16. Dezember 2021
Nach Jens Spahn sehnte sich die Bevölkerung nach einem kompetenten Gesundheitsminister – und so war die Ernennung Karl Lauterbachs von lautem Jubel begleitet. Den Pflegenotstand in den Krankenhäusern hat Lauterbach allerdings maßgeblich mitverantwortet.
Karl Lauterbach bei der Vorstellung der neuen Minister im Willy-Brandt-Haus, Berlin, 06. Dezember 2021.
Karl Wilhelm Lauterbach – seit Corona ist er ständiger Gast bei Anne Will, Lanz und Co. und nun also Bundesgesundheitsminister. Früher wurde der Mann mit der Fliege oft belächelt, inzwischen hat er sie abgelegt. Lauterbach hat sich zweifellos zurecht einen Ruf als gefragter Experte in Sachen Pandemiebekämpfung erarbeitet. Die Öffentlichkeit dankte ihm seinen Einsatz und forderte ihn als Nachfolger von Jens Spahn.
Doch die Jubelstürme über seine Ernennung sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lauterbachs langer Weg in den Ministersessel über zahlreiche Skandale führte, die ein manchmal bedenkliches Politikverständnis offenbarten.
Die politische Karriere des Karl Lauterbach begann in dem von ihm gegründeten Institut für Gesundheitsökonomie, laut Spiegel ein »kleines Institut über einem Supermarkt an einer Durchgangsstraße«. Von hier aus sicherte er sich Kontakte zur Politik, vor allem zur SPD. Denn ursprünglich war der aus der Nähe von Aachen stammende Lauterbach Mitglied der CDU.
Ende der 1990er Jahre war Lauterbach für den Pharmariesen Bayer tätig. Der Harvard-Absolvent verantwortete dort eine Studie zum Blutfettsenker Lipobay. Nach nahezu 100 Todesfällen im Zusammenhang mit dem Medikament musste Bayer das Produkt wieder vom Markt nehmen.
Als Lauterbach in seinen Jahren im Sachverständigenrat des Gesundheitsministeriums 2001 erneut mit der Causa Lipobay beschäftigt war, bemängelte er die unzulängliche Zusammenarbeit zwischen den weltweiten Zulassungsbehörden und fehlende Langzeitstudien. Der Bayer-Konzern, so Lauterbach, hätte Informationen über bereits erkannte Probleme mit dem Medikament auch an die deutsche Zulassungsbehörde weitergeben müssen. Zur Wahrheit gehört jedoch auch: »Die frühen Hinweise darauf, dass Lipobay möglicherweise gefährlich war, nahm Lauterbach damals ebenso wenig wahr, wie es seine Auftraggeber taten«, schrieb der Spiegel 2004.
Um steigende Krankenhauskosten zu drosseln, argumentierten Gesundheitspolitiker bereits früh in der Geschichte der Bundesrepublik für einen Abbau von Krankenhausbetten. Allein zwischen 1990 und 1998 sind etwa 100.000 der ursprünglich rund 680.000 Betten gestrichen worden. Ab 1993 wurde für einen kleinen Teil der Krankenhausbehandlungen ein sogenanntes Fallpauschalensystem eingeführt. Statt die tatsächlichen Kosten einer Behandlung zu decken, die stark von der Verweildauer der Kranken in den Hospitälern abhingen, wurden nun Festbeträge an die Krankenhäuser gezahlt. Dies sollte die Kliniken dazu veranlassen, Patientinnen und Patienten möglichst kurz zu behandeln, um Kosten einzusparen.
Karl Lauterbach machte sich bereits seit dem Jahr 2000 für die generelle Einführung des Fallpauschalensystems stark. Mithilfe von Diagnosegruppen (Diagnose Related Groups), bekannt als DRG-System, sollten künftig sämtliche Behandlungen zum Festpreis vergütet werden. Die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) versprach sich davon nicht nur eine Senkung der Kosten, sondern auch »mehr Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern«. Lauterbach war in dieser Zeit einer ihrer engsten Berater, was den Spiegel dazu veranlasste, Lauterbach als den »Einflüsterer« Ulla Schmidts zu bezeichnen.
Die Aussicht auf mehr Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern dürfte in den 2000er Jahren, in denen der Neoliberalismus seinen Siegeszug antrat, gerade private Krankenhauskonzerne elektrisiert haben. Der Bettenabbau ging schließlich jahrelang mit der Reduzierung des Personals einher, dem größten Kostenfaktor im Gesundheitswesen.
Das DRG- und Fallpauschalensystem führte etwa dazu, dass in zahlreichen Kliniken Verträge mit Chefärzten und Oberärztinnen geschlossen wurden, die eine Erhöhung der Zahl profitabler Operationen bei immer geringerer Verweildauer im Krankenhaus vorsahen. Das Ärzteblatt sprach in diesem Zusammenhang von »organisierter Körperverletzung im großen Stil«, zahlreiche Ärztinnen und Ärzte warnten vor »blutigen Entlassungen«.
Der Handlungsdruck auf den Staat wurde offenbar so groß, dass der Gesetzgeber sich 2012 zur Beauftragung einer großen Studie veranlasst sah. Die Bilanz fiel eindeutig aus: »Krankenhäuser steigern vor allem die Anzahl jener Operationen, die sich finanziell lohnen«, hieß es darin.
Die Probleme des Fallpauschalen-Systems waren Lauterbach bereits vor dessen Einführung bekannt. So schrieb er bereits im Jahr 2000:
»Eine DRG-basierte Vergütung könnte einen Anreiz bedeuten, den Patienten mit möglichst geringem Aufwand zu behandeln und dann frühzeitig zu entlassen. [...] Die amerikanischen Erfahrungen haben gezeigt, dass ein Anstieg der Mortalität nicht eingetreten ist. Die Verweildauer sank im Rahmen eines langfristigen Trends weiter ab, wobei Entlassungen mit instabilem Zustand des Patienten leicht zunahmen«.
Auch an der Einführung der Praxisgebühr war Karl Lauterbach beteiligt. Die Ärzteschaft warnte davor, dass insbesondere ärmere Menschen nun seltener zum Arzt gehen würden. Bei Lauterbach stießen diese Warnungen auf taube Ohren. Ein Gesundheitsrisiko konnte er nicht erkennen. Als er in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk gebeten wurde, zu dieser Position Stellung zu beziehen, entgegnete Lauterbach: »Hätten wir weniger Arztbesuche, könnte jeder einzelne Arztbesuch länger dauern und es zu besserer Qualität bringen. Somit, weniger Arztbesuche bedeutet nicht weniger Qualität.«
Wer sich daran erinnert, dass Lauterbach die Agenda 2010 einst als linkes Projekt bezeichnete, dürfte von solchen Aussagen jedoch kaum überrascht sein. Der Niedriglohnsektor sei beabsichtigt gewesen – als Starthilfe, um »Arme in Brot zu bringen«. Zwar bezeichnete sich Lauterbach damals als SPD-Linken, mit seinen Auffassungen zu Hartz IV stand er jedoch in deutlichem Widerspruch zu anderen SPD-Linken wie Ottmar Schreiner.
Noch während Lauterbach auf politischer Ebene den tiefen Einschnitt in das Finanzierungssystem der Krankenhäuser vorbereitete, übernahm er einen Sitz im Aufsichtsrat des privaten Krankenhauskonzerns Rhön Klinikum AG. Ebenfalls im Aufsichtsrat: die Milliardärin und Erbin des Bertelsmann-Konzerns Liz Mohn. Private Krankenhäuser profitierten lange von guten Kontakten in die Politik. Aufgrund der Finanzknappheit deutscher Kommunen wurden zahlreiche Krankenhäuser privatisiert. Die privaten Betreiber waren dankbar für jede Hilfe bei den oft schwierigen Verhandlungen mit den Kommunen, Gewerkschaften und Personalräten.
Erst 2013 zog sich Lauterbach aus dem Gremium der Röhn Klinikum AG zurück, nachdem er in das Kompetenzteam des damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück berufen wurde. Im selben Jahr wurde bekannt, dass in den Kliniken des Konzerns jahrlang Reinigungskräfte »gemobbt und ausgebeutet« wurden, wie die Süddeutsche Zeitung berichtete. Lauterbach, der als Kontrolleur im Aufsichtsrat gut dazu verdiente, wollte sich nie zu seiner Rolle in diesem Skandal äußern. Die Höhe seiner eigenen Einkünfte in jener Zeit verschweigt er bis heute.
Während Lauterbach seit Beginn der Corona-Pandemie Dauergast in den Talkshows der Republik ist und dort auch stets vor drohenden Überlastungen des Gesundheitssystems, insbesondere in der Pflege, warnt, hat er seinen eigenen Anteil am Pflegenotstand in den Krankenhäusern allem Anschein nach nie reflektiert. Schlechte Arbeitsbedingungen, miese Bezahlung und eine extrem hohe Arbeitsdichte prägen den Alltag in der Pflege. All dies ist insbesondere auf die Einführung des DRG-Systems zurückzuführen, welche Lauterbach zuvörderst vorangetrieben hatte.
Eine im Juli 2019 veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung bilanzierte, dass von den bisher 1.400 Krankenhäusern im Land künftig weniger als 600 gebraucht würden. Diese Schließungen seien notwendig, um die Versorgungsqualität der übrigen Kliniken zu erhöhen, hieß es dort. Als vonseiten der Krankenhäuser und des Gesundheitspersonals heftige Kritik laut wurde, schloss sich Karl Lauterbach der Argumentation der Studie an und bekräftigte sie. Die Anzahl der zu schließenden Häuser sei zugegebenermaßen überzogen, doch der »Grundtenor« der Studie sei korrekt. Es käme lediglich darauf an, die »richtigen« Häuser zu schließen, so Lauterbach.
»Gesundheits- und Finanzminister singen nicht vom selben Blatt«, hieß es unlängst in der ARD-Sendung Bericht aus Berlin über die zu erwartenden Schwierigkeiten im Kabinett. Schließlich, so die Kommentatorin Hanni Hüsch, treffe von der Wissenschaft geleitete Gesundheitspolitik auf ein »marktliberales Politikverständnis«. Es bleibt abzuwarten, ob sich Lauterbach tatsächlich von seinen früheren Positionen entfernt und Gesundheit als ein universelles Grundrecht begreift, das keiner Verwertungslogik unterliegen darf.
Natürlich ist Karl Lauterbach und uns allen zu wünschen, dass er die Bekämpfung der Corona-Pandemie erfolgreich stemmen wird. Doch damit dies gelingen kann, muss der Nachfolger von Jens Spahn seinen vergangenen Fehlentscheidungen Rechnung tragen und die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor in den Fokus nehmen.
Zunächst gilt es, einen Coronabonus in angemessener Höhe zu beschließen – und zwar für die gesamte Pflege und nicht nur für die Beschäftigten auf den Intensivstationen. Eine weitere Spaltung der Pflege sollte dringend vermieden werden. Noch wichtiger sind jedoch ordentliche Tariflöhne. Schließlich gelten in den Krankenhäusern sehr unterschiedliche Tarifverträge. Es bleibt außerdem zu wünschen, dass sich Lauterbach trotz des Gegenwindes aus der FDP weiter für die Bürgerversicherung einsetzt, die er noch während des Wahlkampfes als verhandelbar erachtete.
Oft heißt es, die Corona-Pandemie gleiche einem Brennglas, welches deutliche Missstände noch sichtbarer machen würde. Schon lange unübersehbar sind jedoch die negativen Folgen der Privatisierungen des Gesundheitssystems. Auch hier muss Lauterbach dringend tätig werden. Zu unser aller Wohl.