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14. November 2025

Der Sturz des Neoliberalismus bringt nur noch mehr Zerstörung

Der Ökonom Branko Milanović ist einer der schärfsten Kritiker der globalen Ungleichheit. Im Interview spricht er über den Aufstieg Asiens, chinesische und amerikanische Eliten – und darüber, was nach dem Neoliberalismus kommt.

Branko Milanović bei einem Auftritt in Wien, 28. Januar 2017.

Branko Milanović bei einem Auftritt in Wien, 28. Januar 2017.

IMAGO / Photo News

Branko Milanović ist einer der renommiertesten Kommentatoren zu den Themen Ungleichheit, Globalisierung und Kapitalismus. In seinen Büchern Kapitalismus global und Visionen der Ungleichheit sowie in der Anthologie The World Under Capitalism hat er sich ausführlich mit diesen Themen befasst.

Die sogenannte Elefantenkurve – die berühmte Grafik zur globalen Einkommensverteilung, die er 2013 gemeinsam mit Christoph Lakner erstellte – zeigt vielleicht am eindrücklichsten die Errungenschaften der Globalisierung, beispielsweise den allgemeinen Rückgang der globalen Ungleichheit, aber auch die damit verbundenen Probleme, wie den Aufstieg einer nicht rechenschaftspflichtigen globalen Elite.

Im Interview mit Jacobin spricht Milanović über sein neues Buch The Great Global Transformation und insbesondere darüber, wie von ihm seit langem beobachtete Phänomene zum Zusammenbruch der globalen neoliberalen Ordnung geführt haben. Sein Blick auf die Zukunft ist pessimistisch: Milanović sieht weniger eine Chance für die Linke als vielmehr eine Verstärkung der destruktivsten Tendenzen des Kapitalismus.

Der Titel Ihres neuen Buchs ist eine Reminiszenz an Karl Polanyis The Great Transformation. Sein Text beginnt mit dem berühmten Satz: »Die Zivilisation des 19. Jahrhunderts ist zusammengebrochen. Dieses Buch befasst sich mit den politischen und ökonomischen Ursachen dieses Ereignisses sowie mit dem großen Wandel, den es ausgelöst hat.«

Kann man sagen, dass The Great Global Transformation mit Blick auf die neoliberale Globalisierung das zu tun versucht, was Polanyi mit Blick auf den Marktliberalismus des 19. Jahrhunderts getan hat – nämlich dessen Scheitern als Grund für den Aufstieg des Faschismus zu identifizieren?

Ja, da gibt es Ähnlichkeiten. Offensichtlich wird das schon im Titel, bei dem ich lediglich das Wort »global« hinzufüge, weil die Transformation, die wir heute erleben, wirklich gänzlich global ist.

Die Grundideen sind ziemlich ähnlich. Wie Sie bereits erwähnt haben, versucht Polanyi zu Beginn seines Buches im Wesentlichen zu verstehen, was zunächst bei der Industrialisierung geschah und warum die neue Ordnung schon in den 1920er und 30er Jahren zusammenbrach. In ähnlicher Weise führt mein Buch den Leser durch die Zeit ab den 1970er Jahren und zeigt, was ich als die zahlreichen Herausforderungen für die westliche Hegemonie bezeichne. Daraus folgen die Fragen: Warum haben sich die Dinge verändert? Und was genau hat sich verändert?

Sie identifizieren den Aufstieg Asiens – insbesondere Chinas – als Beschleuniger für den Niedergang der neoliberalen Globalisierung, die seit dem Ende des Ostblocks 1989 im Prinzip unangefochten dominierte. Ich denke, Sie fassen dies gut zusammen, wenn Sie im Vorwort schreiben: »Der Aufstieg Chinas, der dank des globalen Neoliberalismus möglich wurde, machte das Ende des globalen Neoliberalismus unvermeidlich.« Aus rein ökonomischer Sicht kann dieser Aufstieg positiv gesehen werden, da er eine Neugewichtung der globalen Einkommen mit sich bringt. Allerdings hat er auch einige andere Folgen, wie geopolitische Spannungen und rechtspopulistische Gegenreaktionen im Westen…

Nehmen wir einmal an, wir unterhalten uns mit einer wohlwollenden Beobachterin. Wenn ihr gewisse Vorkenntnisse zur Gesamtsituation fehlen, würde sie sagen: Was in den letzten fünfzig Jahren passiert ist, scheint im Großen und Ganzen doch recht positiv zu sein: Das globale BIP ist um das Dreifache gestiegen. Durch den ökonomischen Aufschwung bevölkerungsreicher Länder wie China, Indien, Indonesien und Vietnam haben sich die Durchschnittseinkommen der Weltbürger deutlich angeglichen und verbessert. Darüber hinaus entstand etwas, das man nicht wirklich als globale Mittelschicht bezeichnen kann, aber sicherlich eine Art globale Median-Klasse.

Diese drei Entwicklungen erscheinen tatsächlich als sehr positiv. Wenn man aber beginnt, die Dinge genauer zu analysieren, erkennt man, dass das erste Problem bei der Einkommensangleichung darin besteht, dass es ein großes Land – China – gibt, das die USA in Bezug auf das Gesamt-BIP in Kaufkraft überholt hat. Dies führt zu geopolitischen Konflikten, da die USA ihre globale Hegemonie nicht aufgeben wollen und China als Konkurrenten oder Gegner betrachten, ganz sicher in Asien, wenn nicht sogar weltweit.

»Wir sind uns alle einig, dass die neoliberale Globalisierung mehr oder weniger ausgedient hat.«

Die positiven Entwicklungen führen also zu Konflikten auf zwischenstaatlicher Ebene. Zusätzlich könnte man der Beobachterin entgegenhalten: Schau Dir einmal an, was im Inland passiert. Viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren und erhalten heute niedrigere Löhne. Kapitalisten aus reichen Ländern haben Arbeitsschritte in Drittländer ausgelagert. Die Mittelschicht in reichen Staaten war mit dieser Art der Globalisierung unzufrieden und hat sich inzwischen entschieden, populistische Kandidaten zu wählen.

Das ist das Thema des Buches: Wie kommt es, dass etwas, das auf globaler Ebene als positiv angesehen werden kann – ich habe drei Aspekte genannt –, sich sowohl aus geopolitischer Sicht als auch auf nationaler politischer Ebene als Problem erweist? Meiner Ansicht nach ist das keineswegs überraschend, denn der Aufstieg Asiens ist eine so große Veränderung, dass niemand erwarten konnte, er würde schmerzfrei verlaufen.

Neben dem Aufstieg Asiens lenken Sie den Blick auf das Entstehen einer neuen herrschenden Klasse oder Elite als die zweite bedeutende Entwicklung in vierzig Jahren neoliberaler Globalisierung – oder »Globalisierung II«, wie Sie sie in einem kürzlich erschienenen Essay in Jacobin bezeichnen.

Diese Klasse, die aus der (mitunter wortwörtlichen) Vermählung von Managern und Kapitalisten beziehungsweise Kapitalistinnen und Parteikadern hervorgeht, regiert nun sowohl in China als auch in den USA. Ich finde diese Beobachtung sehr interessant, da sie den Narrativen à la Samuel Huntington widerspricht, wonach die beiden Länder zwei miteinander unvereinbare Modelle oder Zivilisationen darstellen. Darüber hinaus verstehen Sie das Handeln von Figuren wie Donald Trump, Xi Jinping und Wladimir Putin als Reaktion auf deren eigenen Aufstieg. Inwiefern unterscheiden sich diese neuen Eliten, die über viel Kapital, Kontakte und auch Arbeitseinkommen verfügen – Sie nennen sie »homoplutisch« – von früheren Eliten?

Das ist eine ausgezeichnete Frage. Ich denke, meine erste Beschreibung des Aufstiegs von China und Asien war etwas vereinfacht. Denn es handelte sich eigentlich um zwei Entwicklungen, die beide Teil desselben neoliberalen Pakets waren. Auf internationaler Ebene gab es den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas, und auf nationaler Ebene das Entstehen einer Elite, die sowohl reich ist in Bezug auf Kapital als auch auf eigene Arbeitskraft. Dabei wurden andere sozusagen zurückgeworfen. Durch diese beiden Entwicklungen lässt sich insbesondere der Aufstieg von Trump in den USA – und ich sehe ihn als exemplarisch – erklären.

Hinzu kommt das Selbstverständnis derjenigen, die in dieser Zeit sehr erfolgreich waren, hohe Qualifikationen vorweisen können und sich selbst als sehr »fleißig« wahrnehmen. Ich beziehe mich dabei oft auf Daniel Markovits’ The Meritocracy Trap. Wie Markovits feststellt, sind die heutigen Stachanows Kapitalisten: Im Finanzsektor beispielsweise arbeiten sie oft zehn bis zwölf Stunden am Tag. Sie sind daher der Meinung, dass sie bestimmte Dinge schlichtweg verdienen, dass sie ihnen zustehen. Und sie sind auch der Meinung, diejenigen, die nicht so erfolgreich waren, seien selbst daran schuld: Es ist ihre eigene Schuld, weil sie entweder nicht klug genug waren, nicht genug gelernt oder Chancen nicht genutzt haben. Da gibt es viel Verachtung gegenüber anderen Bürgerinnen und Bürgern.

»Ich denke, sowohl der Aufstieg Chinas als auch der Aufstieg der neoliberalen Elite haben dazu geführt, dass eine Masse unzufriedener Menschen entstanden ist, die jetzt gegen diese Elite stimmt.«

Ich bin sehr zufrieden mit meinem dritten Kapitel, auf das Sie anspielen. Es wirft einen empirischen Blick sowohl auf die US-amerikanischen als auch die chinesischen Eliten. Die amerikanische Elite ist eine »homoplutische« Elite mit allen genannten Merkmalen – sie sind die reichsten Kapitalisten und gleichzeitig die reichsten Arbeiter, was eine historische Neuheit ist. Sie haben einen geradezu calvinistischen Stolz auf ihren Erfolg und sehr viel Verachtung für ihre Mitmenschen. Auf der anderen Seite sieht man bei den chinesischen Eliten – die ebenfalls viel reicher geworden sind –, wie wichtig die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei ist. Auch das ist einleuchtend: Wenn man ein reicher Kapitalist ist, benötigt man gute Verbindungen und Einfluss bei der Regierung.

Für die amerikanische Elite bedeuten »Qualifikationen« oder »Referenzen« im Wesentlichen, dass man eine angesehene Universität besucht, was einem dann einen guten Job verschafft. Für die chinesische Elite bedeutet »Qualifikation« die Mitgliedschaft in der Partei, da diese die Sicherheit des eigenen Unternehmens gewährleistet.

Aus rein westlicher Sicht betrachtet: Wäre es nicht zutreffender, diese neue herrschende Klasse – die sich gerne als erfolgreicher Teil einer Leistungsgesellschaft darstellt, in Wirklichkeit jedoch eine neue Oligarchie ist – als die eigentliche Ursache für den populistischen Backlash zu benennen? Schließlich ist das Auslagern von Jobs in andere Länder nicht die Schuld Chinas (oder Indiens oder Brasiliens). Es ist auch nicht die Schuld dieser Länder, wenn westliche Zentristen wie Emmanuel Macron oder Keir Starmer kurzsichtig auf einen diskreditierten neoliberalen Kurs pochen, anstatt einen Teil des durch die Globalisierung so ungleich verteilten Reichtums umzuverteilen.

Da stimme ich absolut zu. Ich denke, es ist eine Kombination aus beidem: China hat natürlich eine Rolle gespielt, aber auf nationaler Ebene war es auch die Sturköpfigkeit der Eliten, die einfach nicht anerkennen wollen, dass sie die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung verloren haben. Sie waren zu sehr mit ihrem Erfolg beschäftigt und von der Überzeugung geblendet, dass sie diesen Erfolg auch verdient hatten. Ich erwähne dies auch in einem aktuellen Blogpost. Ich habe viele Freunde, die zur Generation der Babyboomer gehören und jetzt in Rente gehen. Sie sind fest davon überzeugt, dass sie bestimmte Dinge verdient haben – und andere Personen eben nicht, weil letztere nicht die richtigen Schulen besucht haben, beispielsweise. Sie würden tatsächlich sagen: Ja, es mag schon einen Unterschied machen, ob man reiche oder arme Eltern hatte, aber jeder konnte es schaffen.

Ich denke, sowohl der Aufstieg Chinas als auch der Aufstieg der neoliberalen Elite haben dazu geführt, dass eine Masse unzufriedener Menschen entstanden ist, die jetzt gegen diese Elite stimmt.

Nun könnte aus den Ruinen der neoliberalen Ordnung ein neues globales System entstehen. Demnach werden Unipolarität und die unangefochtene Hegemonie der USA nach dem Kalten Krieg durch eine Multipolarität ersetzt und der Neoliberalismus verändert sich in etwas, was Sie als »Nationalmarktliberalismus« bezeichnen. Das ist die im Titel des Buches angesprochene »große globale Transformation«. Kann man sagen, dass wir eine Veränderung erleben, bei der der Liberalismus nach außen hin einem aggressiven Merkantilismus weicht, während im Inland weiterhin Neoliberalismus vorherrscht?

Ja, absolut. Deswegen lautet der Untertitel des Buches auch National Market Liberalism in a Multipolar World. Wir sind uns alle einig, dass die neoliberale Globalisierung mehr oder weniger ausgedient hat. Das liegt nicht nur an Trump. Joe Bidens Politik war sehr ähnlich. So stellt sich die Frage, welche Art von System als nächstes kommt. Es ist klar, dass sich der Neoliberalismus, wie er von den 1990er Jahren bis mindestens 2016 existierte, verändert hat; ich werde hier nicht noch einmal im Detail auf Handelskriege, massive Wirtschaftssanktionen oder Zölle eingehen. Was man bei Trump aber sehr deutlich bemerkt – und ich denke, diese Haltung gibt es auch anderswo – ist, dass die Beziehungen zu anderen Ländern in einen eindeutig merkantilistischen Modus übergegangen sind.

»Methodisch bin ich Marxist und glaube nicht, dass der Kapitalismus eine praktisch naturgegebene Produktionsweise ist. Ja, es besteht die Möglichkeit, dass er durch ein besseres System überwunden oder ersetzt wird. Allerdings habe ich keine Blaupause für ein solches anderes System.«

Was bedeutet Liberalismus oder auch Neoliberalismus? Im vierten Kapitel des Buches stelle ich vier Quadranten des Neoliberalismus vor. Im Inland bedeutet dies in ökonomischen Fragen erstens: freier Wettbewerb, niedrige Steuern, geringe Regulierung und so weiter. In gesellschaftlichen Fragen setzt der Neoliberalismus sich zweitens für negative Freiheiten, Minderheitenförderung sowie die Akzeptanz sexueller und kultureller Unterschiede ein. Ebenso gibt es auf internationaler Ebene zwei Quadranten. Ökonomisch geht es um freien Handel, während in gesellschaftlicher Hinsicht ein Kosmopolitismus angestrebt wird, der in seiner reinsten Form die Freizügigkeit von Arbeit und Menschen beinhalten muss.

Sehen wir uns also diese vier Quadranten nochmals an. Der internationale Teil ist komplett verschwunden. Trump sagt einfach: Nein, das gilt nicht mehr. Was den innenpolitischen Teil betrifft, so stehen auch die negativen Freiheiten und Akzeptanz für Diversität unter Beschuss. Was übrig bleibt, ist somit nur noch der erste Quadrant, der Marktliberalismus. Und tatsächlich sehen wir, dass Trump neoliberale Politik nicht nur weiterverfolgt, sondern sogar verschärft: Steuersenkungen, weniger Regulierung in praktisch allen Bereichen, niedrigere Steuern auf Kapital als auf Arbeit. Er verschärft all diese Dinge.

Wie soll man dieses neue System nun nennen? Ich nenne es »national«, weil es nur auf nationaler Ebene gilt, und ich nenne es »marktwirtschaftlich«, weil die früheren gesellschaftlichen Aspekte eigentlich keine Rolle mehr spielen. Daher der Begriff »Nationalmarktliberalismus«.

Sie stützen Ihre Analyse auf langfristig beobachtbare Trends. Allerdings erscheint mir diese neue Ordnung, die Sie beschreiben, als sehr instabil, fragil und potenziell explosiv.

Es ist nicht nur so, dass in einer Welt rivalisierender Mächte das Kapital weiterhin expandieren muss – daher die ständigen geopolitischen Spannungen und Kriegshetze. Darüber hinaus scheinen sich die sozialen Krisen, die die neoliberale Globalisierung verursacht hat, noch zu verschärfen, vielleicht mit Ausnahme Chinas unter Xi.

Die Verlierer der Globalisierung haben vom Rückzug des Neoliberalismus hinter die eigenen Staatsgrenzen nichts zu gewinnen. Wenn überhaupt, dürften sie noch mehr verlieren, weil der Sozialstaat zugunsten von Aufrüstung abgebaut wird, soziale Sicherheitsnetze privatisiert und durch noch mehr Ungleichheit ersetzt werden. Glauben Sie nicht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Gesellschaft sich zur Wehr setzt?

Wenn ich mir Trumps Politik anschaue, ist davon auszugehen, dass die Ungleichheit in den USA zunehmen wird. Praktisch alle von ihm getroffenen politischen Maßnahmen lassen sich historisch mit einer zunehmenden Ungleichheit in Verbindung bringen.

Gleichzeitig ist Trump ein Demagoge. Rein rechtlich kann er nicht für eine dritte Amtszeit kandidieren, aber ich glaube nicht, dass die von ihm ins Leben gerufene Bewegung verschwinden wird. Ebenso würde im krisengeschüttelten Frankreich wahrscheinlich ein Kandidat des Rassemblement National an die Macht kommen, wenn Macron zurücktreten sollte. In Großbritannien ist es mit Reform UK ähnlich. In Deutschland ist die AfD so stark wie nie.

Das sind keine Zufälle. Ich bin skeptisch, was sie erreichen können, aber trotzdem: Ich denke, dass es eine gewisse Abneigung gegen die Eliten gibt. Aufgrund dieser Abneigung würden Menschen, die mit dem aktuellen Stand der Dinge unzufrieden sind, alles akzeptieren, solange nur diese Eliten nicht mehr an der Macht sind – auch, wenn es ihnen selbst dadurch nicht besser geht.

Bemerkenswert in Ihrem Buch ist, dass der Klimawandel kaum vorkommt. Es scheint, als gingen Sie davon aus, dass die Welt in Bezug auf das Klima weitermachen wird wie bisher. Wir wissen alle, dass dies nicht wünschenswert ist. Wie beurteilen Sie dies? Wird das Klima nur ein weiterer Stressfaktor in einer Welt sein, die bereits in einer sich verschärfenden Polykrise steckt?

Dies ist möglicherweise keine sonderlich populäre Antwort, aber ich bin nicht der Ansicht, dass der Klimawandel eine Gefahr darstellt, die hinsichtlich ihrer Größe und Bedeutung mit den anderen angesprochenen Faktoren vergleichbar ist.

Ich glaube an den Klimawandel und bin überzeugt, dass er Auswirkungen haben wird. Es wird Regionen auf der Welt geben, die unbewohnbar werden; aber es gibt andere Regionen, insbesondere Russland und Kanada, die davon profitieren würden. Zweitens glaube ich, dass wir technologische Lösungen finden werden.

»Die Aufgabe eines Kapitalisten als gesellschaftlicher Akteur besteht nicht darin, sich um die Umwelt oder andere Menschen zu kümmern, sondern um die Aktionäre und sein Geld. Es ist wie gesagt ein System, das unmoralisch ist und alles kommerzialisiert.«

Ich bin alt genug, um mich an die Phrase zu erinnern, dass die Erde ein Planet mit natürlichen Grenzen ist und es auf einem begrenzten Planeten nun einmal kein unbegrenztes Wachstum geben kann. Wir mögen ein begrenzter Planet sein, aber wie wir bestehende Ressourcen nutzen, ist technologisch bedingt. Ich teile nicht die Ansicht, dass es irgendwo eine Schwelle gibt und dass der Kapitalismus zusammenbricht, sobald wir diese Schwelle erreichen. Selbst wenn dies der Fall wäre, welches System würde ihn ersetzen? Ich kann mir eher eine Verringerung der Wachstumsraten vorstellen, da grüne Technologien mehr technologische Entwicklung erfordern und geringere Erträge einbringen.

Methodisch bin ich Marxist und glaube nicht, dass der Kapitalismus eine praktisch naturgegebene Produktionsweise ist. Ja, es besteht die Möglichkeit, dass er durch ein besseres System überwunden oder ersetzt wird. Allerdings habe ich keine Blaupause für ein solches anderes System.

Sie sind ein Realist, der keine Alternativen zum Kapitalismus am Horizont aufkommen sieht. Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie dem Kapitalismus nicht zutiefst kritisch gegenüberstehen. Tatsächlich ist das Abschlusskapitel von The Great Global Transformation eine Anklage gegen den unersättlichen Charakter des Kapitalismus. Ist es richtig zu sagen, dass Sie – auch wenn Sie dies nicht ausdrücklich erwähnen – Krieg als das wahrscheinlichste Ergebnis der aktuellen Gemengelage betrachten? Bewegen wir uns schlafwandelnd auf eine weitere Tragödie zu?

In Bezug auf Krieg bin ich mir nicht sicher. Aber wir alle kennen die aktuelle Lage. Es könnte jederzeit passieren.

Das angesprochene letzte Kapitel umfasst nur wenige Seiten, aber ich vertrete meine dortige Ansicht auch in Kapitalismus global: Der Kapitalismus ist im Wesentlichen ein unmoralisches System, das ausschließlich von Eigeninteresse und Profitstreben getrieben ist. Die gesamte Diskussion über Stakeholder gegen Shareholder halte ich im Grunde genommen für unsinnig. In diesem Punkt würde ich Milton Friedman zustimmen: Die Aufgabe eines Kapitalisten als gesellschaftlicher Akteur besteht nicht darin, sich um die Umwelt oder andere Menschen zu kümmern, sondern um die Aktionäre und sein Geld. Es ist wie gesagt ein System, das unmoralisch ist und alles kommerzialisiert.

Das ist ein weiterer Punkt, den ich in dem Buch anspreche. Es gibt Aktivitäten, die historisch gesehen nicht kommerzialisiert waren. Inzwischen wurde wahrscheinlich der gesamte häusliche Bereich kommerzialisiert: Das Kochen wurde kommerzialisiert; Gassigehen mit dem Hund wurde kommerzialisiert; Altenpflege wurde kommerzialisiert. Sogar das Sterben wurde kommerzialisiert. Das Quasi-Verschwinden der Familie ist vermutlich die ultimative Konsequenz; denn Familie wird durch Aktivitäten definiert, die grundsätzlich nicht kommerziell sind.

Wenn man also alles kommerzialisiert, ist es nicht überraschend, dass man eine Welt voller Einsamkeit erhält. Das einzige Zitat, das ich in diesem Kapitel anführe, stammt aus Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels. Das Buch wurde 1968 geschrieben und ist ein phänomenales Werk. Es ist bemerkenswert, was er alles vorausgesehen hat. In diesem Sinne bin ich heute sehr pessimistisch. Es ist ein nüchterner Pessimismus. Doch angesichts einer zunehmend atomisierten Gesellschaft ist dies meiner Meinung nach die Richtung, in die wir uns bewegen.

Branko Milanović ist Ökonom und Gastprofessor am Graduate Center der City University of New York.