05. September 2022
Im JACOBIN-Interview räumt Vivek Chibber mit den Irrtümern der klassischen Imperialismustheorie auf.
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. In seinen Büchern Locked in Place und Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals beschäftigt er sich mit den Folgen von und dem Denken über Kolonialismus. Im Interview spricht er darüber, was eine Imperialismustheorie heute leisten muss.
Einfach
ausgedrückt, was ist Imperialismus?
Man muss zwischen Imperialismus und Kapitalismus unterscheiden. Der Marxismus verfügt über eine robuste Theorie des Kapitalismus als ein System, in dem eine Klasse die andere ausbeutet. Und Ausbeutung muss natürlich nicht an nationalen Grenzen haltmachen – es kann auch über Grenzen hinweg ausgebeutet werden. Imperialismus muss also etwas anderes bedeuten, als dass Ausbeutung grenzübergreifend stattfindet, denn das wäre einfach nur Kapitalismus. Hier herrscht mitunter Verwirrung unter Marxistinnen und Marxisten. Imperialismus erschöpft sich nicht darin, dass die kapitalistische Klasse eines Landes die arbeitende Klasse in einem anderen Land ausbeutet. Dafür haben wir bereits eine Theorie – unsere Theorie des Kapitalismus.
Daher wird der Begriff des Imperialismus sowohl von Marxistinnen als auch von Nicht-Marxisten traditionell dazu verwendet, nicht ein ökonomisches, sondern ein politisches Phänomen zu bezeichnen. Imperialismus bedeutet, dass die herrschende Klasse eines Nationalstaats die Souveränität und Autonomie eines anderen Nationalstaats beschneidet. Dies kann durch verschiedene Mechanismen erfolgen, seien es wirtschaftliche, politische oder militärische.
Nach dieser Definition kann Imperialismus die Form direkter Herrschaft annehmen – wie beim Kolonialismus – oder eine Form indirekter Beeinflussung. Im letzteren Fall spricht man mitunter von Neokolonialismus. Es ist aber entscheidend, dass wir den Imperialismus vom Kapitalismus an sich unterscheiden, denn ihre Vermischung verursacht viele Missverständnisse.
Das Interesse unter Sozialistinnen und Sozialisten, Theorien über Imperialismus und Kolonialismus aufzustellen, nahm in den 1910er und 20er Jahren stark zu, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution. Vor welchen Fragen standen Leute wie Lenin oder Luxemburg?
Der Impuls, den Kolonialismus besser verstehen zu wollen, war im Wesentlichen ein politischer. Europäische Marxistinnen und Marxisten vor 1914 wollten herausfinden, was ihre Staaten dazu veranlasste, sich andere Länder als Kolonien anzueignen und sie zu beherrschen. Luxemburg und Hilferding vermuteten vor allem ökonomische Gründe. Doch die unmittelbare Motivation war politischer Natur – ein Staat wollte den anderen dominieren. Nach 1914 verschiebt sich die Problemstellung. Man fragte sich nun, weshalb die Staaten Europas untereinander Krieg führten – und das mit der aktiven Zustimmung und Teilnahme sozialistischer und sozialdemokratischer Parteien, zu einer Zeit, als die globale Linke so geeint erschienen war.
Lenin stützt sich auf Hilferding, stellt sich jedoch eine andere Frage. Hilferding hatte versucht, herauszufinden, was die Kolonialmächte motivierte, die Dritte Welt zu dominieren. Für Lenin lautet die Hauptfragestellung nun: Warum bekriegen sie sich gegenseitig? Und seine Antwort schließt den Imperialismus mit ein. Er behauptet, der Konflikt zwischen Kolonialmächten rühre daher, dass jede von ihnen versucht, die Kontrolle über den Rest der Welt an sich zu reißen, um ihrer jeweils eigenen kapitalistischen Klasse zu dienen. Lenin führt damit die Konkurrenz zwischen Staaten als neues zentrales Element der Imperialismustheorie ein. Diese Konkurrenz und die Tatsache, dass so viele sozialistische Parteien in sie hineingezogen wurden, waren neue Phänomene, die die Linke damals traumatisierten. In den 1920ern und 30ern wird die Theorie des Imperialismus also erweitert und dieser nicht mehr als reines Nord-Süd-Phänomen aufgefasst. Die Frage nach der horizontalen Dimension des Imperialismus – der Rivalität zwischen imperialistischen Staaten – hat besonders die Dritte Internationale beschäftigt, aber auch viele spätere Sozialistinnen und Sozialisten. Und bei der Beantwortung dieser Frage hat man sich dann fürchterlich verrannt.
Inwiefern?
Erstens ging man fälschlich davon aus, dass sich der Kapitalismus in einer neuen Phase seiner Entwicklung – dem Monopolstadium – befinde. Dieser These haften grundsätzliche Probleme an. Jahrzehnte der Forschung und Debatten seit den 1960ern haben ergeben, dass die Beweislage für ein neues Monopolstadium des Kapitalismus ab den 1920ern oder 1930ern sehr dünn ist. Der Kapitalismus war auch damals, wie zu allen Zeiten, von Konkurrenz geprägt.
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Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. Sein Buch Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals ist 2019 im Dietz Verlag erschienen. Im selben Jahr haben wir im Brumaire Verlag sein dreiteiliges ABC des Kapitalismus veröffentlicht.