16. Februar 2022
Kanadas Trucker-Proteste gegen die Corona-Politik werden von Reaktionären angeführt. Sie werden weiter an Boden gewinnen, solange Ungeimpfte bloß moralisch verurteilt werden. Was es braucht, ist eine linke populistische Alternative.
Trucker-Protest auf dem Parliament Hill, Ottawa, 1. Februar 2022.
Wenige Wochen vor den Wahlen im letzten Herbst sah es für die kanadischen Liberalen um Justin Trudeau düster aus. Nachdem sie aus keinem besonderen Grund außer politischem Opportunismus frühzeitig in den Wahlkampf zogen, schien ein plötzliches Umfragehoch für die Konservativen anzudeuten, dass den Liberalen eine Niederlage bevorstehen könnte.
Doch dann passierte etwas. Wütende Menschenmassen, die gegen die Corona-Politik der Regierung protestierten, begannen bei Wahlkampfauftritten des Premierministers aufzutauchen. Schon bald fanden sich unter den Zuschauern Anhänger der rechtsextremen und nationalistischen Kanadischen Volkspartei (Parti populaire du Canada, PPC) des ehemaligen konservativen Ministers Maxime Bernier. Die Liberalen, die seit Beginn des Wahlkampfs schwächelten, hatten auf einmal eine Agenda.
Trudeau, der »Impfgegner-Mobs« anprangerte und sie mit seinem konservativen Gegner in Verbindung brachte, fand in einem französischsprachigen Interview noch deutlichere Worte für die sogenannten Anti-Vaxxer: Diese Leute glaubten »nicht an Wissenschaft und Fortschritt« und seien »oft sehr frauenfeindlich und rassistisch«. (Trudeaus Äußerungen sind, soweit ich weiß, nie richtig in den anglo-kanadischen Mainstream vorgedrungen. Auf den Seiten der großen Zeitungen findet man keine Berichte über dieses Interview. In den rechten Medien in Kanada und im Ausland bezieht sich hingegen eine Flut von Artikeln auf dieses Gespräch).
Im Wahlkampf ist Trudeaus Strategie aufgegangen: Der Aufschwung der Konservativen blieb aus, und der Premierminister konnte seinen Posten knapp verteidigen, auch wenn er insgesamt weniger Stimmen als sein konservativer Gegner erhielt. Massive Zugewinne verzeichnete die rechtsextreme PPC, die Hunderttausende neue Stimmen erhielt.
Als Kanadier, der die letzten Jahre damit verbracht hat, über US-Politik zu schreiben, haben die Ereignisse, die sich zwischen der Wahl im letzten Jahr und den selbsternannten »Freedom Convoy«-Protesten ereigneten, bei mir ein unheilvolles Déjà-vu ausgelöst. Das liegt nicht an der naiven Befürchtung, dass die Proteste die Anfänge einer proto-trumpistischen Politik nördlich der USA bedeuten würden: Kanada ist schon seit Jahren eine Brutstätte für Rechtsextremismus, und es wäre falsch, etwas anderes zu behaupten.
Was mir bekannt vorkommt, ist vielmehr der immerzu gleiche Kulturkampf, bei dem urbane, mit dem Finger auf andere zeigende Liberale gegen sich immer weiter radikalisierende Rechte antreten, die vorgeben, den Eliten des Landes die Stirn zu bieten und sich für die arbeitenden Menschen einzusetzen.
Es besteht kein Zweifel an den reaktionären Ansichten der Menschenmenge, die in der vergangenen Woche einen Großteil der Innenstadt von Ottawa besetzt hat, oder am rechtsextremen Hintergrund ihrer Anführer. Unabhängig von der angeblichen Verbindung dieser Proteste zu Gewerkschaftsfragen oder der LKW-Industrie ist vollkommen klar, dass sie in der Praxis quasi zur Ökumene rechter Politik während der Pandemie geworden sind. Sie haben neue Konvertiten angezogen, darunter offene Rassisten und Rechtsextreme. Es ist ebenso klar, dass sie erfolgreich Menschen mobilisiert haben, die weniger im traditionellen rechten Milieu verankert sind (was mir klar wurde, als ich die große Demonstration in Toronto am vergangenen Wochenende beobachtete).
Damit waren die Trucker-Proteste nach allen geltenden Maßstäben alarmierend erfolgreich, wenngleich wenige tatsächliche LKW-Fahrer unter den Demonstrierenden waren und die Einwohnerinnen Ottowas überwältigenden Widerstand leisteten. Erin O’Toole, der Vorsitzende der konservativen Partei, der nach seiner Wahlniederlage im letzten Herbst bereits angeschlagen war, wurde abgesetzt, und der rechte Abgeordnete Pierre Poilievre tritt als dessen Nachfolger an. Über 100.000 Menschen spendeten Millionen für eine GoFundMe-Kampagne zu den Protesten, bevor diese geschlossen wurde. Während der bekannteste Banker des Landes von »Volksverhetzung« spricht, werden die Proteste von rechten Medien auf der ganzen Welt gelobt, inspirieren diverse Nachahmer und wurden sogar vom reichsten Mann der Welt, Elon Musk, unterstützt.
Die unangenehme Wahrheit ist, dass selbst dieser falsche Populismus – eine Form des Astroturfing – echte Unterstützung in der Bevölkerung mobilisieren kann. Rechtsextreme Politik existiert nicht im luftleeren Raum und sie stürzt auch nicht über uns herein wie ein plötzliches Wetterereignis. Sie gedeiht auf dem Boden von Existenzängsten und sozialer Entfremdung und wird oft durch das zynische Verhalten der traditionellen politischen Eliten verschärft, die von ihrem eigenen Versagen ablenken wollen.
Die derzeitige Situation in Kanada bildet da keine Ausnahme. Fast zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie befindet sich das Land nach wie vor in einem Quasi-Notstand, doch während in den ersten Monaten noch von Miteinander und Solidarität die Rede war, ist davon mittlerweile nichts mehr zu hören – auch viele der Hilfsprogramme, die die Menschen während der ersten Lockdowns unterstützten, wurden drastisch zurückgefahren. Selbst als die hochinfektiöse Omikron-Variante im ganzen Land wütete, schoben gewählte Politiker (einschließlich Trudeau) die Schuld an der Pandemie den Ungeimpften in die Schuhe. Der Premierminister von Quebec zog sogar kurzzeitig in Erwägung, alle, die sich nicht impfen lassen wollen, mit einer neuen Gesundheitssteuer zu belegen.
Zugänge zu Corona-Schnelltests wurden bis vor kurzem praktisch wie im Wilden Westen verteilt: Sie waren für diejenigen verfügbar, die sie sich leisten konnten. Kanada hat sich derweil zu den vielen reichen Ländern hinzugesellt, die die Interessen von Big Pharma stützen, um sich einer weltweiten Patentfreigabe zu widersetzen, der die Massenproduktion von Impfstoffen und deren Lieferung an Menschen im Globalen Süden ermöglichen würde (was auch dazu beitragen würde, die Wahrscheinlichkeit weiterer Virusvarianten zu verringern). Während Millionen von Menschen ihre Arbeit verloren oder sich ansteckten, weil sie für einen geringen Lohn »systemrelevante« Arbeiten verrichteten, wurden die führenden Köpfe des Landes immer reicher.
Büroangestellte sind noch in der Lage, von zu Hause zu arbeiten, doch vielen Niedriglohnempfängern bleibt aufgrund der unzureichende Hilfen keine andere Wahl, als weiter zur Arbeit zu gehen, auch wenn sie krank sind. Selbst ein Abgeordneter aus Trudeaus eigener Partei musste feststellen, dass die Corona-Regelungen nach wie vor verwirrend sind, und es ist unklar, ob und wann die Regierung die Einschränkungen, die das tägliche Leben weiterhin beeinträchtigen, abschaffen will.
Der Rechtspopulismus bietet dafür keine Lösungen – egal was seine Verfechter auch behaupten mögen. Aber eine wichtige Lehre der amerikanischen Politik seit 2016 ist, dass man reaktionäres Gedankengut nicht durch moralische Verurteilung bekämpfen kann. Und ohne eine starke populistische linke Alternative zum Corona-Kulturkampf wird es sich nur noch stärker ausbreiten. Aus einer Vielzahl von Gründen sind Millionen von Kanadierinnen und Kanadiern noch nicht geimpft worden. Wir können es uns nicht leisten, sie alle als hoffnungslos rückständige Abgehängte abzuschreiben und damit den Rechten in die Arme zu treiben.