08. August 2024
Tim Walz wird der Vize von Kamala Harris. Das Besondere an seiner Nominierung ist nicht, dass er ein Progressiver ist, sondern dass man mit progressiver Politik inzwischen sogar bei der Parteiführung der Demokraten punkten kann.
Tim Walz, Gouverneur von Minnesota, bei seiner Nominierung, am Tag der Nominierung in Philadelphia, 06. August 2024.
Die Stimmung bei den US-Linken war lange nicht mehr so gut: Nur zwei Wochen nach Joe Bidens Entscheidung, im November nicht mehr zu kandidieren, hat die amtierende Vizepräsidentin Kamala Harris Tim Walz zu ihrem Ko-Kandidaten ernannt, und damit das politische Establishment in Schock versetzt. Der Gouverneur von Minnesota galt als der Progressivste unter den potenziellen Vizepräsidentschaftskandidaten.
Walz hat als Gouverneur eine Bilanz vorzuweisen, mit der Linke durchaus zufrieden sein dürften. Das reicht von der Einführung kostenloser, flächendeckender Schulmahlzeiten über bezahlten Urlaub aus familiären und medizinischen Gründen bis hin zur Einführung einer Art gebührenfreier öffentlicher Hochschule sowie einer Stärkung des Arbeitnehmerschutzes.
Doch dieser progressive Hintergrund ist nicht der bedeutsamste Aspekt bei Walz’ Nominierung. Vielmehr ist die Entscheidung von Harris, Walz dem Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, vorzuziehen, ein weiteres Zeichen (neben Bidens Wahlkampf 2020 und dem ersten Jahr seiner Präsidentschaft) für eine bedeutende Verschiebung im politischen Zentrum der Vereinigten Staaten: Seit 2016 scheint es eine allmähliche Abkehr von jenem politischen Ansatz zu geben, der im Establishment der Demokratischen Partei lange als »Common Sense« galt.
Seit Bill Clinton in den 1990er Jahren bei Wahlen siegreich war, indem er den linken Flügel der eigenen Partei gegen sich aufbrachte, folgten die Demokraten einer einfachen Philosophie: Man gewinnt Wahlen, indem man sich bei jedem Thema in die Mitte bewegt. Im Idealfall sorgt man dafür, dass konservative potenzielle Wähler wahrnehmen, wie man den Linken in den eigenen Reihen damit eine schallende und schmerzhafte Ohrfeige verpasst hat.
Jetzt scheint dieser Ansatz nicht mehr zu gelten. Nach fast allen Gesichtspunkten des bisherigen Denkens der demokratischen Führung wäre Shapiro die logische Wahl für Harris gewesen. Er ist ein wirtschaftsfreundlicher Zentrist, der die Unternehmenssteuern senken will. Er widersetzte sich den Gewerkschaften beim Thema Schulgutscheine – ein Lieblingsthema der Konservativen Partei sowie von neoliberalen Demokraten, die versuchen, das öffentliche Schulsystem weiter auszuhöhlen. Er vertritt vehement eine pro-israelische Haltung, was so weit ging, dass er polizeilich gegen Proteste vorgehen ließ, die die US-amerikanische Israelpolitik kritisierten, und linke Antikriegsdemonstranten mit dem Ku-Klux-Klan verglich. Er erhielt Rückendeckung von großen Spendern und Unternehmen. Von zentristischen Publizisten wurde er ausdrücklich als Running Mate für Harris empfohlen – eben weil dies die erneute besagte Ohrfeige für die Parteilinke gewesen wäre.
Walz hingegen ist unverblümt progressiv. Er hat nicht nur wirtschaftspolitisch linke Maßnahmen verabschiedet, sondern sich auch für Themen wie schärfere Waffengesetze, liberale Abtreibungsregelungen und Transgender-Rechte stark gemacht. Zum Ärger zentristisch-liberaler Kommentatoren sagte er: »Für den einen ist es Sozialismus, für den anderen einfach gutnachbarliches Zusammenleben.« Darüber hinaus äußerte er eine gewisse, vorsichtige Sympathie für die Botschaften der propalästinensischen Demonstrierenden. Er wurde außerdem von Senator Bernie Sanders, dem einzigen Sozialisten im Senat, unterstützt. Nach den traditionellen Regeln der Demokratischen Partei müsste er damit als ein geradezu »toxischer« Kandidat gelten.
Doch stattdessen war Walz’ linke Politik Berichten zufolge ein Hauptargument für seine Nominierung. Zwar ist Kamala Harris selbst eine unternehmensfreundliche Zentristin, doch sie scheint auf nationaler Ebene etwas Ähnliches erreichen zu wollen, wie Walz es bereits in Minnesota getan hat. Zumindest gilt seine politische Vorgeschichte offenbar nicht als Nachteil. Hinzu kommt freilich seine »demografische Attraktivität« als weißer, männlicher, im ländlichen Raum verwurzelter, jagender und fischender Midwesterner.
Tatsächlich scheint Walz eine überaus vielfältige Gruppe von Politikerinnen und Politikern der Demokraten hinter sich vereint zu haben. So gab es (inoffizielle) Rückendeckung von Sanders und Nancy Pelosi. Hinzu kommen Lob und Unterstützung von Mitgliedern der linken Squad-Gruppe wie Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar, ebenso wie von Zentristen wie Dean Phillips, Hillary Clinton und Joe Manchin.
Aus dem Harris-Lager heißt es zwar, das Problem mit Shapiro sei lediglich die fehlende Chemie zwischen der Vizepräsidentin und dem Gouverneur von Pennsylvania gewesen. Doch angesichts der Lawine an Kommentaren und Artikeln in den letzten Wochen kann durchaus der Schluss gezogen werden, dass das, was in früheren Zeiten bei den Demokraten als Stärke galt, nun eher negative Auswirkungen auf Shapiros Kandidatur hatte: Seine Forderungen nach einer Senkung der Körperschaftssteuer kollidieren mit Harris’ Plänen, diese zu erhöhen; die Gewerkschaften, eine wichtige und energiegeladene Kraft an der Basis, lehnen ihn weitgehend ab und wären mit seiner Nominierung vergrault worden; und seine einzigartig schlechte Bilanz in Bezug auf den Israel-Palästina-Konflikt drohte, eine Wunde innerhalb der Partei wieder aufzureißen, die durch den Ausstieg Bidens zumindest teilweise geschlossen werden konnte. Mit Blick auf letzteres schadete es seiner Kandidatur wohl besonders, dass die Presse einen schockierend rassistischen Meinungsartikel zum Nahostkonflikt ausgrub, den Shapiro im College geschrieben hatte. Der heute 51-jährige Shapiro machte sich nicht einmal die Mühe, darauf einzugehen, geschweige denn, sich für den Text zu entschuldigen.
Big Business dürfte derweil nicht zufrieden sein. Ein MSNBC-Kommentator sagte in der Shapiro-bevorzugenden Sendung Morning Joe: »Ich schreibe gerade mit diversen CEOs. Die Wirtschaft [...] hatte gehofft, vielleicht sogar wider Erwarten gehofft, dass der Gouverneur von Pennsylvania als Vizepräsident nominiert würde und dass dies ein wichtiger Indikator oder ein Signal dafür wäre, wie Harris als Präsidentin regieren will.«
Natürlich sollten wir die Dinge nicht überbewerten. Es gibt unendlich viele Variablen, die bei einer Entscheidung wie dieser eine Rolle spielen. Wichtig war sicherlich, dass Walz ein einzigartiges Profil hat, mit seinen Stärken als Redner, seinem spezifischen demografischen Profil (zusätzlich zum Obengenannten auch seine Herkunft aus der Arbeiterklasse und sein nicht-elitäres Bildungsniveau) und mit seiner politischen Position als ein vormals zentristischer Gesetzgeber, der erst im Laufe seiner Karriere progressiver wurde. Damit können praktisch alle Angriffe von rechts, die ihn als einen abgehobenen, weltfremden Linksradikalen darstellen wollen, leicht abgewehrt werden.
Und dennoch wäre es in der US-Politik zuvor kaum denkbar gewesen, dass Walz’ Wandlung zum Progressiven und seine linke Bilanz als Vorteil gegenüber einem weiter rechts stehenden Konkurrenten angesehen werden. Diese Entwicklung, ebenso wie die Tatsache, dass Joe Biden – einer der Hauptverantwortlichen für den Rechtsruck in der Demokratischen Partei – nach seiner Wahl kurzzeitig als progressiver Populist regierte, ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass sich die politische Landschaft in den USA verändert.
Anfang dieses Jahrtausends hatte Biden noch auf die siegreiche Kampagne von Bill Clinton verwiesen und dabei betont, es sei falsch, »Klassenkampf und Populismus als die Mittel anzusehen, mit denen wir den nächsten Wahlkampf führen sollten«.
Offenbar sind solche Ansichten in der Führungsriege der Demokratischen Partei kein Konsens mehr.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.