08. Juli 2025
Karin Priens Vorschlag einer »Migrationsquote« an Schulen ist nicht nur rassistisch und realitätsfremd – er ist vor allem ein Ablenkungsmanöver. Denn die Bundesregierung, der sie selbst angehört, verschlimmert die Bildungsmisere.
Beim Würstchengrillen im Fernsehen hat Bundesbildungsministerin Karin Prien an Schulen eine Obergrenze von »30 oder 40 Prozent« für Kinder mit Migrationshintergrund als »denkbares Modell« bezeichnet. Während des Kochens mit Welt-Moderator Jan Philipp Burgard hat sie noch einige weitere Kulturkampfthemen auf die Agenda gesetzt: Verschleierung und Gendern sollte man an Schulen direkt verbieten, ein Regelbruch im Schwimmbad sollte mit einer Abschiebung sanktioniert werden. Den allgemeinen Rassismus milderte sie teilweise ab: »Wir haben nicht nur Probleme mit Kindern mit Migrationsgeschichte. Wir haben auch Probleme mit Kindern aus Familien, die schon immer hier waren.« In anderen Worten: Die Probleme des deutschen Bildungssystems sind die Kinder und deren Eltern. Die Kinder sind zu migrantisch, zu schlecht erzogen und die Eltern zu unwillig, ihre Kinder zu erziehen. Diese Rhetorik ist Neoliberalismus in Reinform: Das Kind, das schlecht lernt, ist selbst schuld. Der Rassismus, reichlich befeuert vom Springer-Journalisten in der Kochschürze, ist eine rechtspopulistische Nebelkerze, um von der Kürzungspolitik der Bundesregierung abzulenken.
Um besagte Nebelkerze gleich auszupusten: Eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund ist nicht nur rassistisch, sondern geht am Problem vorbei und wäre sowieso nicht umsetzbar. Diese Idee stammt nicht, wie der Journalist behauptete, aus Dänemark, sondern von der AfD Brandenburg, die bereits 2023 eine Obergrenze von 10 Prozent vorgeschlagen hatte. Die Idee ist rassistisch in dem Sinne, dass die Herkunft der Kinder gleich zu einem Bildungsproblem gemacht wird – das migrantisierte Kind an sich als Problemfall. Relevant in der Schule ist jedoch nicht, wo die Großeltern geboren wurden, sondern welche Sprache zu Hause gesprochen wird. Noch wichtiger ist eigentlich die Schulnähe der Eltern: Für wie wichtig halten sie schulische Bildung? Wie sehr sind sie am schulischen Erfolg des Kindes interessiert?
Einige Kommentatoren geben der Idee der AfD und Priens zum Teil Recht und behaupten, dass man unbedingt eine »Mischung« auf dem Schulhof bräuchte. Dabei liegt das Kernproblem der Bildungsmisere woanders: Viele Kinder haben grundlegende Schwierigkeiten damit, Texte zu schreiben und zu verstehen. Aufgrund dessen scheitern sie in allen Fächern, auch in der Mathematik. Diese Art von »Textkompetenz« ist etwas völlig anderes als die Fähigkeit, sich im Alltag auf Deutsch zu verständigen. Was man auf dem Schulhof von Muttersprachlern lernen könnte, würde genügen, um ein Eis zu bestellen, aber noch lange nicht ausreichen, um eine Ausbildung abzuschließen. Textkompetenz kommt nicht von der Alltagssprache, sondern von der Schriftsprache, weswegen auch Muttersprachler aus bildungsfernen Haushalten bei PISA und anderen Tests schlecht abschneiden.
Allein die Anzahl der Kinder aus deutschsprachigen Haushalten zu erhöhen, würde also für die Förderung der Textkompetenz wenig bringen. Die Schriftsprache lernt man nun mal im guten Unterricht. Die Voraussetzungen dafür sind unter anderem genügend ausgebildete Lehrkräfte, saubere (Fach-)Räume, eine zeitgemäße Digitalisierung sowie Eltern, die die Kapazitäten haben, ihre Kinder zu unterstützen.
»Was man auf dem Schulhof von Muttersprachlern lernen könnte, würde genügen, um ein Eis zu bestellen, aber noch lange nicht ausreichen, um eine Ausbildung abzuschließen.«
Würde man die Idee einer Obergrenze wirklich ernst nehmen, dann müssten also massenhaft Kinder aus migrantischen Vierteln an Schulen in den Vororten geschickt werden und umgekehrt. Dieses Experiment gab es schon mal: in den USA der 1970er. Um die rassistische Segregation auch an den Schulen aufzuheben, wurde per Gerichtsverfahren entschieden, Schülerinnen und Schüler per Bus – geläufig unter dem Begriff »busing« – in Gebiete außerhalb ihres Wohnbezirks zu bringen, um die Schulhöfe zu durchmischen. In der Konsequenz führte das dazu, dass bürgerliche weiße Familien aus den Innenstädten flohen und sich über Generationen hinweg bei vielen ein Hass auf Regierungshandeln entwickelte. Es wäre ein gefundenes Fressen für die AfD.
Eine Obergrenze für Kinder mit Migrationshintergrund an Schulen würde auch die Abschaffung des Gymnasiums voraussetzen. Der Zugang zum Gymnasium hängt stark von der sozialen Herkunft der Eltern ab, im Sinne der Herkunftssprache und auch der Klasse. Das Gymnasium ist im Allgemeinen bürgerlicher und deutschsprachiger. Wo kämen die muttersprachlichen Kinder zur Senkung der »Migrantenquote« also mehrheitlich her? Richtig, vom Gymnasium. Bei einer Zwangsdurchmischung aller Kinder müsste man das exklusive Gymnasium folgerichtig also auflösen.
Prien sagte beim Grill-Talk allerdings auch, dass man »die Erfahrung aus anderen Ländern« anschauen sollte, um die schlechten Bildungsergebnisse in Deutschland anzugehen. Das führt uns ironischerweise wieder zur Abschaffung des Gymnasiums – denn Deutschland und Österreich gehen mit dem mehrgliedrigen Schulsystem einen Sonderweg. Nirgendwo sonst werden Kinder überwiegend nach der 4. Klasse selektiert und an mehr oder weniger wertige Schulen geschickt. Im mehrgliedrigen System, dessen Grundpfeiler das Gymnasium ist, werden Klassenunterschiede zu Bildungsunterschieden – woraus dann wiederum Klassenunterschiede entstehen. Arme Kinder werden durch schlechtere Schulbildung zu armen Erwachsenen gemacht. Anstatt sozialen Aufstieg zu ermöglichen, wird soziale Ungleichheit zementiert.
Wenn Prien ihre eigenen Aussagen ernst nähme, während sie gerade einen Joghurt-Dip anrührt, dann müsste sie vielmehr eine tiefgreifende Schulreform anschieben. Das hat sie natürlich keineswegs vor. Mit Kulturkämpfen gegen arabischstämmige Kinder oder gegen das Gender-Sternchen kann man allerdings wunderbar von den tatsächlichen Problemen der Schulen ablenken, die die Bundesregierung, der Karin Prien angehört, allesamt verschlimmert.
»Auch in den wildesten Fantasien der rassistischen Rechten würden die deutschen PISA‑Ergebnisse nicht besser werden – die Schulen wären weiterhin marode, schmutzig, überfüllt und analog.«
Die Schulgebäude in Deutschland sind in katastrophalem Zustand: 55 Milliarden Euro würde die Instandsetzung kosten, so eine Einschätzung der KfW-Förderbank 2024. Die Kosten tragen die Kommunen. Da der Bund jedoch gerade die Steuern für Unternehmen senkt, schrumpfen damit auch die Mittel der Kommunen. Saubere Schultoiletten rücken also weiter in die Ferne. Einige hoffen auf das 500-Milliarden-Euro-Investitionspaket für Infrastruktur und Klimawandel. Allerdings wird damit zu rechnen sein, dass der Großteil dieser Investitionen in militärrelevante Infrastruktur fließen wird. Anders als Schienen, Häfen, Autobahnen und Brücken werden Schulen nie für die Wehrhaftigkeit Deutschlands nützlich sein.
Priens eigene Projekte, die sie als Bildungsministerin angehen möchte, werden zudem der Größe der Problematik kaum gerecht. So soll etwa das »Startchancen-Programm« Schulen in besonders herausfordernder Lage finanziell stärken. In Ländern wie Berlin werden allerdings gleichzeitig die Mittel einer anderen Förderung – des »Bonus-Programms« – stark eingekürzt. Das bedeutet: Die Schulen müssen den Bewerbungsprozess nochmal durchlaufen und können nicht einmal sicher sein, ob ihnen danach noch Mittel in derselben Höhe zur Verfügung stehen. In anderen Worten: Da, wo die Länder Schulen aufgrund der Steuerkürzungen des Bundes nicht mehr länger unterstützen können, springt der Bund schlechter ein und erhöht auch noch den Aufwand. Unterm Strich ist immer noch weniger Geld da als vorher.
Ein weiteres Beispiel ist der »Digitalpakt« für digitale Mittel. Beim Steakessen mit der Springer-Presse hat Prien davon gesprochen, dass zu wenige Lehrkräfte KI im Unterricht einsetzen würden und man hier mehr Fortbildungen und bessere Richtlinien bräuchte. Die meisten deutschen Schulen sind informationstechnisch noch auf dem Stand der 2000er. Der »Digitalpakt« sollte es Schulen ermöglichen, technische Geräte anzuschaffen. Das setzt voraus, dass die Schulen imstande sind, solche Mittel zu beantragen. An kleinen Grundschulen mangelt es jedoch nicht nur am nötigen bürokratischen Wissen, sondern oftmals auch an den notwendigen Kapazitäten, um solche Anträge stemmen zu können – das gelingt nur großen Schulen mit Informatik-Lehrkräften und Verwaltungskräften. Insofern ist das Problem nicht, dass Lehrkräfte nicht wissen würden, wie man mit und über KI unterrichtet, sondern dass es keine oder veraltete Geräte und kein WLAN für die Schüler gibt. Und selbst wenn es Geräte gibt, dann fehlt es an Technikern, um diese instand zu halten, weil die verarmten Kommunen dafür keine finanziellen Mittel haben. Ernsthafte Digitalisierung an deutschen Schulen setzt eine ausreichende Finanzierung der Kommunen voraus.
Eine gerechte Schulbildung braucht einen fähigen, gestaltenden Staat: Lehrerinnen und Lehrer müssen ausgebildet, Schulen gebaut und digitale Infrastruktur eingesetzt werden. Kleine, befristete Bundesprogramme werden eine dauerhafte kommunale Finanzierung der Schulen niemals ersetzen können. Auch in den wildesten Fantasien der rassistischen Rechten würden die deutschen PISA‑Ergebnisse nicht besser werden – die Schulen wären weiterhin marode, schmutzig, überfüllt und analog. Was die Schulen in diesem Land wirklich brauchen, ist also keine rassistisch überhitzte Scheindebatte der Grillschürzen-AfD, die Kinder und Eltern zum Auslöser einer Misere erklärt, für die sie keine Verantwortung tragen, sondern eine ambitionierte Bildungspolitik und zupackende Investitionen.
Ryan Plocher ist Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln und aktives Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).