19. Januar 2025
Vor drei Jahren wurde die zentralasiatische Republik von Massenprotesten erschüttert, die mit Gewalt niedergeschlagen wurden und als »blutiger Januar« in die Geschichte eingingen. Präsident Tokajew versprach daraufhin umfassende Reformen – doch der politische Aufbruch blieb aus.
Demonstrierende protestieren vor der ausgebrannten Stadtverwaltung in Almaty, Kasachstan, 5. Januar 2022.
Am 2. Januar 2022 brachen im Westen Kasachstans Proteste aus. Ausgelöst durch einen drastischen Anstieg der Flüssiggaspreise, weiteten sie sich innerhalb kürzester Zeit auf das ganze Land aus und entwickelten sich zur größten politischen Krise in der Geschichte des unabhängigen Kasachstans.
Bereits vier Tage nach Beginn der Unruhen marschierten Truppen der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) in Almaty, der größten Stadt des Landes, ein, um an »friedenserhaltenden Maßnahmen« teilzunehmen. Gleichzeitig traten eine Reihe von hochrangigen Staatsfunktionären, unter anderem der langjährige Staatschef Nursultan Nasarbajew, zurück und übertrugen die Macht an den bisher eher symbolisch regierenden Präsidenten Qassym-Schomart Tokajew. Am 7. Januar erklärte Tokajew, die Ordnung sei wiederhergestellt, und am 19. Januar wurden die letzten russischen Truppen abgezogen. Laut offiziellen Angaben kamen bei den Unruhen 238 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen in der Hauptstadt.
Die Proteste lenkten internationale Aufmerksamkeit auf Kasachstan und offenbarten die tiefen Risse in einem postsowjetischen Land, das trotz wirtschaftlichen Wachstums von massiver sozialer Ungleichheit, autoritärer Herrschaft und einer starken Abhängigkeit von ausländischem Kapital geprägt ist. Im Gespräch mit JACOBIN erklärt der kasachische Ökonom Kuat Akischanow, wie sich die sozioökonomischen und politischen Rahmenbedingungen Kasachstans in den drei Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit – und insbesondere seit den Protesten von 2022 – verändert haben und wie der Neoliberalismus das Land in ein neokoloniales Regime verwandelte.
Könnten Sie uns einen kurzen Überblick über die politisch-ökonomische Transformation Kasachstans seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geben?
Kasachstan erlebte nach dem Zerfall der Sowjetunion eine umfassende neoliberale Transformation. Bereits in den ersten Jahren der Unabhängigkeit implementierte das Land ein Programm zur strukturellen Umgestaltung, das sich am »Handbuch« des Washingtoner Konsenses orientierte. Dazu gehörten Maßnahmen wie die Schocktherapie der Preisliberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und eine Öffnung des Landes für das internationale Kapital. Gleichzeitig wurden die Überreste des sozialistischen Wohlfahrtsstaats vollständig demontiert.
In meinen Untersuchungen unterteile ich das Aufkommen und die anschließende Hegemonie der neoliberalen Ideologie in Kasachstan in drei Phasen: die kämpferische (1989–1995), die normative (1995–2008) und die strafende (2008 bis heute). Die erste Phase begann in der späten Sowjetunion und fiel mit Gorbatschows Perestroika- und Glasnost-Politik zusammen. Erste marktorientierte Programme wie das »500-Tage-Programm« entstanden, begleitet von ersten Preisliberalisierungen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gerieten die ehemaligen Sowjetrepubliken in einen Strudel geopolitischer und innerer Probleme – jede entwickelte ihren eigenen Weg. Die zweite Phase begann mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahr 1995, die Kasachstan faktisch in einen autoritären Staat verwandelte. Die Macht konzentrierte sich vollständig in den Händen der Exekutive und des Präsidenten. Die dritte Phase setzte mit der globalen Wirtschaftskrise ein und dauert bis heute an.
»Früher war Kasachstan eine diversifizierte Wirtschaft mit bedeutender Industrie und Landwirtschaft. Doch die neoliberale ›Modernisierung‹ zerstörte diese Grundlagen.«
Besonders wichtig für das Verständnis der politischen Ökonomie des modernen Kasachstans sind die ersten beiden Phasen – die kämpferische und die normative –, die den Zeitraum von Anfang der 1990er Jahre bis 2008 umfassen. Sie schufen die Voraussetzungen für die Dominanz der neoliberalen Ideologie im Land durch die Entpolitisierung der Politik, die De-Ideologisierung der Gesellschaft und die De-Demokratisierung des Regimes.
Kasachstan wird oft als ein »reiches Land armer Menschen« beschrieben. Die reichen Bodenschätze und steigende Rohstoffpreise ermöglichten in den 2000er Jahren ein BIP-Wachstum von über 9 Prozent pro Jahr (2000–2007). Dennoch wurde kein Wohlfahrtsstaat geschaffen. Stattdessen führten Deindustrialisierung und der einseitige Fokus auf die Rohstoffgewinnung dazu, dass das Wachstum auf ausländischen Investitionen basierte. Das Regime kann als autoritäre Kleptokratie bezeichnet werden, die eine Rentierwirtschaft geschaffen hat, von der nur 1 Prozent der Bevölkerung profitiert.
Kürzlich bin ich auf einige sehr aufschlussreiche Statistiken zur Klassenstruktur Kasachstans gestoßen: Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes sank von 34 Prozent im Jahr 1990 auf nur 4 Prozent im Jahr 2014. Dennoch macht die ländliche Bevölkerung mit etwa 47 Prozent einen signifikanten Anteil aus. Besorgniserregende Trends zeigen sich auch bei der urbanen marginalisierten Bevölkerung: Im Jahr 2006 gab es in Almaty 29 informelle Siedlungen, in denen ein Drittel der Stadtbevölkerung lebte. Diese Zahlen stehen im Widerspruch zum starken Wirtschaftswachstum seit 1991, gemessen am BIP. Wie erklären Sie diese Diskrepanz?
Die Diskrepanz zwischen hohem BIP-Wachstum und schlechten sozialen Indikatoren ist charakteristisch für das kasachische Wirtschaftsmodell, das stark von Rohstoffexporten abhängt. Die Umverteilung des Wohlstands kommt transnationalen Unternehmen und lokalen Eliten zugute, während breite Bevölkerungsschichten kaum profitieren.
Früher war Kasachstan eine diversifizierte Wirtschaft mit bedeutender Industrie und Landwirtschaft. Doch die neoliberale »Modernisierung« zerstörte diese Grundlagen. Wie in den Ländern des Globalen Südens in den 1960er und 70er Jahren erleben wir in Kasachstan eine Urbanisierung ohne Industrialisierung. Die Mittel- und Arbeiterklassen wurden zu einem Prekariat degradiert. Mehr als 2,2 Millionen Menschen, das entspricht 24,1 Prozent der Erwerbstätigen, haben keine feste Anstellung – diese werden in der offiziellen Statistik als »Selbstständige« bezeichnet, ein neoliberaler Euphemismus. Im Rentierkapitalismus sind diese Menschen überflüssig für die Wirtschaft.
»Die Kontrolle zentraler Wirtschaftssektoren durch transnationale Konzerne beeinträchtigt die politische Souveränität Kasachstans erheblich.«
Welche sozialen Gruppen dominieren primär im Staat, und welchen Einfluss üben internationale Akteure, insbesondere internationale Finanzinstitutionen und ausländische Investoren, aus?
Der neoliberale technokratische Staat Kasachstans, der aus der ehemaligen sowjetischen Verwaltung der Kasachischen SSR nach 1991 hervorging, entwickelte sich zu einem Instrument der Bereicherung und Umverteilung staatlichen Eigentums sowie nationalen Reichtums zugunsten dreier dominierender Gruppen: der kompradorischen Bourgeoisie, des transnationalen Kapitals und der politischen Elite. Letztere steht in enger Verbindung mit dem autoritären Regime, das sich in den frühen 1990er Jahren unter Nursultan Nasarbajew herausbildete.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion erkannte die frühere sowjetische Nomenklatura, angeführt von Nasarbajew, schnell die sich bietenden Möglichkeiten zur persönlichen Bereicherung. Die Rolle internationaler Finanzinstitutionen wie des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank bei der Etablierung neoliberaler Regime in post-sowjetischen Staaten ist gut dokumentiert. Diese Institutionen waren direkt an der Förderung lokaler »Chicago Boys« beteiligt, die die neoliberale Umstrukturierung durchführten, und bis heute den Interessen der Kompradoren und ausländischen Investoren dienen.
Die Macht ausländischer Investoren zeigt sich an Beispielen wie der Einführung der neoliberalen Entwicklungsstrategie »Kasachstan-2030« im Jahr 1997 und der Einrichtung des Rates ausländischer Investoren, der lange Zeit vom langjährigen Präsidenten Nursultan Nasarbajew geleitet wurde. Dabei schöpfen sowohl die kompradorische Bourgeoisie als auch die lokale politische Elite, die eng mit transnationalen Konzernen verbunden ist, vor allem Rohstoffrenten ab und tätigen nur minimale Investitionen in die nationale Wirtschaft.
Wie wirkt sich die wirtschaftliche Abhängigkeit von ausländischem Kapital und dessen Vertretungen auf die politische Souveränität Kasachstans aus?
Die Kontrolle zentraler Wirtschaftssektoren durch transnationale Konzerne beeinträchtigt die politische Souveränität Kasachstans erheblich. Produktionsbeteiligungsvereinbarungen mit ausländischen Investoren wurden unter intransparenten Bedingungen abgeschlossen, und Steuererleichterungen sowie die Lockerung von Arbeits- und Umweltstandards wurden eingeführt, um Investitionen zu sichern.
»Während die multivektorale Außenpolitik Kasachstan theoretisch die Möglichkeit bietet, seine Außenbeziehungen zu diversifizieren, hängt ihr Erfolg maßgeblich von der inneren Stabilität und der Fähigkeit ab, eine eigenständigere Wirtschaftspolitik zu verfolgen.«
Ein Großteil der Gewinne aus der Rohstoffindustrie fließt ins Ausland zurück. Internationale Schiedsvereinbarungen beschränken die Eingriffsmöglichkeiten des Staates in die Wirtschaftspolitik. Die Fokussierung auf die Gewinnung von Rohstoffrenten hemmt die Entwicklung der lokalen Wirtschaft und Infrastruktur und macht das Land anfällig für externe Schocks. Dies schränkt Kasachstans Fähigkeit ein, eine unabhängige Außen- und Innenpolitik zu gestalten. Infolgedessen hat das neoliberale Modell der Nicht-Entwicklung in Kasachstan zur Errichtung eines faktischen neokolonialen Regimes geführt.
Kasachstan gewinnt zunehmend an Bedeutung in den internationalen Beziehungen. Die Regierung ist sich dessen bewusst und verfolgt eine sogenannte multivektorale Außenpolitik, die auf eine gleichzeitige Zusammenarbeit mit verschiedenen Staaten abzielt. Ob dieser Balanceakt von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt jedoch fraglich. Die Herausforderungen dieser Strategie zeigen sich bereits deutlich im Kontext des Ukraine-Kriegs. Wie bewerten Sie Kasachstans Außenpolitik?
Die Außenpolitik Kasachstans, die auf dem Prinzip der multivektoralen Außenpolitik basiert, ist ein Versuch, eine Balance zwischen verschiedenen globalen und regionalen Machtzentren – Russland, China, den USA und der EU – herzustellen. Diese Strategie ist jedoch mit einer Reihe von Schwierigkeiten verbunden.
Erstens ist Kasachstan aufgrund seiner geopolitischen Lage wirtschaftlich und politisch gegenüber Russland und China verwundbar, insbesondere vor dem Hintergrund der wachsenden Konfrontation zwischen Ost und West. Es wird immer schwieriger, ein Gleichgewicht der Interessen zwischen diesen beiden globalen Akteuren aufrechtzuerhalten. China ist der Wirtschaftsgigant, dessen Dominanz wir jetzt erleben und die bis in dieses Jahrhundert hinein anhalten wird.
Mit Russland teilt Kasachstan die zweitlängste Landgrenze der Welt und eine kulturelle und sprachliche Verbindung, die sich im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Schätzungen zufolge entfallen bis zu 90 Prozent des Informationsinhalts in Kasachstan auf die russische Sprache. Zudem hat die Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie die starke Einbindung in russische Transportwege die kasachische Wirtschaft eng an Russland gebunden. Jeder Schock für die russische Wirtschaft hat unmittelbare Auswirkungen auf Kasachstan. Das zeigte sich zuletzt wieder in der Abwertung des Tenge im November und im Dezember 2024, als der russische Rubel gegenüber den wichtigsten Währungen deutlich an Wert verlor.
Der Krieg in der Ukraine hat zusätzliche Herausforderungen für die multivektorale Politik geschaffen, da der Druck Russlands auf Kasachstan zugenommen hat. Während die multivektorale Außenpolitik Kasachstan theoretisch die Möglichkeit bietet, seine Außenbeziehungen zu diversifizieren, hängt ihr Erfolg maßgeblich von der inneren Stabilität und der Fähigkeit ab, eine eigenständigere Wirtschaftspolitik zu verfolgen. Dies verdeutlicht erneut, warum eine unabhängige Innen- und Außenwirtschaftspolitik von zentraler Bedeutung ist. Die starke Abhängigkeit von ausländischen Investoren und Unternehmen begrenzt jedoch Kasachstans Fähigkeit, eine wirklich unabhängige Außenpolitik zu betreiben.
Die Proteste im Januar 2022 kamen für viele überraschend, da Kasachstan zuvor als stabiles Land galt. Was waren die wichtigsten Auslöser und welche gesellschaftlichen Gruppen waren maßgeblich daran beteiligt?
Die oft betonte »politische Stabilität« Kasachstans war ein Konstrukt, das von Nasarbajew und seinem Regime geschickt vermarktet wurde. Tatsächlich gab es bereits zuvor erhebliche Spannungen. Die wirtschaftlichen Fortschritte, symbolisiert durch beeindruckende Infrastrukturprojekte wie die neue Hauptstadt Astana, verschleierten die Realität eines autoritären Systems, das sozioökonomische Ungleichheit ignorierte. Im Nachhinein kann man sagen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es zu massiven Protesten kommen würde.
»Die formale Machtübergabe von Nasarbajew an Tokajew war das Ergebnis einer persönlichen Entscheidung Nasarbajews. Er war der Ansicht, dass Tokajew einerseits seine eigene reale Macht und Privilegien nicht antasten würde. Andererseits sah er in ihm den optimalen Kandidaten, der ohne größere Anfeindungen von anderen Elitegruppen akzeptiert werden könnte.«
Außerdem kam es im Land schon früher regelmäßig zu Massenprotesten sozioökonomischer Art, wie etwa bei der Protestbewegung in der Region Mangistau im Dezember 2011. Die Proteste in der Region Mangistau, genauer gesagt in der Stadt Schangaösen 2011, bei denen Ölarbeiter bessere Arbeitsbedingungen forderten, endeten blutig: Sicherheitskräfte erschossen mindestens fünfzehn Menschen und verletzten Hunderte. Obwohl dieser Protest als Arbeitskonflikt begann, sind seine wahren Ursachen sozioökonomischer Natur und liegen in der wenig beneidenswerten Lage der Bewohnerinnen und Bewohner Westkasachstans. Seit dem Jahr 2000 kommt es dort zu ständigen Streiks der Ölarbeiter. In diesen Öl-Regionen ist das Einkommensgefälle stark ausgeprägt, da die meisten dort lebenden Menschen nicht mit der Ölindustrie verbunden sind und die klimatischen Bedingungen in diesen Gebieten sehr rau sind. Gleichzeitig führten die regierungsfreundlichen Medien eine Kampagne, um die gerechten Forderungen der Arbeiter zu diskreditieren und damit den Klassencharakter des Regimes selbst zu offenbaren.
Im Januar 2022 waren die Bedingungen reif für einen perfekten Sturm. Bereits im März 2019 kündigte Präsident Nasarbajew seinen Rücktritt an, blieb aber tatsächlich an der Macht, zementierte seinen Status als »Führer der Nation« und leitete den Sicherheitsrat des Landes. In dem Land wurde de facto eine Doppelherrschaft errichtet. Im Januar 2022 wurde der Preis für verflüssigtes Erdgas im Zuge des Übergangs zu einem marktbasierten Preisbildungsmechanismus drastisch erhöht. Neben wirtschaftlichen Forderungen wurden auch politische Forderungen laut, darunter der tatsächliche Rückzug von Nasarbajew aus der Politik. Der beliebteste Slogan war: »Shal ket!« (»Alter Mann, geh!«). Dieser Protest war ein klassischer Klassenprotest, und die Unterstützung der streikenden Ölarbeiter von Schangaösen in ganz Kasachstan war ein Beispiel der Solidarität.
Die Ereignisse offenbarten Machtkämpfe innerhalb der politischen Elite Kasachstans. Welche Gruppen standen sich gegenüber und wie stabil ist das Regime von Präsident Tokajew?
Innerhalb des autoritären Regimes von Nasarbajew hat es immer einen ständigen Kampf um politischen Einfluss gegeben. Der kleptokratische Charakter der Macht ist dabei ein prägendes Element, sodass politische Präferenzen in den letzten zwanzig Jahren keine besondere Rolle gespielt haben. Die Hauptsache ist, dass man in das System eintritt. Innerhalb des Systems gab es verschiedene Gruppen, deren Einfluss durch ihre Nähe zu Nasarbajew persönlich oder zu Mitgliedern seiner Familie bestimmt wurde
Die formale Machtübergabe von Nasarbajew an Tokajew war das Ergebnis einer persönlichen Entscheidung Nasarbajews. Er war der Ansicht, dass Tokajew einerseits seine eigene reale Macht und Privilegien nicht antasten würde. Andererseits sah er in ihm den optimalen Kandidaten, der ohne größere Anfeindungen von anderen Elitegruppen akzeptiert werden könnte. Diese Gruppen waren mit Sicherheit nicht bereit, Nasarbajews Tochter Dariga oder ein anderes Mitglied seiner Familie als Präsidenten oder Präsidentin zu akzeptieren.
Daher war Tokajew bis zum »Kanda Kantar«, dem »blutigen Januar«, faktisch ein nomineller Präsident, vergleichbar mit der britischen Königin, die zwar regiert, aber nicht herrscht. Tokajew ist also einer der Hauptnutznießer der Ereignisse vom Januar 2022, da er nach dem gescheiterten Palastputsch die tatsächliche Macht erlangte, während Nasarbajew sich selbst zum »bloßen Rentner« erklärte.
»Von den ersten Tagen seiner Herrschaft an räumte Nasarbajew die Opposition aus dem politischen Feld. So kam es, dass in der kasachischen Politik die Hauptopposition gegen das Regime hauptsächlich aus denjenigen bestand, die aus dem System selbst kamen.«
Es wird darüber spekuliert, dass Nasarbajews engste Familienmitglieder, die Tokajew nicht ernst nahmen, die friedlichen Proteste in Almaty nutzten und gezielt Kriminelle einsetzten. Diese standen vollständig unter Kontrolle der Geheimdienste und begannen buchstäblich die Stadt zu verwüsten. Nach Tokajews eigener Aussage teilte ihm der Generalstab des Geheimdienstes mit, dass »20.000 Kämpfer in die Stadt eingedrungen waren und sie ein Flugzeug und 50 Millionen Dollar in bar für ihn bereithielten, damit er das Land verlassen konnte«. Tokajew weigerte sich, nutzte aber die Pogrome, um eine Ausgangssperre zu verhängen. Die Beteiligung des Vorsitzenden des Geheimdienstes Kasachstans (KNB) Masimow und seines ersten Stellvertreters Satybaldy, der ein Neffe Nasarbajews ist, an dem gescheiterten Staatsstreich scheint Tokajew dazu veranlasst zu haben, seine geheimen Vereinbarungen mit Nasarbajew zu revidieren. Tokajew ist in den letzten zwei Jahren sehr stark geworden. Seine Schützlinge sind jetzt in den meisten Machtstrukturen vertreten.
Auf jeden Fall hat sich die politische Situation nach dem »blutigen Januar« verändert – die negative Haltung gegenüber dem Regime von Nasarbajew ist weitverbreitet und tritt offen zutage. Die Hauptstadt des Landes erhielt ihren früheren Namen Astana zurück, aber der Flughafen der Stadt trägt immer noch den Namen Nasarbajews.
Kasachstan wird oft als ein Land ohne wirksame politische Opposition beschrieben. Wie ist es um die Opposition insgesamt bestellt, und welche Rolle spielen insbesondere linke Kräfte?
Von den ersten Tagen seiner Herrschaft an räumte Nasarbajew die Opposition aus dem politischen Feld. So kam es, dass in der kasachischen Politik die Hauptopposition gegen das Regime hauptsächlich aus denjenigen bestand, die aus dem System selbst kamen, oder wie man heute sagt, aus dem Mainstream der Politik. Die wichtigsten Oppositionskräfte bewegen sich innerhalb der Dichotomie »Freiheit gegen Unfreiheit« oder »Demokratie gegen Autoritarismus«. Sie waren nie bestrebt, die sozioökonomische Struktur des neoliberalen Kapitalismus zu verändern. Im Wesentlichen vertreten sie die Interessen der Kompradorenbourgeoisie und einer sehr schmalen Schicht der städtischen Mittelklasse. Trotz aller guten Absichten, von denen sie sich leiten lassen, und trotz der Opfer, die viele von ihnen in ihrem Kampf gebracht haben, bieten sie keine wirklichen Veränderungen.
»Die intellektuelle Gemeinschaft Kasachstans, die liberale Dogmen sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft propagiert, konzentriert sich auf einen progressiven Neoliberalismus und bleibt weiterhin in der kapitalistischen Ontologie gefangen.«
In den Epochen des normativen (1995–2008) und des strafenden Neoliberalismus (2008 bis heute) setzt sich die Diskreditierung und Marginalisierung linker Ideen und sozialistischer Ideologie gerade deshalb fort, weil in Kasachstan, wie in vielen postsowjetischen Gesellschaften, nicht nur unter vermeintlich UdSSR-nostalgischen Rentnerinnen und Rentnern, sondern auch unter der jüngeren Generation ein Verständnis für die existenzielle Dysfunktionalität des kapitalistischen Weges vorhanden ist. Der neoliberale Kapitalismus ist der Nährboden für das kasachische politische Regime – sei es die autoritäre Kleptokratie von Nasarbajew oder die derzeit entstehende oligarchische Plutokratie. Ein fortschrittlicher Sozialismus ist die einzige Alternative für das Überleben Kasachstans und den Wohlstand seiner Bevölkerung. Deshalb übernahm der ehemalige Nasarbajew-Prokurator 2006 die Führung der sozialdemokratischen Partei mit dem gleichen Namen und diskreditierte damit endgültig die Ideen der Sozialdemokratie. Ähnliche Prozesse sehen wir bei der Volkspartei Kasachstans, die Anhängerinnen und Anhänger des Sozialismus und linker Ideen vereint. Sie wird von einem ehemaligen Beamten des »alten« Kasachstan geleitet, der zwölf Jahre lang politischer Berater von Nasarbajew war.
Präsident Tokajew versprach nach den Protesten umfassende Reformen. Welche Veränderungen sind seither eingetreten?
Nach den Protesten von 2022 setzte zunächst eine politische Tauwetter-Periode ein. Präsident Tokajew wies zunächst auf das Problem der Vermögensungleichheit und die eklatante Einkommenskluft zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen hin. In Kasachstan besitzen die fünfzig reichsten Menschen etwa 50 Prozent des Gesamtvermögens der gesamten erwachsenen Bevölkerung. Das entspricht 16 Prozent des nominalen BIP. Und das in einem upper middle-income Land! Ich analysiere ständig die verschiedenen Regierungsinitiativen und -programme im Bereich der sozioökonomischen Entwicklung – in der Wirtschaft und im weiteren Sinne in der politischen Ökonomie Kasachstans haben sich seit 2022 keine strukturellen Veränderungen ergeben. Es gibt zwar politische PR-Aktionen wie die »Rückgewinnung von Vermögenswerten«, aber es besteht der Verdacht, dass dies lediglich zu einer Umverteilung von Eigentum zwischen alten und neuen Oligarchen geführt hat. Der Staatsapparat und seine Intellektuellen repräsentieren dieselbe Technokratie, die mit der neoliberalen Erkenntnistheorie und dem neoklassischen Mainstream indoktriniert wurde. Sie haben einfach nichts zu bieten.
Die intellektuelle Gemeinschaft Kasachstans, die liberale Dogmen sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft propagiert, konzentriert sich auf einen progressiven Neoliberalismus und bleibt weiterhin in der kapitalistischen Ontologie gefangen. Sie bieten keine wirkliche Veränderung, oder genauer gesagt, sie bieten lediglich Veränderungen innerhalb der Hegemonie der kapitalistischen Ideologie. Es ist wohl von Bedeutung, eine Frau mit dem entsprechenden Beruf als »Filmemacherin« oder »Autorin« zu bezeichnen, aber wie nah wir damit der wirklichen Emanzipation der Frauen kommen, ist fraglich. Ich befürchte, dass diese Themen in Kasachstan gerade deshalb populär werden, weil sie die Aufmerksamkeit von Fragen der wirtschaftlichen Demokratie und der Emanzipation der Arbeiterinnen und Arbeiter ablenken und für das kompradorische Regime das kleinere Übel darstellen.
»Kasachstan braucht einen Paradigmenwechsel, um die Hegemonie neoliberaler Ideen zu brechen. Erst dann werden linke Ideen zu einer echten Alternative für echte Reformen.«
In Kasachstan sterben jährlich zwischen 80 und 400 Frauen durch Gewalt ihrer Partner – die Angaben variieren, da weniger als die Hälfte der Fälle von häuslicher Gewalt vor Gericht landen. Erst nach dem »Saltanat-Fall« gab es eine breitere öffentliche Diskussion über dieses Thema [Anm. d. Red.: Saltanat Nukenowa, die Lebensgefährtin des ehemaligen Ministers für Nationale Wirtschaft Kuandyk Bishimbayew wurde im November letzten Jahres tot in einem Restaurant gefunden, das ihrem Mann gehört. Der Vorfall löste öffentliche Empörung aus und entfachte eine umfassende Debatte über häusliche Gewalt]. In der Folge wurden Änderungen an den Gesetzen vorgenommen, nachdem dieses Problem in den letzten dreißig Jahren von der Politik ignoriert wurde.
Aber da der Mörder ein ehemaliger Wirtschaftsminister (einer von Nasarbajews Gefolgsleuten) und das Opfer eine Vertreterin der städtischen Mittelklasse war und der gesamte Prozess live übertragen wurde, war diese Tragödie mehrere Monate lang das Thema Nummer eins. Aber das Schlagen und Töten von Frauen »irgendwo da draußen«, in den Dörfern, in der ärmlichen Umgebung von Monostädten, erregte nicht wirklich die Aufmerksamkeit modischer Blogger. In Kasachstan gab es bereits mehrere Fälle, bei denen Kinder aus benachteiligten Familien bei lebendigem Leib verbrannten, weil ihre Eltern sie unbeaufsichtigt lassen mussten, da sie nachts in schlecht bezahlten Jobs arbeiteten. Diese Tragödien erregten nicht solch eine sensationelle Aufmerksamkeit. Offensichtlich wird die besorgniserregende sozioökonomische Lage der arbeitenden Klasse niemanden interessieren, bis ein solches Schicksal auch die Kinder der Mächtigen trifft.
Kurz gesagt, Kasachstan braucht einen Paradigmenwechsel, um die Hegemonie neoliberaler Ideen zu brechen. Erst dann werden linke Ideen zu einer echten Alternative für echte Reformen. Wenn Präsident Tokajew keine Reformen vorschlägt, die die sozioökonomische Lage der Kasachen tatsächlich verbessern, wird er als der zweite Präsident in Erinnerung bleiben, der versuchte, den Status quo zu bewahren, Blut vergoss und leere Versprechungen über ein »gerechtes Kasachstan« machte. Immer mehr Kasachen verstehen, dass das Vertrauen in die Macht schwindet und echte Veränderungen nicht erbettelt, sondern erkämpft werden müssen. Ob die Behörden das verstehen, ist eine andere Frage.
Kuat Akischanow ist stellvertretender Direktor des Central Asia Regional Economic Cooperation Institute und Autor des Buches Finance Capitalism and Income Inequality in the Contemporary Global Economy.