindern werden von Personen begangen, die die Kinder kennen; und die meisten Erwachsenen, die online auf der Suche nach Sex mit Kindern sind, sind keine zuvor registrierten Sexualstraftäter. Viele wiesen auch darauf hin, dass Harris erneut einen reißerischen Gesetzesentwurf just in jenem Jahr einbrachte, in dem sie für das Amt der Generalstaatsanwältin kandidierte.
Harris befürwortete des Weiteren die sogenannte familiäre DNA-Abfrage. Dabei handelt es sich um eine umstrittene Technik, bei der Ermittler eine DNA-Probe mit anderen Proben in einer DNA-Datenbank vergleichen, um mögliche Verwandte zu finden. Anschließend werden dann zusätzliche Gentests und Analysen durchgeführt, um so Verbrechen aufzuklären. Aufgrund von Datenschutzbedenken wurde die Technik in Kanada nicht eingeführt und im US-Bundesstaat Maryland sowie in Washington, DC, explizit verboten. Zu den größten Bedenken zählen die (nicht seltenen) Fälle menschlichen Versagens bei DNA-Beweisen, die Tatsache, dass die Tests unverhältnismäßig größere Auswirkungen auf Communities of Color haben würden, die mögliche Enthüllung von fallunabhängigen Familiengeheimnissen und die (ebenfalls bereits beobachteten) Fehlerpotenziale bei der Anwendung der Technik.
Kalifornien war der erste US-Bundesstaat, der die Tests im Jahr 2009 trotzdem einführte. Dies geschah zwar noch unter ihrem Vorgänger Jerry Brown, aber Harris setzte die Anwendung eifrig fort. Im Jahr 2011 kündigte sie neue Finanzmittel an, um die Zahl der DNA-Untersuchungen zu verdoppeln. In der LA Times erklärte sie: »Kalifornien ist in vielerlei Hinsicht führend in diesem Bereich [...] Ich glaube, wir werden ein Musterbeispiel für das ganze Land sein.«
Tatsächlich sind die DNA-Tests in Kalifornien besonders übergriffig. Der Staat erlaubt die Sammlung und Aufbewahrung von DNA-Proben von jeder Person, die festgenommen wird, auch wenn keine Anklage erhoben wird. Die American Civil Liberties Union (ACLU) reichte eine Klage ein, um das Sammeln von DNA-Daten zu stoppen, nachdem eine Frau aus Oakland während eines Protests gegen den Irakkrieg verhaftet und zur Abgabe einer DNA-Probe gezwungen worden war, obwohl sie keine Straftat begangen hatte und gegen sie keine Anklage erhoben wurde.
Und dann war da noch der Fall eines Sikh, der nicht als Gefängniswärter arbeiten durfte, weil er einen Bart trug, wie es seine Religion vorschreibt. Harris argumentierte, der Bart des Mannes verhindere, dass dieser ordnungsgemäß eine Gasmaske tragen könne. Daher sei er für den Job nicht geeignet. Dabei erlaubt die kalifornische Strafvollzugsbehörde ausdrücklich das Tragen eines Bartes unter bestimmten Umständen.
Diverse zivilgesellschaftliche Rechtsorganisationen – darunter die ACLU of Northern California, die Asian American Bar Association und das Council on American Islamic Relations – wiesen Harris in einem Brief auf diese Unstimmigkeit hin. Sie konterte, die besagte Bart-Ausnahmeregelung gelte nur für Wachleute, die bereits die »Maskenprobe« bestanden hatten, bevor die Ausnahme in Kraft trat. Der Anwalt des Mannes kommentierte, dies sei schlicht unwahr.
Der wohl bedeutendste Erfolg in Harris’ Karriere ist ihr Vorgehen gegen Banken, die in Betrugsfälle bei Zwangsversteigerungen verwickelt waren. Dies war stets ein zentraler Bestandteil ihrer politischen Arbeit. In einer Rede im Jahr 2012 erinnerte sie an den erfolgreichen Vergleich mit den Hypothekenbanken aus dem Jahr 2011. Auf dem Parteitag der kalifornischen Demokraten 2016 wurde sie als Person vorgestellt, die »sehr hart gegen die Banken vorgeht, wenn diese versuchen, die Häuser von Arbeiterfamilien zwangszuversteigern«.
In vielerlei Hinsicht steht dieses Thema exemplarisch für viele politische Aktionen von Harris. Der Zwangsvollstreckungsfall war eine beeindruckende und wegweisende Einigung. Auf längere Sicht blieb es aber bei einer lauwarmen Maßnahme, die der Allgemeinheit weit weniger gebracht hat, als es auf den ersten Blick erschien. Letztlich wurde es versäumt, die Banken zur vollen Rechenschaft für ihre kriminellen Machenschaften zu ziehen.
»Es war nicht so, dass sie eine knallharte Generalstaatsanwältin war, die es unbedingt mit den Banken aufnehmen wollte.«
Große Leistungen müssen natürlich gewürdigt werden: Im September 2011 zog Harris Kalifornien aus den landesweiten Gesprächen zur Beilegung von Schuldnerproblemen mit den fünf größten Hypothekenanbietern heraus. Es war ein mutiger Schritt, für den sie von Hausbesitzerverbänden gelobt wurde und mit dem sie sich gegen ihren engen Verbündeten Obama stellte. Harris wählte den Alleingang, nachdem sie sich persönlich mit den Vertretern der Banken getroffen hatte. Letztere legten Kalifornien, wie Harris sagte, »nur Krümel auf den Tisch« und forderten Berichten zufolge, der Bundesstaat solle das vorherige Fehlverhalten der Banken nicht ahnden. Harris war der Meinung, sie könne für die Menschen in Kalifornien einen besseren Deal aushandeln. Den Bankern drohte sie: »Ich werde in alle Richtungen ermitteln lassen.«
Allerdings muss Harris’ Entscheidung zum Alleingang im damaligen Kontext verstanden werden: Viele Aktivisten hatten sie dazu gedrängt. Es gab Druck von Gewerkschaftsführern, anderen Politikerinnen sowie Wohnrechtsaktivisten. Wie eine Kritikerin es ausdrückte: »Es war nicht so, dass sie eine knallharte Generalstaatsanwältin war, die es unbedingt mit den Banken aufnehmen wollte.« Vielmehr habe es »eine Menge Arbeit gekostet, [Harris] zu der Haltung zu bewegen, die wir von ihr erwarteten.«
Einen Tag, nachdem die unterschiedlichen aktivistischen Gruppen ihr einen Brief geschickt hatten, vollzog Harris tatsächlich den Ausstieg aus den landesweiten Verhandlungen und sprang für ihren Bundesstaat in die Bresche. Als sie erkannt hatte, woher der Wind blies, bezeichnete sie die früheren Ansätze der Hypothekenbanker nun als »vollkommen falsch« und »ungeheuerlich«.
Der Deal, den Harris für Kalifornien aushandelte, war am Ende tatsächlich sehr viel besser für den Staat: 18,4 Milliarden Dollar Schuldenerlass für die Hausbesitzer und weitere 2 Milliarden Dollar an zusätzlicher finanzieller Unterstützung sowie ein Plan, der sich auf die am stärksten von der Krise betroffenen Kommunen fokussierte. Die Zahlen erscheinen besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, dass die Banken ursprünglich nur eine Gesamtsumme von 2 bis 4 Milliarden Dollar für Kalifornien angeboten hatten.
Die Einigung war dennoch unzureichend. Die Gesamtsumme von 20 Milliarden Dollar mag zwar beachtlich klingen, war aber nur ein Bruchteil dessen, was die Banken hätten zahlen müssen, wenn sie für alle ihre Verfehlungen finanziell belangt worden wären. Anleger hatten in einem Vergleich mit der Bank of America satte 8,5 Milliarden Dollar für Hypothekenpapiere erhalten, die mit faulen Krediten besichert waren. Zweitens zahlten die Banken an sich sehr wenig – nur etwa 5 Milliarden Dollar. Der größere Teil der Summe wurde indirekt von anderen, beispielsweise von Rentenfonds, geschultert, die nichts mit dem eigentlichen Fehlverhalten zu tun hatten.
Und auch was die direkte finanzielle Entlastung für einzelne Schuldner anbelangt, ist das Endergebnis kaum überzeugend. So erhielten die in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Hausbesitzer (mit einer durchschnittlichen Verschuldung von fast 65.000 Dollar pro Kopf) etwa 1.500 bis 2.000 Dollar an Unterstützung. Eine enttäuschte Betroffene bezeichnete das als »Schlag ins Gesicht für viele von uns«.
»Letztendlich wurden nur 84.102 kalifornischen Familien ihre Hypothekenschulden erlassen – weit weniger als die ursprünglich prognostizierten 250.000.«
Darüber hinaus entfiel mehr als die Hälfte der 9,2 Milliarden Dollar, die im Bundesstaat für den Erlass von Tilgungsraten ausgegeben wurden, auf Zweithypotheken. Das kam zwar den verschuldeten Hausbesitzern zugute, bedeutete aber auch, wie es ein Wirtschaftswissenschaftler in der LA Times formulierte, dass die Banken in der Praxis »Kredite abschreiben, die im Grunde schon tot sind«. Ein Jahr später entfiel nur noch ein Fünftel der Hilfen auf den Erlass von Ersthypotheken. Letztendlich wurden somit nur 84.102 kalifornischen Familien ihre Hypothekenschulden (teilweise) erlassen – weit weniger als die ursprünglich prognostizierten 250.000.
Hinzu kommt, dass die Kredite der Banken Fannie Mae und Freddie Mac nicht Teil des Schuldenerlassprogramms waren. Da die beiden die größten Hypothekenbesitzer des Landes sind, konnten von vornherein weniger Hausbesitzer von dem Deal profitieren als theoretisch möglich gewesen wäre.
Harris räumte ein, die Einigung sei nicht perfekt, aber sie habe schnell handeln müssen: »Jeden Tag gibt es Hausbesitzer in Kalifornien, die entweder eine Entlastung erhalten, so dass sie in ihrem Haus bleiben können – oder es startet ein Zwangsvollstreckungsverfahren und sie verlieren möglicherweise ihr Zuhause.« Dies habe sie bei den Verhandlungen »immer im Hinterkopf« haben müssen. Rob McKenna, einer der wichtigsten Verhandlungsführer bei der Einigung, fügte ähnlich hinzu: »Irgendwann muss man eben entscheiden, dass es wichtiger ist, den Verbrauchern schneller zu helfen, als noch mehr durchzubekommen.« Auch der Journalist David Dayen war der Meinung, Harris habe »ein schlechtes Blatt relativ gut gespielt«. Eine konsequente Strafverfolgung hätte demnach deutlich mehr Zeit und eine größere Truppe von Staatsanwälten erfordert, als sie zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung hatte.
Dennoch gab es Kritik. Michael Hiltzik schrieb in der LA Times über den Deal und die, wie er es nannte, »rosige Selbstbeweihräucherung«, die ihm folgte. »Diese Bestimmungen verlangen von den Hypothekengebern und -verwaltern vor allem, dass sie sich an das halten, was meines Erachtens bereits Gesetz ist – nämlich das Verbot von, nunja, Betrug«, so Hiltzik.
Susan Webber kritisierte ihrerseits: »Diese Einigung ist ein weiterer Beweis dafür, wer in Amerika die Macht hat [...] Es ist eine noch größere Beleidigung, wenn einige versuchen, dies als einen Sieg für die seit langem leidenden und nach wie vor geschädigten Hauseigentümer darzustellen.« Auch Bruce Marks, Gründer der Wohnberatungsgruppe Neighborhood Assistance Corp. of America, beschwerte sich: »Es gibt praktisch keinen Mehrwert, nichts Positives für die Kreditnehmer. Stattdessen werden die Banken für Leerverkäufe und die Löschung von zweitrangigen Hypotheken belohnt – also für etwas, das sie ohnehin hätten tun müssen.«
Noch schlimmer für Harris war freilich, dass die normalen Hausbesitzer, die von den Banken über den Tisch gezogen worden waren, nach wie vor wütend waren. Während Harris’ Wahlkampf für den Senatsposten wurde ihre direkte Kontrahentin von Mitgliedern der linken Gruppe Occupy Fights Foreclosures, einem Ableger von Occupy LA, unterstützt. Sie kritisierte Harris (wenn auch selbst überaus unaufrichtig) dafür, dass diese nicht einen einzigen Top-Banker strafrechtlich verfolgt hatte. Die Occupy-Gruppe hatte Harris zuvor einen Brief geschrieben, in dem ein absolutes Moratorium für Zwangsvollstreckungen gefordert wurde, zumindest bis die Ermittlungen gegen die Betrüger abgeschlossen seien. Frustrierte Hausbesitzer beschwerten sich, ihnen sei es jahrelang nicht möglich gewesen, direkt an Harris heranzutreten und mit ihr zu reden. Deshalb taten sie ihren Unmut auf dem Parteitag der kalifornischen Demokraten 2015 kund.
Es gibt kaum ein besseres Sinnbild für die Unfähigkeit von Harris, die Hintermänner in den Betrugsfällen zur Rechenschaft zu ziehen, als ihre sogenannte Mortgage Fraud Strike Force. Diese wurde 2011 öffentlichkeitswirksam ins Leben gerufen, beschäftigte 25 Anwältinnen und Ermittler des Justizministeriums und verfügte über ein Budget von mehr als 2 Millionen Dollar, um die Fälle aufzuklären. Die Strike Force schaffte es in drei Jahren aber nur, zehn Fälle anzugehen, wie eine Recherche des East Bay Express im Jahr 2014 zeigte.
Die Zeitung fand außerdem heraus, dass die Strike Force nicht nur weniger Betrugsfälle verfolgt hatte als ihre Äquivalente in vielen anderen Staaten, sondern auch weniger Klagen erhoben hatte als Generalstaatsanwälte in deutlich kleineren Staaten mit weniger Opfern – und sogar weniger als einige einzelne Bezirksstaatsanwälte. Dabei war Kalifornien mit mehreren tausend Beschwerden seit 2010 USA-weit führend, was derartige Betrugsfälle angeht. Ein Wohnungsrechtsaktivist, der sein Haus verloren hatte, nannte die Strike Force »nichts weiter als eine PR-Maßnahme«.
Harris hat immer wieder betont, ihre Handlungsspielräume seien begrenzt. Als ein Mann auf dem Parteitag der kalifornischen Demokraten sie 2016 direkt ansprach und fragte, wie viele Banker ins Gefängnis gekommen seien, antwortete sie, sie habe das Beste aus den vorliegenden Beweismitteln gemacht. »Wie die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner bin auch ich frustriert. Es sind ganz klar Verbrechen begangen worden und gewisse Leute sollten dafür ins Gefängnis«, sagte sie der LA Times im vergangenen Jahr. »Aber wir mussten mit den vorhandenen Beweisen arbeiten.«
»Jeder einzelne Politiker hat neben guten auch immer einige schlechte Leistungen in seiner Bilanz. In Harris’ Fall hat das Schlechte das Gute leider oft direkt untergraben.«
Leider war genau das aber nicht immer der Fall: 2017 erreichte The Intercept ein Memo aus dem Jahr 2013, das aus dem Büro der Generalstaatsanwaltschaft an Harris gesendet worden war. Darin hieß es, die Staatsanwaltschaft habe »Beweise gefunden, die auf umfassendes Fehlverhalten« bei OneWest Best hindeuten. Man rufe Harris daher auf, »eine umfassende Ermittlung zu diesem Fehlverhalten bei der Bank durchzuführen und der Öffentlichkeit darzulegen, was passiert ist«. Doch Harris tat das nie. (Zufälligerweise war Harris die einzige demokratische Senatskandidatin im Jahr 2016, die eine Spende von Steven Mnuchin, dem Ex-CEO von OneWest, erhielt). Man muss sich schon fragen, ob es noch weitere derartige Memos gibt – und wie viele.
Es ist unbestreitbar, dass Harris viele positive Errungenschaften vorzuweisen hat. Das reicht von ihrem Kampf gegen umweltverschmutzende Unternehmen und ihren Maßnahmen zur Reduzierung der Rückfallquote bei Kriminellen bis hin zu ihrer standhaften Opposition gegen die Trump-Regierung und ihrer Unterstützung für progressive Gesetze im Senat.
Jeder einzelne Politiker hat neben guten auch immer einige schlechte Leistungen in seiner Bilanz. In Harris’ Fall hat das Schlechte das Gute leider oft direkt untergraben.
Es ist nicht unbedeutend, dass Harris – die sich als glühende Verfechterin von Reformen im Strafrecht geriert – während ihrer Jahre als Staatsanwältin nicht nur wenig für solche Reformen getan hat, sondern vielmehr eine harte, strafende Politik fortführte. So stehen ihre konservativen Taten ihren progressiven Worten entgegen. Es ist auch nicht unbedeutend, dass Harris dies manchmal unnötigerweise tat und dabei eine härtere Haltung als ihre rechte Konkurrenz einnahm. Und es ist ebenfalls nicht unbedeutend, dass sie mehrfach versucht hat, einen unschuldigen Mann im Gefängnis festzuhalten, und dass sie sich bemühte, ein gefälschtes Geständnis zu rechtfertigen.
Sie hat sich der Öffentlichkeit als eine Staatsanwältin verkauft, die keine Gefangenen macht, Finanzverbrecher hart verfolgt und sich so konsequent für den einfachen Hausbesitzer einsetzt. Doch ihre Bilanz in diesen Auseinandersetzungen fiel schlechter aus als die mancher Bezirksbeamter.
Harris hat gezeigt, dass sie in der Lage ist, sich nach links zu bewegen – wenn sie entsprechend unter Druck gesetzt wird. Um solchen Druck aufbauen zu können, müssen progressive Wählerinnen und Wähler wissen, wer Kamala Harris als Politikerin eigentlich ist und für was sie steht.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.