31. Januar 2024
Kurz vor seinem Tod hatte Karl Marx seinen einzigen Kontakt mit der arabischen Welt. Er befasste sich nicht detailliert mit der Region, seine Schriften lassen durchaus Sympathie für den arabischen Kampf gegen den Kolonialismus erkennen.
Ein Plakat von Karl Marx aus dem Jahr 1920.
Im Winter 1882, gut ein Jahr vor seinem Tod, litt Karl Marx (unter anderem) an einer schweren Bronchitis. Sein Arzt empfahl eine Ruhephase an einem warmen Ort. Gibraltar kam nicht in Frage, da Marx für die Einreise in die britische Enklave einen Pass benötigte, den er als Staatenloser nicht mehr besaß. Das Deutsche Reich von Otto von Bismarck war verschneit und für ihn ebenfalls tabu. Italien kam nicht in Frage, denn, wie Friedrich Engels es ausdrückte, »die erste Bedingung für Genesende ist, dass sie nicht von der Polizei schikaniert werden sollten«.
Engels und Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Marx, überzeugten den Patienten letztlich, nach Algier zu reisen. Die Hauptstadt von Französisch-Algerien genoss damals den Ruf als angenehmes Ziel, um den Widrigkeiten des europäischen Winters zu entkommen. Wie sich Marx‘ Tochter Eleanor Marx später erinnerte, war für ihren Vater der ausschlaggebende Punkt für diese ungewöhnliche Reise aber, sich Zeit und Kraft für sein ohnehin wichtigstes Projekt zu verschaffen: die Fertigstellung des Kapital.
Marx durchquerte England und Frankreich mit dem Zug, reiste per Schiff über das Mittelmeer und blieb dann 72 Tage in Algier. Es war die einzige Zeit in seinem Leben, die er außerhalb Europas verbrachte. Im Laufe dieser gut zwei Monate verbesserte sich Marx‘ Gesundheitszustand allerdings nicht; und er litt nicht nur unter körperlichen Beschwerden. Nach dem Tod seiner Frau fühlte er sich einsam und schrieb an Engels, er beobachte an sich selbst »hier und da Anwandlungen einer [tiefen Melancholie], gleich dem großen Don Quijote«. Neben seines sich verschlechternden Gesundheitszustandes litt Marx offenbar auch am Mangel an intellektueller Betätigung.
Aufgrund einer Reihe von unerfreulichen Ereignissen während seines Aufenthalts war Marx nicht in der Lage, den sozialen Realitäten Algeriens auf den Grund zu gehen. Auch war es ihm nicht möglich, die Eigenarten des arabischen Gemeineigentum-Begriffs vor Ort näher zu untersuchen. Dabei hatte ihn dieses Thema offenbar schon einige Jahre zuvor sehr interessiert: 1879 hatte Marx in einem seiner Studienhefte Teile des Buches Der Gemeindelandbesitz – Ursachen, Verlauf und Folgen seines Zerfalls des russischen Soziologen Maxim Kowalewski übernommen. Die zitierten Passagen widmen sich der Bedeutung des gemeinschaftlichen Besitzes von Land in Algerien vor der Ankunft der französischen Kolonisten sowie den Veränderungen, die letztere einführten. Von Kowalewski kopierte Marx: »Die Bildung von Privateigentum an Grund und Boden ist – in den Augen der französischen Bourgeoisie – eine notwendige Bedingung für jeden Fortschritt in der politischen und sozialen Sphäre.« Eine Aufrechterhaltung des bisher praktizierten Gemeineigentums, »als eine Form, die kommunistische Tendenzen in den Köpfen unterstützt«, werde hingegen als »gefährlich sowohl für die Kolonie als auch für das Vaterland« der Kolonialherren angesehen.
Marx berief sich weiter auf Kowalewski: Die Übertragung von Landbesitz aus den Händen der Einheimischen in die der Kolonisten sei »von den Franzosen unter allen Regimen« verfolgt worden. Das Ziel sei dabei immer dasselbe: die Zerstörung »des einheimischen Kollektiveigentums und seine Verwandlung in ein Objekt des freien Kaufs und Verkaufs« – und auf diese Weise ein leichterer, endgültiger Übergang in die Hände der französischen Kolonisten.
»Marx hielt das Studium neuer politischer Konflikte und ›peripherer‹ Gebiete für fundamental wichtig für seine fortlaufende Kritik des kapitalistischen Systems.«
In Bezug auf die vom französischen Republikaner Jules Warnier vorgeschlagene »Algeriengesetze« schloss sich Marx der Behauptung Kowalewskis an, dass deren einziges Ziel »die Enteignung des Bodens der einheimischen Bevölkerung« durch die europäischen Kolonialherren und Spekulanten sei. Die Schamlosigkeit der Franzosen gehe dabei so weit, dass alles unkultivierte Land in bisherigem Gemeineigentum »direkt geraubt« oder in »Staatseigentum« umgewandelt wurde. Damit solle auch erreicht werden, dass die Gefahr von Wider- und Aufständen durch die einheimische Bevölkerung gebannt wird.
Wiederum mit den Worten Kowalewskis stellte Marx fest: »Die Schaffung von Privateigentum und die Ansiedlung europäischer Kolonisten unter den arabischen Stämmen würde das mächtigste Mittel sein, um den Prozess der Auflösung dieser Sippenverbände zu beschleunigen.« Die im Gesetz beabsichtigte Enteignung der arabischen Bevölkerung habe demnach zwei Zwecke: »1) den Franzosen so viel Land wie möglich zu verschaffen, und 2) die Araber von ihren natürlichen Bindungen an den Boden loszureißen, die letzte Kraft der so aufgelösten Sippenverbände zu brechen« und damit jede Gefahr einer Rebellion auszuschließen.
Marx stellte zusammenfassend fest, dass eine Individualisierung des Landbesitzes den französischen Invasoren nicht nur enorme wirtschaftliche Vorteile verschaffte, sondern auch ein politisches Ziel erreichte, nämlich die »Zerstörung der Fundamente« der lokalen Gesellschaft.
Als Marx im Februar 1882 in Algier weilte, zeigte ein Artikel in einer Tageszeitung die Ungerechtigkeiten des neu geschaffenen Eigentumssystems auf. Wie The News damals berichtete, konnte jeder französische Staatsbürger rund 100 Hektar algerisches Land erwerben – und das sogar, ohne Frankreich dafür verlassen zu müssen. Außerdem konnte dieses Land dann für bis zu 40.000 Francs an Einheimische »weiterverkauft« werden. Im Durchschnitt verkauften die Kolonisten jede Teilparzelle, die sie für 20-30 Francs erworben hatten, zu einem Preis von 300 Francs.
Aufgrund seiner Krankheit war Marx nicht in der Lage, das Thema eingehender zu studieren. In den sechzehn noch erhaltenen Briefen, die er aus Algerien schrieb, machte er dennoch einige interessante Beobachtungen. Besonders hervorzuheben sind diejenigen, die sich mit den sozialen Beziehungen unter den Muslimen vor Ort befassen: Marx war von einigen Merkmalen der arabischen Gesellschaft offenbar zutiefst beeindruckt. Für einen »echten Moslem«, kommentierte er, »unterscheiden solche Zufälle wie Glück oder Unglück Mohammeds Kinder nicht untereinander. Die absolute Gleichheit in ihrem gesellschaftlichem Umgang wird nicht beeinflusst. Im Gegenteil, nur wenn sie demoralisiert sind, werden sie dessen gewahr«. Auch die örtliche Politik sehe »Gefühl und Praxis absoluter Gleichheit« als wichtig an. Dennoch gingen sie nun »zum Teufel ohne eine revolutionäre Bewegung.«
»In seinem späten Leben befasste sich Marx mit nicht-europäischen Gesellschaften und prangerte unmissverständlich die verheerenden Auswirkungen des Kolonialismus an.«
In seinen Briefen wettert Marx verächtlich gegen die gewalttätigen Übergriffe und Provokationen der Europäer. Er schreibt von der »schamlosen Arroganz, Prätention und grausamer Moloch-Sühne-Wut gegenüber den ›unteren Rassen‹« und von Racheakten gegen jegliche Art der Rebellion. Er stellt auch fest, dass im Vergleich der kolonialen Besatzungen »die Briten und Holländer die Franzosen noch übertreffen«.
Mit Blick auf Algier selbst berichtet Marx an Engels von einem progressiven Richter namens Fermé, der Marx gegenüber von »einer Art Tortur [=Folter] zur Erpressung von Geständnissen von Arabern« gesprochen habe. Diese Folter geschehe »durch die heimische ›Polizei‹ (wie die Engländer in Indien)«, ohne dass Richter informiert seien. Weiter zitiert Marx Fermés Berichte: »Wenn Moritat [=Mord] durch eine Araberbande verrichtet wird, meistens zum Zweck des Raubs, richtig die wirklichen Missetäter nach einiger Zeit erwischt, gerichtet, geköpft werden, so genügt das der verletzten Kolonistenfamilie nicht zur Sühne. Sie verlangt obendrein mindestens noch ein halbes Dutzend unschuldiger Araber […]. Doch wissen wir, dass, wo ein europäischer Kolonist angesiedelt oder auch nur geschäftshalber unter den ›unteren Rassen‹verweilt, er im allgemeinen sich untastbarer betrachtet als der schöne [König] Wilhelm I.«
In ähnlicher Weise kommentierte Marx einige Monate später die britische Kolonialpräsenz in Ägypten. Der von britischen Truppen geführte Krieg 1882 beendete den sogenannten Urabi-Aufstand, der 1879 begonnen hatte, und ermöglichte es dem Vereinigten Königreich, ein Protektorat über Ägypten zu errichten. Marx war wütend auf die britischen Progressiven, die sich als unfähig erwiesen hätten, eine autonome Klassenposition aufrechtzuerhalten, und mahnte, die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter müssten der nationalistischen Rhetorik des Staates widerstehen.
Als Joseph Cowen, ein Parlamentsabgeordneter sowie Präsident des Genossenschaftskongresses – den Marx zuvor noch als »den besten der englischen Parlamentarier« bezeichnet hatte – die britische Invasion in Ägypten rechtfertigte, brachte Marx seine völlige Missbilligung zum Ausdruck. Zunächst schimpfte er auf die britische Regierung. Deren Verhalten sei eine besonders »schamlose hypokritisch-christliche Eroberung Ägyptens« – eine »Eroberung im tiefen Frieden!«.
»Marx war alles andere als eurozentrisch, und er war auch nicht ausschließlich auf den Klassenkonflikt ›fixiert‹, wie viele gerne behaupten.«
Gesonderte Kritik sparte er sich für den vermeintlichen »Radikalen« Cowen auf. In einer Rede am 8. Januar 1883 in Newcastle hatte Cowen seine Bewunderung für die »Heldentaten« der britischen Truppen und den »Glanz unserer militärischen Parade« zum Ausdruck gebracht; auch konnte er »nicht umhin, über die bezaubernde Aussicht auf all diese befestigten Offensivpositionen zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean zu lächeln – und obendrein ein ›afrikanisch-britisches Reich‹ vom Delta bis zum Kap!«. In Cowens Augen war ein Imperium »englischen Stils« geschaffen worden, das sich durch »Verantwortung« für die »heimischen Interessen« auszeichnete.
Marx spottete in Reaktion darauf, in Sachen Außenpolitik sei Cowen ein typisches Beispiel für »diese armen britischen Bourgeois«, die »seufzend mehr und mehr Verantwortlichkeiten im Dienst ihrer historischen Mission aufnehmen, vergebens sich dagegen sträubend«.
In seinem späten Leben befasste sich Marx mit nicht-europäischen Gesellschaften und prangerte unmissverständlich die verheerenden Auswirkungen des Kolonialismus an. Dies auszublenden ist unredlich, auch wenn es in liberalen akademischen Kreisen Mode geworden ist, Marx für seinen Eurozentrismus zu kritisieren.
Tatsächlich verfolgte Marx zu Lebzeiten die wichtigsten Ereignisse der internationalen Politik; und wie wir aus seinen Schriften und Briefen der 1880er Jahre ersehen können, sprach er sich entschieden gegen die britische Kolonialherrschaft in Indien und Ägypten wie auch gegen den französischen Kolonialismus in Algerien aus.
Marx war alles andere als eurozentrisch, und er war auch nicht ausschließlich auf den Klassenkonflikt »fixiert«, wie viele gerne behaupten. Vielmehr hielt er das Studium neuer politischer Konflikte und »peripherer« Gebiete für fundamental wichtig für seine fortlaufende Kritik des kapitalistischen Systems. Vor allem aber stellte sich Karl Marx immer auf die Seite der Unterdrückten – und gegen die Unterdrücker.
Marcello Musto ist Autor von »Another Marx: Early Manuscripts to the International« und »The Last Years of Karl Marx: An Intellectual Biography«. Er hat mehrer Sammelbände herausgegeben, unter anderem »The Marx Revival: Key Concepts and New Interpretations«.