27. September 2022
Karl Schirdewan war ein offener Kritiker Walter Ulbrichts. Er forderte einen Bruch mit dem Stalinismus – und wurde dafür aus dem SED-Politbüro verdrängt.
Karl Schirdewan, 1952.
Deutsche Fotothek, CC BY-SA 3.0 deAls im Juni dieses Jahres die Partei DIE LINKE einen neuen Vorsitz wählte, tauchte zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten der Name Schirdewan wieder in der Führungsriege einer deutschen sozialistischen Partei auf. Obwohl er in der heutigen Linken fast vergessen ist, verkörperte der kommunistische Funktionär und spätere zweite Mann der DDR Karl Schirdewan sowohl die großen Hoffnungen als auch tiefen Widersprüche des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden.
Als Opfer der Nazi-Diktatur widmete er sich nach dem Krieg dem Aufbau eines neuen, demokratischen und sozialistischen Deutschlands. Als dieses Deutschland zunehmend daran scheiterte, seinen eigenen Ansprüchen gerecht zu werden, gehörte er zu den profiliertesten Befürwortern von Reform und Transformation – eine Tugend, die ihm seine politische Karriere kosten sollte.
Karl Schirdewan wurde am 14. Mai 1907 in Stettin geboren. Seine Mutter übergab ihn an eine Breslauer Pflegefamilie namens Schirdewan, die ihn adoptierte. 1923 schloss er die Mittelschule ab. Da es ihm versagt blieb, seinen Wunschberuf Buchhändler zu erlernen, ging er in einer Getreidehandlung in die Lehre. Später arbeitete er auch als Laufbursche, Bürogehilfe und Transportarbeiter.
Als 16-Jähriger wurde er Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD). Ab 1927 arbeitete er hauptamtlich in der Kommunistischen Partei (KPD). 1933 ging er in den Untergrund, wurde aber 1934 wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach Verbüßung der Strafe wurde er zunächst ins KZ Sachsenhausen und später ins KZ Flossenbürg gebracht, zusammen mit vielen anderen politischen Häftlingen. Die Freiheit erlebte er erst mit Kriegsende.
Seine Erfahrungen während dieser Zeit – die Gemeinschaft und die tiefe Überzeugung vom kommunistischen Ziel, die er mit seinen Genossen teilte – prägten ihn jedoch sein Leben lang.
Nachdem Schirdewan kurzzeitig für die KPD in Bayern tätig gewesen war, wechselte er noch 1945 in die Parteizentrale nach Berlin. Es folgte ein Aufstieg über mehrere Stationen: Nach der Parteifusion von KPD und SPD in der sowjetisch besetzten Ostzone wurde er Mitarbeiter im Zentralsekretariat der Sozialistischen Einheitspartei (SED). Ein Jahr später stieg er zum Leiter einer Arbeitsgruppe zum »Studium der illegalen Parteigeschichte« auf, die die Arbeit in Westdeutschland organisierte; 1949 wurde er Leiter der Westkommission beim Parteivorstand der SED und 1952 Erster Sekretär der SED-Landesleitung Sachsen. Nach der Verwaltungsreform im gleichen Jahr, die die Aufteilung der DDR in vierzehn Bezirke vorsah, übernahm er die Leitung für den Bezirk Leipzig.
Im Mai 1953 wurde Schirdewan ins Politbüro kooptiert, die höchste Machtinstanz im jungen sozialistischen Staat. Nach dem 17. Juni 1953, als Massenstreiks und Demonstrationen die DDR fast zum Erliegen brachten, wurde er auch noch Mitglied des Sekretariats des Zentralkomitees (ZK). Dort verantwortete er Kader-und Sicherheitsfragen der SED-Führung und galt bald als der zweite Mann nach Walter Ulbricht, der 1945 von Moskau nach Berlin verordnet worden war, um den Wiederaufbau von kommunistischer Seite zu leiten.
Bis hierher gleicht der Lebenslauf Karl Schirdewans dem anderer führender Funktionäre der SED. Sozialisiert in den harten Auseinandersetzungen der Weimarer Republik und gestählt durch die Repression der Nazis, fungierte er nach dem Krieg als zuverlässiger und loyaler Parteisoldat. Doch ab Mitte der 1950er Jahre beschränkte sich Schirdewan nicht mehr darauf, bloß seine Funktion als zweiter Mann auszufüllen. Er dachte und handelte selbständig und geriet so in Konflikt mit Ulbricht – ein Konflikt, der ihm letztendlich seine politische Karriere und damit sein Lebenswerk kosten sollte.
Der Konflikt bezog sich in seinem Wesen auf die Frage, wie die sozialistische Gesellschaft aussehen sollte. Er entzündete sich nach dem berüchtigten Zwanzigsten Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), dem großen Bruder und ideologischen Vorbild für alle Kommunisten in der DDR, der vom 14. bis 25. Februar 1956 im Großen Kremlpalast in Moskau stattfand.
Kaum jemand ahnte, dass der erste Parteitag nach dem Tode Jossif W. Stalins am 5. März 1953 so große Wellen schlagen würde. Zur Abordnung der SED, die nach Moskau reiste, gehörten Walter Ulbricht, Otto Grotewohl, Karl Schirdewan und Alfred Neumann, Kandidat des Politbüros. In der Grußbotschaft des ZK der SED anlässlich des Parteitags hieß es noch: »Es lebe die unbesiegbare Lehre von Marx, Engels, Lenin und Stalin!«
Auf dem Parteitag wurde eine Vielzahl von Aussagen getroffen, die zu Stalins Lebzeiten völlig undenkbar gewesen wären. Der Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, erstattete den Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit des ZK an den Zwanzigsten Parteitag. Bei der Charakterisierung der Weltlage hielt sich Chruschtschow noch an Stalins Linie: Der Sozialismus sei aus dem Rahmen eines einzelnen Landes herausgetreten und zu einem Weltsystem geworden. Das gleichzeitige Bestehen zweier konkurrierender Weltwirtschaftssysteme, die sich nach verschiedenen Gesetzen und in entgegengesetzte Richtung entwickelten, sei zu einer unabänderlichen Tatsache geworden. Es sollte bis 1974 dauern, bis Moskau begriff, dass es nur eine Weltwirtschaft gab und dass die Vorstellung eines sozialistischen Weltwirtschaftssystems eine Illusion geblieben war.
Chruschtschow nannte zur Untermauerung seines überaus optimistischen Bildes Vergleichszahlen zur Industrieproduktion der UdSSR und der kapitalistischen Länder. Demzufolge sei die sowjetische Industrie seit 1929 um 2049 Prozent gewachsen, die der kapitalistischen Länder »nur« um 193 Prozent. Durch solche Vergleiche sollte die Entwicklung der UdSSR als reine Erfolgsgeschichte dargestellt werden.
Doch Chruschtschow ließ es hierbei nicht bewenden. Ohne Stalin zu erwähnen, korrigierte er dessen These, dass der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in der Lage sei, die Produktivkräfte zu entwickeln. Das Gegenteil sei der Fall. Überraschend war auch der neue Tonfall, den Chruschtschow gegenüber der Sozialdemokratie anschlug. Es sei jetzt eine Situation herangereift, die eine Zusammenarbeit mit Sozialdemokraten erfordere und möglich mache. Eine Zusammenarbeit sei auch mit jenen Kräften der sozialistischen Bewegung möglich, die andere Ansichten als die KPdSU über den Übergang zum Sozialismus verträten. Chruschtschow erklärte, dass dieser Übergang verschiedene Formen annehmen werde. Auch der parlamentarische Weg sei vorstellbar. Mit dieser These brach er auf radikale Weise mit dem Stalinismus.
Chruschtschow äußerte sich auch zur deutschen Frage. Er hielt sie für lösbar, wenn ein System der kollektiven Sicherheit in Europa geschaffen würde, das den Interessen aller großen und kleinen Länder entspräche und den Weltfrieden zuverlässig garantierte: »Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa, Verzicht auf die Pariser Verträge, Annäherung und Anbahnung einer Zusammenarbeit zwischen den beiden deutschen Staaten – das ist der Weg zur Lösung des Deutschlandproblems.«
Chruschtschow trat für die Einstellung der Experimente mit Wasserstoffbomben ein und unterstrich, dass die Sowjetunion die Absicht verfolge, einen Freundschaftsvertrag mit den USA abzuschließen. Er betonte den hohen Stellenwert einer friedlichen Koexistenz zwischen den beiden Systemen. Welches das bessere System sei, müsse sich im Rahmen des friedlichen wirtschaftlichen Wettbewerbs erweisen. Im Unterschied zu Stalin, der einen dritten Weltkrieg für unvermeidlich hielt, ging Chruschtschow davon aus, dass Kriege verhindert werden könnten.
Mit seiner Intervention wirbelte Chruschtschow die sowjetische Politik durcheinander. Auf Stalin wurde vorerst nicht direkt eingegangen. Seine Regierungszeit wurde mit dem Terminus »Personenkult« umschrieben, der zu »Willkür« und »falschen Entscheidungen« geführt habe. Durch die Wiederherstellung der kollektiven Führung seien diese Mängel aber behoben worden. Chruschtschow pries die Autorität Lenins und des Marxismus-Leninismus als rundum vollendeten Theoriesystem. Auf den neunzehn Sitzungen des Parteitages kamen die Verwerfungen in der sowjetischen Gesellschaft und die zahlreichen Verbrechen in der Ära Stalins nicht direkt zur Sprache. Nach zehn Tagen nahm der Parteitag die üblichen Beschlüsse an.
Normalerweise hätte der Parteitag damit zu Ende sein müssen. Doch das Präsidium der KPdSU hatte anderes arrangiert. Es hatte am 9. Februar den 70 Seiten umfassenden Bericht der Pospelow-Kommission über den Personenkult und seine Folgen erörtert. Wegen der Brisanz des Materials wurde beschlossen, den Bericht dem Parteitag am 25. Februar in geschlossener Sitzung vorzulegen.
Die Rede Chruschtschows am 25. Februar löste bei den Mitgliedern der kommunistischen und Arbeiterparteien weltweit einen Schock aus. Gemildert wurde er nur dadurch, dass die härteste Kritik am »Personenkult« hinter verschlossenen Türen geäußert wurde. Von Bruderparteien entsandte Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden beauftragt, den Wortlaut der Chruschtschow-Rede nicht bekannt zu machen.
Als Teilnehmer des Parteitags schilderte Karl Schirdewan, wie Walter Ulbricht versuchte, den Moment hinauszuzögern, zu dem die Parteimitglieder über die Geheimrede Chruschtschows informiert werden würden. Zunächst sollten Instruktionen der KPdSU abgewartet werden. Im Politbüro herrschte große Unsicherheit.
Wie wenig Ulbricht die in Moskau an Stalin geübte Kritik akzeptierte, ließ er bisweilen in Bemerkungen durchscheinen, die er aber nicht für die Veröffentlichung freigab. So stellte er auf einer Parteiaktivtagung der Humboldt-Universität am 13. Juni 1956 fest: »In der Tat, selbst wenn man alle Fehler nimmt, die unter Stalins Führung in der Sowjetunion begangen wurden, oder Fehler, die in den Volksdemokratien begangen worden sind … so sind doch die Sowjetdemokratie und die Volksherrschaft in den volksdemokratischen Ländern tausendmal demokratischer als das verruchte System der Diktatur des Monopolkapitals in Westdeutschland, wo nur das Recht des Monopolkapitals besteht.«
Erst auf der dritten Parteikonferenz der SED im März 1956 kam Ulbricht nicht mehr umhin, den Text der Geheimrede von Schirdewan vorlesen zu lassen. Der Text sollte schnell verlesen werden, damit niemand Notizen machen konnte, lautete Ulbrichts Anweisung. Einige Passagen sollten übergangen werden.
Schirdewan hielt sich nicht an die Instruktionen des Vorsitzenden. Im Protokoll der Parteikonferenz erschien der Text jedoch nicht, wohl aber Schirdewans nachfolgende Rede, die jedoch eher einem Kommentar glich, der dazu diente, der Geheimrede Chruschtschows ihre Sprengkraft zu nehmen. Eine gekürzte Fassung seiner Rede erschien im Neuen Deutschland erst am 20. Juni 1956.
Die Schlussfolgerungen, die das Politbüro am 17. April 1956 für die eigene Arbeit zog, lauteten gemäß der Mitschrift von Otto Grotewohl folgendermaßen: »Die Weiterentwicklung der schöpferischen Arbeit des Politbüros erfordert, dass die Mitglieder des Politbüros auch in der Öffentlichkeit zu Parteifragen, politischen und ökonomischen Fragen auftreten und mitarbeiten bei der Kontrolle der Beschlüsse [...]. Die Mitglieder des Politbüros treten öfter gemeinsam auf Veranstaltungen auf. Gemeinsame Konferenzen, die gemeinsam vom Partei- und Staatsapparat einberufen sind, werden vom 1. Sekretär des ZK und vom Vorsitzenden des Ministerrats geleitet.« Dass dies Schirdewan zu läppisch und als reine Formalie erschien, darf nicht verwundern, zumal Ulbricht weiter danach trachtete, auch künftig alle Fäden in seiner Hand zu behalten.
Schirdewan pflegte mit Otto Grotewohl und Ernst Wollweber ein freundschaftliches Verhältnis. Gerhard Ziller und Fritz Selbmann kannte er aus der illegalen Arbeit im Untergrund nach 1933 und in den KZs Sachsenhausen und Flossenbürg. Auf ihre Unterstützung konnte er zählen, wenn er sich gegen Engstirnigkeit und Dogmatismus wandte.
Auch verschloss er sich nicht dem Gespräch über Fragen der sozialistischen Demokratie mit solchen bürgerlichen Politikern wie Johannes Dieckmann und Manfred Gerlach (beide Mitglieder der Liberal-Demokratischen Partei – LDPD). Von Erich Honecker, der Ulbrichts Worte stets getreu nachbetete, hielt Schirdewan wenig. Honecker, der die 1952 abenteuerlich gescheiterte Aktion »Dienst für Deutschland« gegründet hatte, lehnte Schirdewan ab.
Am Rande der Beerdigung von Boleslaw Bierut Ende März 1956 in Warschau hatte ihn Nikita Chruschtschow gefragt, warum in der DDR so starr an die Auswertung des Zwanzigsten Parteitages der KPdSU herangegangen werde. Schirdewan hatte geantwortet, dass auf das Dokument »Geheimrede Chruschtschows« der Vermerk »erledigt« gestempelt worden sei.
Die Hoffnungen auf eine starke Reformbewegung nach dem Zwanzigsten Parteitag der KPdSU kommentierte Schirdewan wie folgt: »Eine Demokratisierung im Lande war aber ohne Demokratisierung der Partei nicht möglich. Deshalb musste mit der Reform der Partei begonnen werden, mussten Verfälschung und Missbrauch der sogenannten ›führenden Rolle der Partei‹ aufhören. Das bedeutete nicht nur die formale Abschaffung des Personenkults. Das war eine Sache, die sich relativ schnell korrigieren ließ. Es ging vor allem um die Herstellung der innerparteilichen Demokratie, um die Beseitigung des erstarrten demokratischen Zentralismus, der zum Instrument persönlicher Machtausübung in fast allen Führungsebenen der Partei geworden war.«
Schirdewan sollte nicht nur Ulbricht überleben, sondern auch nach Jahren, in denen er zum Schweigen verdammt war, die Gelegenheit bekommen, ausführlich zu den damaligen Ereignissen Stellung zu nehmen. Erst 1990 wurde die schriftliche Stellungnahme unter dem Titel Der Aufstand gegen Ulbricht veröffentlicht, die Schirdewan zur Rechtfertigung seines Verhaltens am 1. Dezember 1958 verfasst hatte. Ihm war damals vorgeworfen worden, er habe sich kurzsichtig gegenüber der westlichen Propaganda verhalten und die Beschlüsse des Zwanzigsten Parteitags der KPdSU opportunistisch ausgelegt. Ferner wurde ihm auch die Bildung einer Fraktion unterstellt, was im Statut der SED strengstens untersagt war. Der Text war für die Mitglieder des ZK gedacht gewesen. Er wurde ihnen aber vorenthalten.
In seinem Buch beantwortete Schirdewan viele der Fragen, die ihm von Journalisten und Historikern immer wieder gestellt wurden. Er konzentrierte sich dabei auf seine Erfahrungen im Politbüro und im Zentralkomitee der SED. Im Kern ging es ihm bei seinen Bemühungen in den 1950er Jahren um eine Kurskorrektur und seine Positionierung gegen eine dogmatische und stalinistische Politik. Seine Autobiographie erschien 1998 posthum. In ihr bezog er sich häufig auf den Aufstand gegen Ulbricht, um Wiederholungen zu vermeiden und vertiefte seine Analyse von Politik und Gesellschaft der DDR.
Aus Schirdewans Schriften spricht ein selbständig denkender und handelnder Kommunist. Schon zu Zeiten des Strategiekonflikts zwischen den KPD-Anführern Ernst Thälmann und Heinz Neumann war er zu der Einsicht gelangt, dass »die Kommunisten die Verteidigung der Reichsverfassung trotz all ihrer Mängel stärker in den Mittelpunkt (ihrer) Anstrengungen hätten stellen und mit ihren Mitgestaltern aus dem bürgerlich-liberalen Parteispektrum hätten zusammenwirken sollen.«
Auf dem Höhepunkt seines politischen Wirkens in der DDR Mitte der 1950er Jahre galt Schirdewan als getreuer Untergebener Ulbrichts. In seinen Memoiren erklärt er, wie er zu diesem Image gekommen war. Ende Januar 1953 zum Beispiel hatte Ulbricht im Alleingang die Einstellung der Tätigkeit der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) durchgesetzt. Als perfiden Zug wertete Schirdewan, dass Ulbricht zwei erklärten Gegnern der VVN-Auflösung, Franz Dahlem und ihm selbst, die öffentliche Exekution des Beschlusses zuschob. Dahlems Einfluss war nicht mehr hinreichend groß und Schirdewans noch nicht so ausgeprägt, als dass sie sich ihm wirksam hätten widersetzen können. Solche Episoden erklären, warum Schirdewan bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre sowohl innerhalb der SED als auch unter kritischen Intellektuellen als getreuer Vasall Ulbrichts wahrgenommen wurde.
Die oben beschriebene Methode wandte Ulbricht selbst noch im Herbst 1956 an, zu dieser Zeit aber mit der Absicht, Schirdewan zu demontieren. Helmut Müller fand es angesichts der Auseinandersetzungen im Politbüro bemerkenswert, dass Schirdewan auf der 29. Tagung des ZK der SED am 12. November 1956 den Bericht des Politbüros über die Situation in den sozialistischen Nachbarländern erstatten durfte.
Später wurde klar, dass Schirdewan hier aufs Glatteis geführt worden war. Schon am Entwurf des Berichts wurde kritisiert, dass er die Lage falsch bewertete. Die NATO-Politik zur Unterminierung der DDR sei unterschätzt und stattdessen viel über Demokratisierung geredet worden. Im Bericht hatte sich Schirdewan zu der spontanen Bemerkung hinreißen lassen: »Ich möchte nicht, das es Ulbricht wie Rákosi ergeht.« An dieser Stelle beobachtete Schirdewan die Reaktion von Staatspräsident Wilhelm Pieck: »Da schaute er auf, ganz erstaunt. Ich möchte sagen mit einer gewissen Zufriedenheit, endlich steht mal einer auf.« Der ungarische Parteiführer Rákosi war 1956 gestürzt und in eine sowjetische Provinzstadt verbannt worden.
Der Vergleich mit dem Stalinisten Rákosi machte deutlich, wie Schirdewan Ulbrichts Regierungsführung bewertete: »Ulbricht war ein politischer Pauker, ein Doktrinär, Sektierer, trotz der Fähigkeit, immer wieder zu organisieren, Neues zu erfinden, neue Ideen zu haben.« Bei diesem Vergleich hatte er in offizieller Position als Berichterstatter des Politbüros zu erkennen gegeben, dass er keineswegs der Anhänger Ulbrichts war, als der er vielen bis dato erschienen war. Aufmerksame Zeitzeugen hätten dies bemerken können, doch bis heute gilt Schirdewan unter manchen DDR-Forschern als »Ulbricht-Vasall«.
Der Philosoph Guntolf Herzberg schrieb in seinem Buch über die intellektuelle Opposition in der DDR über Schirdewan, dass er in der Öffentlichkeit nicht als Reformer und Gegenspieler Ulbrichts erkennbar war. Doch auch Herzberg stellte nicht klar, dass dieser Eindruck trog. Es folgt kein Hinweis auf Heinz Brandts Memoiren, in denen geschildert wird, dass sich Schirdewan mit Chruschtschow über die Modalitäten eines Sturzes Ulbrichts abgestimmt hatte. Das eigentliche Problem bestand darin, dass zwischen Schirdewan und Gleichgesinnten im Politbüro und den intellektuellen Oppositionsgruppen keine Koordination stattfand.
Über die Konflikte im Politbüro von 1956 ist nur wenig bekannt. In seiner Autobiographie widmete Schirdewan Otto Grotewohl einen eigenen Abschnitt. Über ihren Dialog führt er aus: »Wir beide vermissten in der Parteiführung die Psychologie, waren wir doch der Ansicht, dass jede Parteiführung psychologische Grundsätze beachten müsse. Grotewohl war gegen jede Radikalität beim Aufbau unserer Gesellschaft. Er war überzeugt, dass eines Tages spezifische Formen der Demokratie in die bestehenden Formen der Diktatur des Proletariats eingebaut werden könnten.«
In einem Gespräch, das ich 1993 am Rande eines Potsdamer Kolloquiums mit Karl Schirdewan führte, sagte er mir, dass es ein Irrtum sei, anzunehmen, dass er selbst nach einem Sturz Ulbrichts an die Macht gekommen wäre. Auf die Frage, wer stattdessen auf Ulbricht gefolgt wäre, antwortete er: Heinrich Rau. Für mich war diese Antwort ein Hinweis darauf, dass sich die Machtkonstellation 1956 differenzierter gestaltete, als ich bis dahin angenommen hatte. Rau, ein hochprofessioneller Wirtschaftsfachmann im Politbüro, muss also in die Pläne für den Fall eines Sturzes von Ulbricht ebenfalls eingeweiht gewesen sein. Ich vermute, dass Schirdewan sich nach der Wende nicht mehr vollständig an die damaligen Ereignisse erinnerte und sich vielleicht auch nicht erinnern wollte, aus Achtung vor der Privatsphäre anderer Genossen.
Am meisten engagierte sich Schirdewan für eine Reform der Jugendpolitik der SED. Vor allem Jugendliche waren nach den Enthüllungen über Stalin in eine psychologische Krise geraten. Bei der Arbeiter- und Landjugend wurde sie noch mit den herkömmlichen Formen der Jugendpolitik einigermaßen beherrscht. Doch unter Studentinnen und Studenten war die Situation sehr viel volatiler.
Am 9. Mai 1956 informierte Kurt Hager Ulbricht über Debatten unter Studenten, die sich auf einige der im gesellschaftswissenschaftlichen Studium vermittelten Dogmen bezogen. Auch unter Wirtschaftswissenschaftlern herrsche eine allgemeine Unsicherheit in Bezug auf die Lage des Kapitalismus, besonders in Westdeutschland.
Die »Unsicherheiten« betrafen nach Einschätzung Hagers vor allen Dingen drei Themenbereiche: Die anhaltende Konjunktur lasse Zweifel an der Richtigkeit der marxistischen Krisentheorie aufkommen und die Entwicklung des Reallohnes widerspreche der Theorie von der absoluten Verelendung. Zudem werde auf Grund der nationalen Bewegungen in den kolonialen und halbkolonialen Ländern die Schlussfolgerung gezogen, dass die Leninsche Lehre von der führenden Rolle des Proletariats im Befreiungskampf gegenüber dem Imperialismus überholt sei.
Anstatt danach zu fragen, wo eine Überprüfung des sowjetischen Lehrbuchwissens aus der Stalinperiode erforderlich sei, führte Hager die Diskussionen unter den Studenten auf die »Schwankungen« bei den Professoren zurück. Viele Studentinnen schrieben in den Vorlesungen nicht mehr mit, sie hielten die marxistische Theorie für überholt und verhielten sich zynisch gegenüber dem Lehrstoff.
Im Gegensatz zu Hager drängte Schirdewan auf Veränderungen der Hochschulpolitik. Im Oktober 1956 kam es zu einer studentischen Bewegung an der Mehrheit der Universitäten und Hochschulen der DDR. In den Diskussionen forderten die Studenten die Abschaffung des obligatorischen Russischunterrichts zusammen mit dem obligatorischen gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium, die Bildung eines selbständigen Studentenverbandes, die Überprüfung der Pflichtstundenzahl, vor allem in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern und schließlich eine Neuorientierung der Arbeit der Massenorganisationen unter den Studenten, da viele die FDJ für überflüssig hielten.
Auf Schirdewans Initiative fasste das SED-Politbüro am 30. Oktober 1956 den Beschluss, einen Studentenrat zu bilden, der allerdings unter dem Eindruck der Tragödie von Budapest bereits am 2. November wieder aufgehoben wurde. Dieser Vorgang kann als Zäsur und als Beginn einer Absage der SED an eine Reformpolitik angesehen werden. Von nun an erlangten die Gegner von Veränderungen in der SED-Führung Schritt für Schritt Oberwasser.
Zwar kam es auf der 29. Tagung des ZK der SED 1956 noch zur Bildung einer Jugendkommission des Politbüros unter Leitung von Schirdewan, doch war dieser schon zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Herr der Lage. Helmut Müller, der damals im Zentralrat der FDJ arbeitete, beschreibt das Dilemma treffend: »Unsere fast ausschließliche Beschäftigung bestand im Beschreiben von Papier. Ohne Übertreibung umfassten die x verschiedenen Entwürfe für das Referat, den Beschluss und das Studentenprogramm mehrere tausend Seiten. Immer wieder wurden Karl Namokel, das Sekretariat oder einzelne Sekretäre zu Karl Schirdewan gerufen, nach meinen Aufzeichnungen mindestens ein Dutzendmal in den vier Monaten, wo er uns passagenweise, scheinbar aus dem Stehgreif, die Fassungen des Beschlussentwurfs diktierte. Was am Montag seine Linie war, hatten wir am Donnerstag falsch aufgeschrieben. Diese Zeit war nicht nur die unproduktivste in meiner gesamten Tätigkeit, sie war auch entnervend. Wir standen am Rande der Resignation.«
Auch als Vorsitzender der Jugendkommission des Politbüros konnte Schirdewan keine undogmatische Jugendpolitik mehr auf den Weg bringen, weil nach der Invasion Ungarns in der DDR keine Chance für den »Bruch mit dem Stalinismus« mehr bestand. Moskau stand nun wieder fest hinter Ulbricht. Schirdewan spürte von Tag zu Tag deutlicher, dass sich die Lage zu seinen Ungunsten wendete.
In der Auseinandersetzung um die Jugendpolitik wurde Schirdewan von Ulbricht regelrecht ausgetrickst. Während Schirdewans Jahresurlaub in der Sowjetunion lud Ulbricht hinter dessen Rücken den Zentralrat der FDJ zu sich ein. Das Ergebnis: Am 25. April 1957 wurde – gewissermaßen aus heiterem Himmel ‒ von der 16. Zentralratstagung der Charakterwandel der FDJ verkündet, sie habe sich von einer »antifaschistisch-demokratischen« zu einer »sozialistischen Jugendorganisation« entwickelt. Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion ließ Schirdewan seine Verärgerung spüren: »Da hättet ihr auch gleich einen KJVD [kommunistischen Jugendverband] gründen können.«
Auf der 35. Tagung des ZK der SED im Februar 1958 rechnete Ulbricht öffentlich mit Schirdewan ab. Schirdewan war mit »strenger Rüge« in Ungnade gefallen, aber er fiel dank Chruschtschow nicht ins Bodenlose. Die Staatliche Archivverwaltung war nun bis 1965 sein Tätigkeitsfeld. Treffend kommentierte Jens-F. Dwars: »Ein Bahnbrecher der Zukunft wurde zum Hüter der Vergangenheit degradiert, vom Aussichtsturm der Führung in den Keller der Geschichte verbannt.«
Lügen haben bekanntlich kurze Beine. Wir wissen heute, dass die Liste der 1958 gegen Schirdewan erhobenen Vorwürfe konstruiert war, weshalb ihn die PDS 1990 zu Recht rehabilitierte. Er verstarb am 14. Juli 1998.
Wie die DDR-Intellektuellen Walter Janka, Gustav Just und Wolfgang Harich dachte Schirdewan über eine Weiterentwicklung des Sozialismus nach, einem Sozialismus frei von den Verbrechen und Fesseln des Stalinismus. Die Schlüsse, die er auf dem Kenntnisstand des Jahres 1956 zog, erscheinen zwar aus heutiger Sicht nicht konsequent genug, aber wir urteilen ein halbes Jahrhunderts später und wir können uns dabei auch auf die Erkenntnisse stützen, die er nach der Wende publiziert hat.
Karl Schirdewan hat in den Jahren 1956 und 1957 gegenüber Walter Ulbricht Haltung bewiesen, wofür er teuer bezahlen musste. Er war bereit, seine Ansichten an der Realität zu messen und sie gegebenenfalls entsprechend zu ändern, womit er heutigen Sozialistinnen und Sozialisten als Vorbild dienen kann. Diese Bereitschaft zu Offenheit und Selbstkorrektur ist auf dem Wege zu einem demokratischen Sozialismus unverzichtbar.
Siegfried Prokop ist emeritierter Professor für Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.