13. Dezember 2021
Schriftarten sind politisch und das Produkt von Ideologie. JACOBIN reitet im Schweinsgalopp durch die Geschichte der Lateinischen Schrift.
Um seiner Herrschaft über das eroberte Frankenreich adäquaten Ausdruck zu verleihen, ließ der bildungsaffine Imperator Karl der Große von seinen Hofdesignern um das Jahr 850 eine eigene Variante des lateinischen Alphabets entwerfen. Diese »Karolingische Minuskel« getaufte Schriftart wurde allen Klöstern und Schreibstuben verordnet, dominierte jahrhundertelang das typografische Europa und machte den wildwüchsigen rundgotischen Schriftarten Mitteleuropas den Garaus.
Im 15. Jahrhundert, als sie lange schon in der Versenkung verschwunden war, diente die Karolingische Minuskel Gestaltern von Straßburg bis Venedig (damals nicht nur eine instagramable City in Italien, sondern ein imperialistischer Kleinstaat) als Grundlage für unsere heutigen Kleinbuchstaben (die in der Fachsprache noch immer Minuskeln genannt werden). Denn die Ideologie des aufstrebenden Bürgertums der Renaissance verlangte nach einer neuen, für sie rationalen Schriftart: unserer heutigen »Antiqua«. Die Antiqua begleitete den Triumph des Bürgertums in ganz Europa und verdrängte nach und nach die vielgestaltigen gebrochenen Schriftarten – die Lieblinge der klerikal-feudalen Herrschaft. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Antiqua weltweit als die Manifestation der Lateinischen Schrift durchgesetzt.
In der Zwischenzeit hatte auch die Antiqua selbst verschiedene Rationalisierungsprozesse durchlaufen. Diese gingen einerseits mit der Wandlung der Herrschaftsverhältnisse, andererseits mit der technischen Innovation ihrer Reproduktion einher. Die lebendigen, teils recht krakeligen Buchstabenformen der frühen Renaissance-Antiqua wurden über die Barockzeit und den Klassizismus verfeinert. Im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung ihre frühe Hochphase erreichte, wurde auch der Bauplan der Antiqua grundlegend überdacht. Die bisher obligatorischen Serifen wurden erst rechtwinklig, dann fett und verschwanden schließlich ganz. Konservative Zeitgenossen fanden das naturgemäß »grotesque« (unförmig). In Kontinentaleuropa hat sich die Bezeichnung »Grotesk« für serifenlose Antiquas bis heute gehalten, während man in den englischsprachigen Ländern die Abwertung »gothic« (barbarisch) bevorzugte und noch immer benutzt.
Die Entzauberung der Welt zeitigt auch eine Entzauberung der Lettern: Diese sollen auf die geometrischen Grundfiguren reduzierbar und durch mathematische Operationen Schritt für Schritt konstruierbar sein. Schnörkel und Serifen fallen weg, der Buchstabe wird auf sein Skelett reduziert und aus modularen Komponenten zusammengeschraubt. Geboren ist die Geometrische Serifenlose und deren prominenteste Vertreterin, die bis heute über alle Maßen populäre »Futura«. Um mit tradierten Ideologien zu brechen und Raum für neue Ideen zu gewinnen, wurden die Buchstaben nach damaligen Vorstellungen entrümpelt. Dabei ist jedoch die Leere selbst zur Ideologie geworden.
Das Maß der Dinge wurde aber zunächst nicht die Geometrische Serifenlose, sondern die Neo-Grotesk. Deren Archetyp »Helvetica« des Schweizers Max Miedinger dominierte die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und ist bis heute eine der populärsten Schriftarten weltweit. Die Neo-Grotesk vereint die Rationalität der technischen Konstruktion mit der Eleganz klassizistischer Formensprache. Unzählige Epigonen folgten und kaum ein Konzern konnte dem Charme ihrer spröden Vernunft widerstehen. Der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts hatte seine Handschrift gefunden.
Mit der aufkommenden Digitalen Revolution in den 1980er Jahren und der Entstehung des Desktop-Publishings regte sich Widerstand. In Europa drückte sich der Sturm und Drang junger, digital zeichnender Schriftgestalterinnen in der humanistischen Serifenlosen aus. Helvetica, deren Dominanz nie ganz gebrochen wurde, galt als die Schrift steifer Konzernbürokraten.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts trat die Geometrische wieder auf den Plan, um die Neo-Grotesk in die Schranken zu weisen: Die zu globalen Konzernen aufgestiegenen Tech-Unternehmen suchten nach geeigneten typografischen Herrschaftsinsignien, um sich von den Kapitalisten alter Schule abzugrenzen. »Gotham« von Tobias Frere-Jones aus dem Jahr 2000 markiert diesen Umschlagpunkt: Ihre formale Neutralität und Objektivität ist so vollkommen, dass die Geometrischen des vergangenen Jahrhunderts dagegen schlechterdings expressiv erscheinen. Während sich ihre Vorläufer immer ein Moment von Ausdruck bewahrt hatten (Futura etwa das humanistische Formprinzip), ist Gotham so glatt und kalt wie Jeff Bezos’ Glatze im Weltraum. Trotz oder gerade wegen ihrer ausdruckslosen Vollkommenheit hat die Geometrische des 21. Jahrhunderts die Herzen der Digitalkonzerne im Sturm erobert – und mit ihnen den Kanon der Werbeästhetik schlechthin.
Wie am Ende so vieler schöner Geschichten, feierten auch die Neo-Grotesk und die Neo-Geometrische in den 2010er Jahren schließlich Hochzeit und bekamen ein Kind: die Geometrische Neo-Grotesk. Denn inzwischen hatten auch die alten Konzerne den Sprung ins 21. Jahrhundert vollzogen und wollten ihr gewohntes Stück vom Kuchen abhaben, ohne dafür ihr gutes Geschirr zu wechseln. Zugleich machten sich die Digitalkonzerne den Konservatimus der Alten zu eigen. Die Schrift »Akkurat« des Schweizer Gestalters Laurenz Brunner nahm diesen modifizierten typografischen Zeitgeist bereits 2004 vorweg. 2014 folgte der Konzern Apple mit seiner Hausschrift »San Francisco«.
Auch bei JACOBIN finden sich die Merkmale der herrschenden Ästhetik wieder: Die Headlines dieses Magazins sind in der Geometrischen Neo-Grotesk »Wand« (englisch für »Zauberstab«) aus meiner und Stefan Endress’ Feder gesetzt. Dabei handelt es sich im Grunde um nicht sehr viel mehr als eine geometrisch gestraffte und mit kleinen Variationen angereicherte Helvetica.
Die Geschichte der Typografie ist eine Geschichte von Rationalisierungsprozessen. In der visuellen Gestaltung bedeutet Rationalisierung eine Modifikation im Dienste einer neuen oder veränderten Ideologie, die gewünschte Bedeutungsaspekte betont und störende, historisch gewachsene Nebenklänge reduziert. Die Neu- oder Umgestaltung strebt danach, der natürlichste, rationalste Ausdruck der herrschenden Ideologie ihres Zeitgeistes zu sein – so wie Ideologie selbst auch immer als Ausdruck rationaler Vernunft gesehen werden will, wenn sie sich nicht gar mit der Wahrheit selbst verwechselt.
Andreas Faust ist Creative Director der deutschsprachigen Ausgabe von JACOBIN.