13. September 2021
Der Alt-Right gelingt, woran die Linke bisher krachend scheitert: die Übernahme des Internets.
In Chatrooms gibt es keine Zeitzonen. Die monotone Folge der Benachrichtigungen reißt nie ab – die einen sagen gute Nacht, während andere gerade einchecken. Inmitten eines Stroms von anstößigen Memes und Klatsch und Tratsch aus der Videospielbranche versammelt sich eine heitere Horde von »Online-Kriegern«, um politische Strategie zu diskutieren. Geleitet wird das Gespräch von einem User, dessen Avatar ein errötendes japanisches Schulmädchen zeigt, das den Hitlergruß vollführt. Während er einen Plan skizziert, um die Facebook-Seite einer Abtreibungsklinik zu hacken und darüber eine Desinformationskampagne zu starten, feuern andere Kanalmitglieder ihn an, indem sie Twerk-GIFs posten. Er hat sich die Zeit genommen, in einem öffentlich zugänglichen Ordner ein Best-of antifeministischer Memes zusammenzustellen, und bittet die Teilnehmenden um Ergänzung. Ein Neuling unterbricht das Gespräch, indem er einen Link zu einem bekannten feministischen Twitter-Account postet, mit der Frage: »Kennen Feministinnen denn gar keine Grenzen? Sollen wir’s ihr zeigen, Jungs?« Doch der Organisator antwortet kühl: »Verschwende nicht deine Zeit damit. Die Linken werden sich gegenseitig auffressen.«
Obwohl die Alt-Right viel Zeit darauf verwendet, linke Aktivistinnen, Journalisten und Facebook-Gruppen zu belästigen, zu trollen und zu provozieren, liegt ihr Fokus stets auf der Mitte: Desinformationskampagnen haben in der Regel Vorrang vor dem »Triggern der Libs«, also der (Links-)Liberalen. Als sich ältere Generationen von Aktivistinnen gerade erst für Lolcat-Memes erwärmten, waren rechte Shitposter bereits dabei, Meme-Fabriken aufzubauen und frustrierte Teenager zu rekrutieren. Noch heute ist den meisten Menschen nicht bewusst, welche entscheidende Rolle die memetische Kriegsführung bei der Wahl von Trump und dem Wachstum der Identitären Bewegung in Europa gespielt hat. Für diejenigen, die dem Treiben von der Seitenlinie aus zusahen, war es hingegen keine Überraschung, dass aus einem motivierten und gut organisierten digitalen Mob von Hunderttausenden irgendwann ein physischer wurde.
Was sind Memes, wenn nicht unterhaltsame, demokratisch produzierte Propagandaposter? Sie sind unendlich variierbar und lassen sich kostenlos erstellen und verbreiten. Sie erfordern auch keine besonderen Fähigkeiten – es gibt zahlreiche Online-Generatoren für Meme-Vorlagen, etwa die Internetseiten Imgflip oder Kapwing. Mit ihrer Hilfe kann man sich die Energie sparen, im Regen auf Bürgersteigen zu stehen und Pamphlete voller akademischem Jargon und nostalgischen Karikaturen der Arbeiterklasse zu verteilen – eine schmerzhafte Erinnerung daran, dass gut bezahlte Arbeitsplätze outgesourced worden sind und die Mehrheit der Beschäftigten heute im seelenlosen Dienstleistungssektor arbeitet.
Verglichen mit klassisch-sozialistischen Darstellungen des fröhlichen Arbeiters ist das Bild des »Doomers« – die Alt-Right-Version des modernen Proletariers – näher an der unbarmherzigen Wirklichkeit. Der Doomer trägt einen Kapuzenpulli; er wird von Schulden erdrückt und ist entweder arbeitslos oder bei McDonalds angestellt. Er ist sich der systemischen Ungleichheit bewusst, hat die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aber aufgegeben; er kämpft nachts mit Schlaflosigkeit und Existenzängsten und trägt sein Schicksal mit einer Mischung aus Selbstmitleid und Stolz. Viele junge Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum, deren Zukunftsaussichten durch eine Reihe von Krisen getrübt worden sind, können sich darin wiederfinden. Das Bild des Doomers wurde so populär, dass es eine eigene Subkultur hervorbrachte: den Doomerismus. Es gibt Doomer-Foren, Kunst, Memes, Merchandise sowie Spotify- und YouTube-Playlists, die eine seltsame Mischung aus sowjetischer Rockmusik, Doomjazz und melancholischem Krautrock spielen.
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