10. Juni 2021
Die Gig Economy ist für ihre besonders schlechten Arbeitsbedingungen berüchtigt. Doch die Plattformunternehmen geraten zunehmend unter Druck.
Ein Lieferando-Rider in Düsseldorf. Die Gig Economy ist ein Produkt der Finanz- und Schuldenkrise von 2008.
Im April dieses Jahres hat die britische Lieferplattform Deliveroo »den schlechtesten Börsengang in der Geschichte Londons« hingelegt. In den Wochen bevor die Aktie an der Börse debütierte, sorgten Proteste der solo-selbständigen »Rider«, die für die Plattform das Essen ausliefern, für schlechte Stimmung. Die Fahrerinnen und Fahrer protestierten in mehreren Städten gegen schlechte Arbeitsbedingungen während die Independent Workers’ Union of Great Britain (IWGB) potenzielle Investoren über die prekären Beschäftigungsverhältnisse und das Geschäftsmodell von Deliveroo aufklärte. In der Folge verzichteten mehrere große Anleger auf Investitionen und der lang erwartete Börsengang der Plattform blieb weit hinter den Erwartungen zurück.
Fünf Jahre zuvor hatten Deliveroo-Rider mit wilden Streiks und einer spontanen Belagerung des Londoner Hauptquartiers eine globale Welle an Streiks und Protesten von Plattformarbeiterinnen und -arbeitern losgetreten. Für das auf prekären Arbeitsbedingungen beruhende Geschäftsmodell sogenannter Gig-Economy-Plattformen wie Deliveroo, Helpling oder Uber stellen diese Kämpfe mittlerweile eine ernsthafte Bedrohung dar. Sie haben die Ausbeutung der Plattformarbeit global politisiert und zu einer Reihe an Regulierungsinitiativen geführt, die die Plattformen in die Defensive gedrängt haben. Während die Corona-Krise zwar zu einem erneuten Wachstumsschub für Unternehmen wie Deliveroo geführt hat, steigt gleichzeitig der politische Druck auf ihr Modell prekärer Arbeit.
Die Gig Economy in ihrer heutigen Form ist ein Produkt der Finanz- und Schuldenkrise von 2008. Insbesondere in den USA begannen viele, die während der Rezession ihren Job verloren hatten, bei Plattformunternehmen zu arbeiten, die großzügig mit Risikokapital ausgestattet waren und ein neues Modell kontingenter Arbeit erschufen.
Die 2009 gegründete Taxi-Plattform Uber lieferte dafür eine Art Blaupause: Wie die meisten Unternehmen seiner Art positioniert sich Uber strategisch als Technologieunternehmen, das zwischen Kundschaft und selbstständigen Fahrerinnen vermittelt. Damit werden große Teile des unternehmerischen und sozialen Risikos auf die Fahrer ausgelagert, die in oft geleasten Uber-Taxen mit kaum sozialer Absicherung um Aufträge konkurrieren.
Die Plattformwirtschaft dringt inzwischen in fast alle Bereiche der gesellschaftlichen Arbeitsteilung vor: Deliveroo bringt das Mittagessen, Uber vermittelt die Taxifahrt und TaskRabbit die Aufbauhilfe für die neuen Ikea-Möbel, bei Helpling finden sich Reinigungskräfte für die saubere Wohnung und Care.com bietet Unterstützung für die Kinderbetreuung an. Im Vereinigten Königreich, wo Deliveroo 2013 gegründet wurde, hat sich die Zahl der Menschen, die für digitale Plattformen arbeiten, innerhalb der letzten drei Jahre verdoppelt. Mittlerweile sind dort genauso viele Menschen tätig wie im öffentlichen Gesundheitssektor. Eine Studie der Europäischen Kommission schätzt, dass in Deutschland zwischen 6 und 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung regelmäßig auf digitalen Plattformen ihre Arbeit anbieten.
Zur genauen Größe der Gig Economy gibt es kaum belastbare Zahlen. Plattformarbeit fällt meist durch das Raster üblicher Erhebungsmethoden zu Arbeitsmärkten. Die Datenlage wird auch dadurch erschwert, dass Plattformarbeit oft den Zweit- oder Drittjob darstellt und schwer von ähnlichen Formen flexibler und kontingenter Arbeit abgrenzbar ist.
Für die Taxi-Plattform Uber arbeiten über 3 Millionen Fahrerinnen und Fahrer in über 900 Städten auf der ganzen Welt. Die etwa 110.000 selbständigen Kuriere von Deliveroo liefern Essen in über 800 Städten aus und die deutsche Plattform Helpling vermittelt weltweit in über 200 Städten Reinigungskräfte. Dies sind nur drei Beispiele für tausende digitale Plattformen, die auf der ganzen Welt um Märkte konkurrieren. Grob geschätzt dürften global an die 50 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Plattformökonomie beschäftigt sein.
Eine dieser 50 Millionen ist Camila, eine junge Argentinierin, die 2020 nach Berlin zog. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, schnell Geld zu verdienen, hörte sie von der Plattform Helpling. »Mir wurde von dieser App erzählt, und dass ich da sofort einen Job bekommen werde. Mir kam das komisch vor, aber so funktioniert es: Man registriert sich und erhält Putzaufträge für verschiedene Häuser, in verschiedenen Bezirken, für zwei oder vier Stunden. Dabei nimmt Helpling eine ziemlich hohe Provisionsgebühr. Im Grunde ist es das.« Treffender lässt sich das Geschäftsmodell der Plattform Helpling – und der meisten anderen Plattformen der Gig Economy – kaum zusammenfassen. Die Plattformen organisieren zwar den Kontakt, den Arbeitsablauf und die Bezahlung, treten aber strategisch nur als Vermittler auf und übernehmen keine Verantwortung für die formal selbstständigen Arbeitenden. Für ihre soziale Absicherung, wie etwa die Krankenversicherung, müssen sie selbst sorgen. Bei Auftragsflauten bricht das Einkommen ganz weg.
Als bei Camila mit dem Beginn der Corona-Krise die Aufträge über Helpling ausblieben, da die Kundschaft keine fremden Leute mehr in der Wohnung wollte, stand sie plötzlich ohne Einkommen da. Sie fand schließlich einen temporären Job auf einem Gemüsehof in Nordrhein-Westfalen, dem wegen der Reisebeschränkungen Saisonarbeiter aus Rumänien fehlten. Mit diesem Job konnte sie sich über Wasser halten, bis auf der Plattform Helpling wieder Putzaufträge verfügbar wurden.
Wie bei vielen anderen Plattformen sind in der Belegschaft von Helpling überdurchschnittlich viele migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter vertreten. Wie auch Camila bieten sich ihnen insbesondere ohne deutsche Sprachkenntnisse oft wenig Alternativen zu den Plattformen, die mit mehrsprachigen Apps und unbürokratischem Einstieg werben. Durch die Auslagerung des Risikos auf die Arbeitenden und die Möglichkeiten digitaler Kontrolle und Überwachung sind die Plattformen geradezu prädestiniert für die Ausbeutung migrantischer Arbeit. Die Plattformökonomie, wie wir sie heute kennen, würde es in Berlin, London oder Paris, aber auch vielen anderen Städten der Welt ohne migrantische Arbeit gar nicht geben.
Die Tatsache, dass in der Plattformarbeit Vollzeitbeschäftigte, Studierende, Nebenjobber, undokumentierte Migrantinnen und Migranten und viele andere zusammenarbeiten, stellt eine Herausforderung für die gewerkschaftliche Organisierung dar. In den vergangenen Jahren wurden die Proteste daher oft von informellen Netzwerken, Basisgewerkschaften und Gruppen, die über soziale Medien und Messenger organisiert sind, angestoßen. Die Proteste der Rider von Lieferdienst-Plattformen wie Deliveroo, Uber Eats, Foodora oder Lieferando gehören dabei zu den vehementesten und sichtbarsten, aber auch in anderen Teilen der Plattformökonomie gibt es Widerstand. Auch Camila und andere Arbeitende der Plattform Helpling organisieren über Messenger gegenseitige Hilfe, warnen sich vor unangenehmer Kundschaft und diskutieren Strategien, um ihren Arbeitsalltag zu verbessern und der alltäglichen Isolation und verallgemeinerten Konkurrenz der Plattformarbeit etwas entgegenzusetzen.
Der an der University of Leeds entwickelte »Index of Platform Labour Protest« listet seit 2015 über 300 Arbeitskämpfe bei Plattformunternehmen weltweit – Tendenz steigend. Proteste, Streiks und Sabotagen führen teilweise dazu, dass sich Unternehmen aus bestimmten Städten oder sogar ganzen Ländern zurückziehen. So gab der Lieferdienst-Riese Foodora den kanadischen Markt letztes Jahr nach einer Gewerkschaftsgründung auf. Insbesondere ist es durch die Proteste gelungen, die Bedingungen der Plattformarbeit öffentlich zu thematisieren und zu skandalisieren.
In vielen Ländern wurden daraufhin breit getragene Forderungen nach Verbesserungen und Gesetzesinitiativen zur Regulierung der Plattformen laut, die das Geschäftsmodell der Gig Economy herausfordern. In Großbritannien etwa urteilte das Verfassungsgericht im vergangenen Februar, dass Uber-Fahrer angestellt werden müssen. Eine Entscheidung mit schweren Folgen für das Unternehmen, dass nun die Zahlung von Urlaubs- und Krankheitstagen übernehmen muss. Eine ähnliche Entscheidung fiel im März für Lieferdienst-Rider in Spanien, die fortan festangestellt werden müssen. Weitere Fälle sind weltweit in Verhandlung und die Folgen bisher kaum abzusehen.
Diese Urteile kommen für die Plattformen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Lange Zeit schienen für Plattformunternehmen unendliche Mengen an Risikokapital zur Verfügung zu stehen, selbst wenn diese über Jahre hinweg rote Zahlen schrieben. Langsam scheinen diese Kapitalströme zu versiegen. Damit steigt der Druck, profitabel zu werden. Dieses Misstrauen der Kapitalanleger bekam Uber im letzten Jahr zu spüren, was zu einer Welle von Entlassungen und Aktienverkäufen führte. Vor dem Hintergrund skeptischer Kapitalanleger sind die Nachrichten über Arbeitskonflikte und potenzielle Regulierung Gift für die Plattformen, wie der Börsengang von Deliveroo deutlich belegt hat.
Auch in Deutschland sind diese Konflikte und Regulierungsforderungen längst angekommen. Im letzten Winter urteilte ein Gericht, dass ein Crowdworker als Angestellter eingestuft werden müsse. Arbeitsminister Hubertus Heil kündigt seit längerem eine Regulierungsinitiative im Sektor der Gig-Arbeit an. Dagegen gehen einige Plattformen schon jetzt auf Konfrontation. Das Unternehmen Helpling, das immer wieder wegen der schlechten Arbeitsbedingungen seiner Reinigungskräfte in der Kritik steht, behauptet, der Gesetzesentwurf sei ein Angriff auf das Geschäftsmodell von Helpling, der dazu führen könne, »dass sich Helpling aus seinem Heimatmarkt Deutschland zurückziehen muss«.
Ähnliche Drohungen äußerten auch Plattformen wie Uber und Lyft im Konflikt um die Regulierung der Gig Economy in den USA. Im Jahr 2019 wurde in Kalifornien gegen alle Widerstände der Plattformen das sogenannte AB5-Gesetz verabschiedet, das alle Fahrerinnen und Fahrer zu Angestellten erklärte. Uber und Lyft legten daraufhin per Volksentscheid – »Proposition 22« – einen eigenen Gegenentwurf vor. Die Plattformen gaben zusammen über 200 Millionen Dollar für eine Kampagne aus, um aggressiv für ihre Gesetzgebung zu werben und das eigene Geschäftsmodell abzusichern. Dabei waren ihnen alle Mittel recht. So wurden unter anderem auch Benachrichtigungen auf alle Smartphones der Kundschaft in Kalifornien versendet, in denen vor steigenden Preisen und längeren Wartezeiten im Falle einer Niederlage gewarnt wurde.
Nachdem die Plattformen diese Volksabstimmung parallel zur Präsidentschaftswahl 2020 gewannen und ihr Vorhaben durchsetzten, waren viele geschockt. Cherri Murphy von der Initiative Gig Workers Rising kommentierte etwa: »Letzte Nacht haben sich Uber, Lyft, Doordash, Postmates und Instacart ein Gesetz gekauft.« Dieses bestimmt, dass Plattformarbeiter weiter als selbständige »independent contractors« gelten. Die Macht der Plattformen zeigt sich nicht nur in der Rekordsumme, die für die Wahlwerbung aufgewendet wurde, sondern auch in den Drohungen der Plattformen, im Falle einer Niederlage den Betrieb einzustellen und Millionen Gig-Worker arbeitslos zu machen.
Der Kampf um Regulierung ist mittlerweile voll entbrannt und Plattform-Unternehmen lassen nichts unversucht, um ihre prekären Geschäftsmodelle aufrecht zu erhalten. Die Unternehmen bereiten sich schon länger auf Regulierungen vor, und haben Konzepte erarbeitet, um diese zu umgehen. Mittelfristig könnte dies zu Outsourcing an Subunternehmen führen, wie es in Berlin bereits bei Uber und in der E-Scooter-Wartung gängig ist. Die Arbeitsbedingungen in diesen Subunternehmen sind meist mindestens genauso prekär wie bei den Plattformen selbst. Die Fahrer von Uber in Berlin, die meist über verschiedene Subunternehmen beschäftigt sind, klagen oft über Unsicherheit, unbezahlte Wartezeiten und Arbeitswochen mit bis zu 90 Stunden.
Auch mit der Schaffung einer »dritten Beschäftigungskategorie« zwischen Selbstständigkeit und Festanstellung könnten sich Unternehmen der Regulierung entziehen. Genau dafür warben Gig-Unternehmen im Zuge der Proposition 22 in Kalifornien bereits. Die Unternehmen müssen in diesem Fall nur minimale Standards sicherstellen und die durch die Arbeiterinnenbewegung erkämpften Sozialleistungen nicht gewährleisten.
Da die Konditionen der Gig-Arbeit keine Ausnahme in einem sonst regulierten und abgesicherten Arbeitsmarkt darstellen, wird es schwierig, sie zu regulieren. Die Verhältnisse der Plattformwirtschaft fügen sich vielmehr in segmentierte Arbeitsmärkte ein, in denen prekäre Arbeitsbedingungen für einen großen Teil der Arbeitenden die Normalität darstellen. Das zeigt auch die Erfahrung von Camila und anderen migrantischen Plattformarbeiterinnen in Berlin. Die Alternativen, die sich ihnen bieten, sind zumeist Jobs in Cafés, Restaurants, der Logistik oder ähnlichen Sektoren und oftmals ebenso schlecht entlohnt. Die Prekarität der Arbeit auf digitalen Plattformen ist weniger Ausdruck eines digitalen Exzeptionalismus, sondern reiht sich ein in eine lange Geschichte prekärer und informeller Arbeit.
Nichtsdestoweniger werden die Konflikte in der Plattformwirtschaft gerade zu einem Feld politischer Kämpfe und Entwicklungen, deren Ausgang in den nächsten Jahren zukunftsweisend sein wird – und das weit über den Bereich der Gig Economy hinaus. Sie haben eine Signalwirkung für die gesamte Welt der Arbeit und ihre Neuordnung in digitalen Zeiten – umso wichtiger werden die Auseinandersetzungen der kommenden Monate und Jahre sein.