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04. September 2025

Marx war ein Verfechter der Demokratie

Marx war nicht nur ein Demokratieskeptiker. In dem neuen Buch »Marx als Demokrat« zeigt Alex Demirović: Marx wollte die demokratische Idee kollektiver Selbstverwaltung aus ihrer Erstarrung in bürgerlichen Institutionen befreien.

In Marx' Kritik an der bürgerlichen Demokratie findet sich eine utopische Vision kollektiver Selbstregierung.

In Marx' Kritik an der bürgerlichen Demokratie findet sich eine utopische Vision kollektiver Selbstregierung.

gemeinfrei

Wenn Trump horrende Zölle verkündet, EU-Staaten Grenzkontrollen verschärfen und die Regenbogenflagge nicht am Reichstagsgebäude gehisst werden soll, wird Kritik von links laut. Natürlich ist man dagegen, dass ein US-Präsident dem Rest der Welt in fürstlicher Manier Strafzahlungen aufdrückt. Natürlich will man nicht, dass Menschen daran gehindert werden, sich frei zu bewegen oder queeren Menschen symbolische Solidarität verwehrt wird. Wenn die Welt sich nach rechts neigt, müssen Linke standhaft sein.

Nur: Was verteidigen Linke in solchen Momenten eigentlich? Eine neoliberal globalisierte Welt des freien Personen- und Warenverkehrs? Einen bürgerlichen Staat, der Minderheiten von oben herab ein Existenzrecht gewährt? Den Status quo an sich? In Krisenzeiten stellt sich für viele Linke die Frage, ob man mit Vorbehalt für etwas einstehen kann, ohne damit die eigene Kritik zu untergraben. Und zugleich, ob man es sich in einer Zeit, in der nicht mal mehr Konservative und Sozialdemokraten noch überzeugt für die liberale Demokratie Partei ergreifen, leisten kann, diese aufzugeben.

Unverhofft finden sich dazu Denkanstöße in Alex Demirović’ neuem Buch Marx als Demokrat. Oder: Das Ende der Politik. Der Frankfurter Sozialwissenschaftler und Host des Podcasts tl;dr – too long didn’t read bietet einen kompakten Überblick über Karl Marx’ Gedanken zur Demokratie. Neben Demirović’ Aufsatz versammelt der schmale Band relevante Primärtexte von Karl Marx und Friedrich Engels zum Thema.

Gleich vorab muss gewarnt werden: Wer konkrete Gegenwartsanalysen und Handlungsanleitungen sucht, wird zwischen diesen zwei Buchdeckeln nicht fündig. Demirović’ Buch fliegt über weite Strecken auf theoretischer Flughöhe und lässt die drängenden Fragen besorgter Zeitgenossen unbeantwortet. Allerdings bietet diese Art des Nachdenkens den Luxus, sich freizumachen vom Gerede der Talkshows und Zeitungskommentare. Von Demirović’ Marx-Lektüre können wir lernen, dass es nicht darum geht, ein für alle Mal die richtigen Antworten auf die oben gestellten Fragen zu erlangen. Es geht nicht darum, auf der richtigen Seite zu stehen, eine widerspruchsfreie und slogantaugliche Position zur Demokratie zu finden. Vielmehr geht es darum, sich bei jeder neuen politischen Entscheidung zu fragen, ob hier demokratische Freiheitsräume geschaffen oder vernichtet werden. Es geht nicht darum, ob Demokratie draufsteht, sondern ob Demokratie drin ist.

Demokratische Doppelgesichtigkeit

Unverhofft ist diese Veröffentlichung, da Marx der Vorwurf anhaftet, er sei Anti-Demokrat, habe die Demokratie allein als Fassade bürgerlicher Herrschaft verstanden. Schließlich stellt er 1848 im Manifest der Kommunistischen Partei gemeinsam mit Engels fest: »Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.« Demirović möchte dieser voreiligen Lesart mit einer Gegenerzählung kontern. Ähnliches hatte zuletzt Bruno Leipold in Citizen Marx versucht. Entgegen klassischen Auffassungen präsentiert Leipold Marx als Republikaner. Nun zeigt Demirović ihn als Demokraten und seine Erzählung geht so: Marx war sowohl radikaler Verfechter als auch Kritiker der Demokratie. Der junge Marx war ein glühender Radikaldemokrat und stellte deshalb 1843 in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie fest: »Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen«. Gegen den deutschen Philosophen Hegel argumentiert er: Souverän sei nicht der Monarch, sondern das Volk – selbst in der Monarchie. Denn der Monarch, so formuliert es Demirović, »stellt ein undemokratisches Moment in einem der Möglichkeit nach demokratischen Prozess dar«.

Doch zunehmend kommen Marx Zweifel, die Erfahrungen der Revolution von 1848 und die darauffolgenden konterrevolutionären Entwicklungen verstärken diese nur. Er fragt sich, ob die Demokratie vielleicht gar nicht das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen, sondern vielmehr Instrument und Deckmantel bürgerlicher Herrschaft sei. Demirović zeichnet Marx’ Blick auf die Demokratie in dem Spannungsfeld zwischen Herrschafts- und Befreiungsinstrument in engem Dialog mit dessen Texten nach und bietet so ein präzises Bild der demokratischen Doppelgesichtigkeit.

»Durch ihre Veränderungsfähigkeit wird die bürgerliche Herrschaft besonders stabil.«

Es gibt unterschiedliche Gründe für Marx’ Zweifel am emanzipatorischen Potenzial der Demokratie. Zu Beginn nimmt er das liberaldemokratische Versprechen, dass das Volk (griechisch: demos) – und nicht das Bürgertum oder das Kapital – in der Demokratie herrscht, noch ernst. Aber später erkennt er es zunehmend als Illusion. Zunächst, weil die liberalen Demokratien historisch einen Aufstand des Bürgertums gegen den feudalen Adel und die Monarchie darstellten und das Volk dabei höchstens nützliches Beiwerk darstellte. In diesem Sinne versteht Marx den Parlamentarismus als »rationale Lösung« bürgerlicher Herrschaft. Die Bürgerlichen waren alles andere als überzeugte Demokraten, und sind es auch heute nicht immer. Aber der Parlamentarismus ermöglicht es, eine konflikthafte Einheit der »Gesamtbourgeoisie« zu bilden, die kollektiv über den Rest der Gesellschaft herrscht. Demirović formuliert das so: Der Parlamentarismus ist »von allen schlechten die am wenigsten schlechte« Regierungsform für die Bourgeoisie. Der Zugang zu den staatlichen Institutionen ist schließlich den bürgerlichen Klassen vorbehalten. Das gilt auch heute noch: 80 Prozent der Abgeordneten des Deutschen Bundestags haben studiert, ungefähr jeder fünfte ist Jurist.

Gleichzeitig schließt die Demokratie die Arbeitenden nicht gänzlich aus. Man billigt ihnen das allgemeine Wahlrecht, Parteien und den Wohlfahrtsstaat zu. Allerdings liegt darin kein ernstzunehmendes Mitbestimmungsrecht, sondern eine Festigung des kapitalistischen Systems, so Marx. Denn: Eine Demokratie kann durch ihre Parlamentsdebatten und Regierungswechsel, anders als etwa der Feudalismus, Veränderung integrieren. Deshalb ist sie, laut Demirović, eine »Herrschaftsform, die Stabilität und Dynamik miteinander verbindet«. Oder vielmehr: Durch ihre Veränderungsfähigkeit wird die bürgerliche Herrschaft besonders stabil.

Der neue autoritäre Kapitalismus 

Wie genau sich diese revolutionäre Kraft der Demokratie historisch manifestiert hat, führt Demirović nicht weiter aus. Aber die Geschichte hält viele Beispiele bereit, und die Gegenwart scheint Marx’ Beobachtung erneut zu belegen. Während die Kritik der 1968er-Bewegung am starren Fordismus einen progressiven, globalisierten Neoliberalismus hervorgebracht hat, führt die autoritäre Kritik an eben dieser neoliberalen Globalisierung heute zur Bildung eines neuen libertär-autoritären Regimes. Auf einen ökonomisch wie legitimatorisch schwächelnden Kapitalismus antwortet heute ein Projekt nationaler Härte. Nach außen wird die Nation abgeriegelt, um ein nationales Wir-Gefühl zu stärken und die Kritik am globalisierten Neoliberalismus zu besänftigen. Dadurch kann im Inneren umso leichter der Leistungsdruck erhöht werden, etwa indem die Grenzen der täglichen Arbeitszeit aufgeweicht und das Renteneintrittsalter erhöht werden soll. Kurzum: Ein neuer autoritärer Kapitalismus, den die AfD, zunehmend auch Teile der CDU befürworten, konkurriert mit dem alten Neoliberalismus, den CDU und SPD nur noch schwächlich verteidigen.

Während dieser rhetorisch scharf geführte Konflikt den Schein demokratischer Alternativen inszeniert, gerät aus dem Blick, wie wenig sich die Optionen eigentlich voneinander unterscheiden. Das Grundgerüst aus Profitmaximierung, Besitz- und Lohnverhältnissen kombiniert mit rassistischen Ausschlüssen bleibt unangetastet. Der Pluralismus der liberalen Demokratie entpuppt sich, in Demirović’ Worten, als einer der »graduellen Differenzen«, der »auf der Basis geteilter Prämissen« fußt. Ein ernsthafter Pluralismus würde radikal unterschiedliche, also auch nicht-kapitalistische Zukünfte denkbar machen. In einer bürgerlichen Demokratie passiert das, so Marx, wenn der Klassenkampf in das liberaldemokratischen Konsensspiel einbricht.

»Während die bürgerliche Politik allen Freiheit und Gleichheit zusichert, herrscht in ihrer Ökonomie Ungleichheit und Unfreiheit.«

Aber, könnte man einwenden: Die Demokratie verspricht doch allen, auch den Arbeitenden, Freiheit und Gleichheit. Aber nur vorgeblich, gibt Marx zu bedenken. Während die bürgerliche Politik allen Freiheit und Gleichheit zusichert, herrscht in ihrer Ökonomie Ungleichheit und Unfreiheit. Menschen ohne Besitz und Millionenerbe müssen ihre Arbeitskraft verkaufen und sind dabei den schwankenden Launen des Marktes unterworfen. Das stimmt umso mehr, wenn soziale Sicherungsnetze, wie gegenwärtig das Bürgergeld, geschwächt werden. Die Freiheit, einen schlechten Job abzulehnen, fehlt. Was hinter den Fabriktoren oder in der Bäckerstube passiert, straft das demokratische Versprechen also Lügen. Doch die Illusion der Freien und Gleichen, die ohne Zwang Arbeit und Waren tauschen, ist nicht einfach eine kontrafaktische Behauptung, sondern, so Marx laut Demirović, eine »alltagsreligiöse Praktik«. Sie stellt die notwendige Bedingung für den reibungslosen Ablauf des Kapitalismus dar.

Die Marx’sche Kritik zielt auf einen Kerngedanken: In der bürgerlichen Gesellschaft begegnen die Menschen einander und ihren Fähigkeiten nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch Parlament, Staat, Tausch und Geld. All das ist nach Marx, in Demirović’ Worten, »eine Traumwelt, die ihre Wirklichkeit nicht finden kann«. Die bürgerliche Demokratie ist ihr Luftschloss. Marx’ Utopie lautet hingegen, dass sich die Menschen die Fähigkeiten, mit denen sie heute den Staat und die Wirtschaft am Laufen halten, aneignen, um ein freieres Miteinander gestalten.

Dieser demokratische Kampf muss allerdings gegen die bürgerliche Demokratie geführt werden. Strategisch können dafür durchaus dessen Mittel genutzt werden: die Werte der Freiheit und Gleichheit oder das Parlament. Aus diesem Spannungsfeld des Demokratischen ergeben sich viele weitere Fragen, deren Antworten Marx wie auch Demirović schuldig bleiben: Wie genau kann der bürgerlichen Demokratie mehr Demokratie abgetrotzt werden, um ein freieres Miteinander zu erreichen? Was kann Demokratie jenseits ihrer liberaldemokratischen Verengung bedeuten? Der Untertitel des Buches kündigt ein »Ende der Politik« an: Aber gäbe es in einer postkapitalistischen Gesellschaft ohne Klassenunterschiede wirklich keine grundlegenden politischen Konflikte mehr?

Radikale Demokratie 

Diesen Fragen hat sich in kritisch-solidarischer Abgrenzung vom Marxismus in den 1980ern die radikale Demokratietheorie gewidmet. Zu ihren Stichwortgebern zählen etwa Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Anders als Marx verstehen sie die Demokratie nicht instrumentell – als »Ausschuss« der Bourgeoise oder als »Mittel« der Befreiung –, sondern als Selbstzweck. Demokratie ist für sie das politische Ringen um den »leeren Ort der Macht«, wie eine bekannte Formulierung des Radikaldemokraten Claude Lefort lautet. Historisch hält vor allem das Bürgertum diesen Ort besetzt, allerdings könnte sie auch vom Thron gestoßen werden. Politischer Konflikt wird hier als grundmenschlich verstanden, auch in einer postkapitalistischen Gesellschaft würde es ein Ringen um die Richtung geben, die über die Fragen der Ressourcenverwendung hinausgehen. Die Theorieschule versucht also, die demokratische Idee aus ihrer liberalen Verengung auf bürgerliche Rechte, Pflichten und Wahlen zu lösen und die Souveränität des Volkes gegenüber der des Kapitals zu behaupten. Wer »das Volk« ist, bleibt dabei eine Frage des politischen Kampfes.

Demirović fordert die radikaldemokratische Skepsis gegenüber Marx’ Demokratieverständnis heraus, indem er Marx’ Versuch offenlegt, die demokratische Idee »kollektiven Entscheidungen über die Gesamtheit der Lebensverhältnisse oder die freie Diskussion«, vor ihrer erstarrten Entfremdung in den bürgerlichen Institutionen zu retten. Doch obwohl Demirović diese Doppelgesichtigkeit des Marx’schen Blicks auf die Demokratie herausarbeitet, bleibt das kritische Gesicht weitaus konturierter als das utopische. In diesem Sinne bestätigt er die radikaldemokratischen Zweifel.

Einen Hinweis, in welche Richtung Marx’ utopischen Visionen zeigen, gibt Demirović gegen Ende doch noch. In der Pariser Kommune von 1871 sah Marx ein geglücktes Beispiel kollektiver Selbstregierung. Im Aufstand und der folgenden Selbstverwaltung der Pariser im Zuge des Deutsch-Französischen Kriegs entdeckte er, so Demirović, eine Gesellschaft, die »selbst und für sich selbst handelt, sich nicht durch den Staat vermitteln lässt, sondern den Staat in die Gesellschaft zurücknimmt«. Die Kommunarden verteilten leerstehende Wohnungen an Bedürftige und erprobten erste Ansätze der Selbstverwaltung von Fabriken.

Welches Verhältnis zur Demokratie Marx heutigen Linken anraten würde, lässt Demirović unbeantwortet. Im ersten Moment mag das unbefriedigend wirken. Auf den zweiten Blick lässt sich in der Leerstelle jedoch eine Antwort erkennen. Es geht nicht um die Frage, Demokratie ja oder nein. Sondern: Welche Demokratie, in welcher historischen Situation? Es ist mitnichten die Aufgabe der Linken, um jeden Preis liberaldemokratische Institutionen zu verteidigen. Aber es ist ihre Aufgabe, alles zu verteidigen und neu aufzubauen, was die demokratische Idee kollektiver Selbstverwaltung fördert – anstatt sie aufzugeben und den Bürgerlichen zu überlassen. Welche Kämpfe dafür gekämpft werden müssen, was realistisch ist und was nicht, muss in jeder historischen Situation neu entschieden werden. Heute mag es also darum gehen, Grenzkontrollen zu kritisieren, morgen hingegen könnte es schon darum gehen, die Grenzen abzuschaffen.

Julia Werthmann ist freie Journalistin. Ihre Texte sind unter anderem in der Zeit, dem Freitag und in der SZ erschienen.