18. Januar 2021
Wer den heutigen Kapitalismus verstehen will, muss die juristischen Tricks der großen Anwaltskanzleien kennen. Ein Gespräch mit der Juristin Katharina Pistor darüber, wie das Recht Ungleichheit schafft.
(Bild: Samson/Unsplash)
Wenn vom »Kapital« die Rede ist, denkt man noch heute an die zylindertragenden Fabrikbesitzer vom Monopoly-Deckel. Doch in einer Zeit, in der die Industrieproduktion ihre hegemoniale Stellung an die Finanzwirtschaft verloren hat, stehen global agierende Anwaltskanzleien im dynamischen Zentrum des Kapitals. Im Dienste von Banken, Großkonzernen und Reichen gießen sie eine ungleiche Eigentumsordnung in vertragliche Form, erschaffen Kapital aus juristischen Fiktionen und öffnen den Mächtigen Schlupflöcher, durch die sie sich aus der gesellschaftlichen Verantwortung stehlen können.
Wie all dies funktioniert beschreibt Katharina Pistor, Juraprofessorin an der New Yorker Columbia Law School, in ihrem fulminanten Buch Der Code des Kapitals. Wie Pistor erklärt, liefert das Privatrecht den juristischen »Code« für das globale Kapital. Mit seinen Werkzeugen ziehen und gestalten Anwälte die Grenzen eines »Imperiums des Rechts«, das gesellschaftliche Ungleichheit zementiert und staatliche Gewalt für private Profitinteressen in Anspruch nimmt. So setzt sich eine jahrhundertealte Geschichte fort, die mit der Einhegung des Gemeinlandes und seiner juristischen Erklärung zum Privateigentum begann.
Doch was ist überhaupt Kapital? Welche Bedeutung hat das Recht für seine Funktionsweise? Wie können wir die juristischen Tricks rückgängig machen, mit deren Hilfe sich das Kapital aus der Finanzierung des Gemeinwesens herausgezogen hat? Und übernehmen Googles Algorithmen bald die Rolle von privaten Verträgen und Staatsgewalt? Darüber sprachen mit Katharina Pistor Gabriel Schimmeroth und Linus Westheuser.
Was war die Vorgeschichte von Der Code des Kapitals? Wie kam es zu diesem Buch?
Der Anfangspunkt war die Finanzkrise von 2008/2009. Zusammen mit einer Gruppe Kollegen ging es mir darum, zu verstehen, wie die modernen Finanzsysteme konstruiert sind. Wenn man sich die komplexen Finanzinstrumente anschaut, die zu dieser Krise geführt haben, dann findet man ganz grundlegende Strukturen des Privatrechts. Auch die Welt der ominösen Schattenbanken besteht aus Dingen, die Juristinnen und Juristen im ersten Semester kennenlernen: Vertragsrecht, Eigentumsrecht, Kreditsicherungsrecht.
Im Folgenden habe ich mich hingesetzt und gefragt: Wo kommen diese rechtlichen Konstruktionen her? Wofür wurden die vorher benutzt? Was ist die Geschichte hinter der rechtlichen Architektur des Finanzwesens? Und daraus ist die Idee des Buches entstanden. Ich wollte wissen, wie globale Märkte zusammengezimmert werden und welche juristischen Instrumente dabei eine Rolle spielen. Und letztendlich natürlich auch, wer das alles macht.
In Ihrem Buch fassen Sie die Antwort so zusammen, dass das Recht den juristischen Code liefert, mit Hilfe dessen Kapital geschaffen wird. Beginnen wir hier mal am Anfang: Was ist eigentlich Kapital?
Es gibt natürlich viele Definitionen von Kapital. Ökonomen sagen, es ist einer von zwei Produktionsfaktoren: Kapital und Arbeit – und dann geht’s in die Produktion. Ich würde dem hinzufügen, dass der Staat als Dritter zentral ist. Der Staat deckt die Privatrechtsinstitutionen, aus denen Kapital besteht. Wenn Sie etwas in die Produktion geben wollen, müssen Sie erst darüber verfügen können. Sie müssen also Eigentumsrechte haben. Und wenn Sie aus dem Produktionsprozess wieder etwas herausnehmen, den Mehrwert abschöpfen und wieder investieren, dann müssen Sie wiederum Rechte daran haben.
Diese Rechte funktionieren, weil der Staat seine Durchsetzungsgewalt hinter sie stellt. Er garantiert mir natürlich keinen ökonomischen Gewinn. Aber er garantiert, dass meine Ansprüche rechtlich durchsetzbar sind, wenn ich auf anonymen Märkten kaufe. Auf solche Garantien ist man angewiesen, wenn Netzwerke immer größer werden und es nicht mehr ausreicht, wenn sich die Leute gegenseitig beobachten und kontrollieren können, ob das, womit sie Handel treiben, ihnen auch tatsächlich zusteht. Deshalb gingen der Aufstieg der Nationalstaaten und der Aufstieg des Kapitalismus Hand in Hand. Die beiden gehören schlicht zusammen. Kapital ist eine besondere Beziehung, weil der Staat mit im Boot ist.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Stück Land ist zum Beispiel im Grunde einfach Dreck. Da können Sie Ihre Schafe drauf grasen lassen und das war’s. Das Land selbst lässt sich nicht monetarisieren. Darum geht es aber im Kapitalismus. Ihr Land wird erst dann zu einem wirtschaftlich einsetzbaren Gut, wenn Sie staatlicherseits Eigentumsrechte auf Land geschaffen haben.
Damit aus einem einfachen Gut Kapital wird, braucht es eine Reihe rechtlich codierter Eigenschaften. Ich nenne sie Priorität, Beständigkeit, Konvertierbarkeit und Universalität. Priorität bedeutet, wir schaffen eine Rangordnung von Rechten, bei der ich als Eigentümerin stärkere Rechte habe als andere. Beständigkeit heißt, dass ich einen rechtlichen Schutzschild um das Kapital herum aufbaue und es so gegen den Zugriff anderer schützen kann. Finanzwerte werden beständig gemacht, indem ich die Möglichkeit garantiere, sie in ein staatlich gesichertes Finanzgut umzutauschen, also in Geld oder Staatsanleihen. Universalität zuletzt heißt, dass die Rechte, die wir so geschaffen haben, nicht nur zwischen uns durchsetzbar sind, sondern auch gegenüber Dritten.
Und diese Durchsetzbarkeit von kapitalistischen Eigentumsansprüchen garantiert der Staat?
Ja, deutsche Juristen lernen das im ersten Semester: Sachenrecht ist ein absolutes Recht, es gilt »against the world«, wie es auf Englisch heißt, man kann seine Eigentumsansprüche also gegen jeden Dritten durchsetzen. Auch irgendjemand, der gar nicht weiß, dass ich ein Eigentum an einer Sache habe, muss sich daran halten, sobald ich den Eigentumstitel vorzeige. Wenn er es nicht tut, kann ich die Staatsgewalt gegen ihn einsetzen. Weil der Staat meinen Anspruch notfalls durchsetzt, kann ich die Kosten sozialisieren, die ansonsten zum Schutz meines Eigentums entstünden.
Erst wenn meine Priorität und die Beständigkeit und Universalität meines Landeigentums gesichert sind, kann ich mein Land als Kapital verwenden. Der Punkt ist, dass ich diese rechtlichen Attribute in der Folge auch auf ganz verschiedene Güter aufpfropfen kann: auf Land, auf Firmen, auf Ideen, auf Wissen ... All das kann man rechtlich so verpacken, dass es zu Kapital wird. Land war das erste Gut, das auf diese Weise monetarisiert wurde, indem wir Einzelnen Eigentumsrechte zugeordnet haben. Aber später sieht man, wie für die juristische Konstruktion der Firma, für Finanzinstrumente, für geistiges Eigentum und immaterielle Güter haargenau die gleichen Codes eingesetzt werden, wie bei der Verwandlung von Land in Eigentum.
Ich wollte dieses Buch auch schreiben, weil Konservative in der öffentlichen Diskussion immer so tun, als gäbe es »den freien Markt« einfach und das seien eben die Formen, wie wir miteinander Geschäfte machen. Was ich dagegen zeige, ist, dass der freie Markt voll und ganz auf den Schultern des Staates steht. Alles basiert auf rechtlicher Absicherung, die der Staat gewährleistet, wie eben die Durchsetzbarkeit von Eigentumstiteln oder auch eine gemeinsame Währung.
Zugleich beschreiben Sie in ihrem Buch, wie das Recht eben nicht ausschließlich von staatlicher Seite erschaffen wird.
Genau. Es gibt oft diese Vorstellung, dass der Staat durch Gesetze das Recht macht und dann alle innerhalb dieser Rahmenbedingungen agieren müssen, als wären sie statisch. Die Ökonomen haben dagegen schon lange verstanden, dass Verträge immer unvollständig sind. Sie sind immer zu einem gewissen Grad offen, interpretier- und formbar. Und das Recht ist es auch, besonders das Privatrecht, also der Teil des Rechts, der sich auf Verhältnisse zwischen Bürgern bezieht. Man sagt das Privatrecht wirkt horizontal, das heißt, es geht um Verträge zwischen Einzelnen, ob Personen oder Unternehmen. Ganz zentrale Teile des Rechts entstehen einfach aus dem, was Privatpersonen oder Privatunternehmen miteinander machen. Der Staat garantiert diese Verträge, aber er ist selbst nicht direkt involviert.
Und wie schaffen diese privaten Akteure Recht?
In der Praxis ist es so, dass private Anwälte versuchen, neue Arten von Verträgen und neue Unternehmensstrukturen zu basteln, mit denen man Geld verdienen kann. Eben weil niemand es ihnen verbieten kann; weil der Staat nicht die Polizei losschickt, um zu gucken, was wir in der Privatwirtschaft miteinander machen. Es muss erst ein anderer Privater sagen: Ich zahle jetzt nicht und Du hast auch kein Recht, das umzusetzen. Dann gehen wir vor Gericht, fechten das aus und einer von uns gewinnt.
Private Akteure schaffen und gestalten so de facto das Recht. Im anglo-amerikanischen Recht sind Gerichtsurteile selbst rechtsschaffende Präzedenzfälle. Aber auch in Zivilrechtssystemen wie dem deutschen reagieren die Gerichte auf vollendete Tatsachen, die bereits in der Privatwirtschaft geschaffen wurden. Falls zum Beispiel schon genug andere dasselbe rechtliche Konstrukt nutzen wie ich, dann wird ein Gericht auch manchmal sagen: Das ist jetzt allgemeiner Handelsbrauch und damit rechtens.
So können Unternehmen und ihre Anwälte die Grenzen dessen pushen, was als rechtens gilt. Es geht darum, die Grenzen des Rechtlichen zu verschieben, um den Mandanten Möglichkeiten einzuräumen, die die anderen Wettbewerber noch nicht erkannt haben. Wenn ich als erster ein neues rechtliches Konstrukt benutze, bin ich immer im Vorteil. Ich kann diese Struktur erst mal ausprobieren und eventuell Geld verdienen, bis jemand Einspruch erhebt. So wird neues Recht geschaffen.
Anwälte, die diese Art von Transaktionen machen, bestätigen das. Ich habe für meinem Ansatz von vielen Akademikern Gegenwind geerntet, weil er nicht in ihre Finanztheorien passte. Aber wenn ich mit Anwälten in der City of New York rede, sagen die: »Na klar, so machen wir es. Wir schaffen neue Finanzgüter oder erfinden neue Finanzintermediäre. Die sind selbstverständlich alle legal. Aber wir versuchen sie so zu kreieren, dass sie durch die Lücken der staatlichen Regulierung durchpassen. Wir nutzen die Lücken aus, um den Mandanten einen relativen Vorteil zu verschaffen«.
Sie erwähnten gerade, es gäbe keinen großen Unterschied zwischen den Rechtssystemen in Kontinentaleuropa und dem anglo-amerikanischem Recht. Es ist also nicht so, dass etwa im deutschen Zivilrechtssystem der Staat eine größere politische Kontrolle über die Rechtsprechung hat?
Nein, nicht wirklich. Der Staat in Europa hat lange eine größere Handhabe behalten, indem er die private Rechtsgestaltung durch Regulierung domestiziert hat. Aber auch das ist zum großen Teil unterhöhlt worden, vor allem durch die Möglichkeit der freien Rechtswahl. Ich kann in Deutschland Verträge nach englischem Recht schließen. Oder ich kann in England, den Niederlanden oder Luxemburg Unternehmen aufmachen, die dann trotzdem in Deutschland herumspazieren. Über die freie Rechtswahl wird so gut wie nie geredet. Sie dreht sich um die Frage, welche Rechtsordnung gilt, wenn auf ein Verhältnis mehr als zwei Ordnungen Anwendung finden können. Wenn wir in Deutschland einen Vertrag schließen und sagen nichts, dann wird im Zweifel deutsches Recht gelten. Wenn wir beide Deutsche sind, und wir schließen in Frankreich einen Vertrag, dann können wir auch argumentieren, dass das französische Recht anwendbar ist. Wir können aber auch explizit in unseren Vertrag schreiben, dass wir unseren Vertrag gern nach Schweizer Recht abschließen möchten. Und die meisten Rechtsordnung würden das anerkennen.
Diese Institution der Rechtswahl beschreiben Sie als zentral für die Architektur des globalen Kapitalismus.
Ja. Die Frage ist doch: Wie kann es überhaupt ein globales Finanzsystem und einen globalen Kapitalismus geben, wenn diese aus Rechtsinstitutionen bestehen, die alle national spezifisch sind? Es gibt ja kein globales Privatrecht. Und ich gebe in dem Buch die provokative Antwort, dass es für den globalen Kapitalismus schon reichen würde, sich auf eine einzige nationale Rechtsordnung zu stützen, solange alle anderen Rechtsordnungen sie anerkennen und durchsetzen. Tatsächlich basiert schon heute der Handel mit den wichtigsten Kapitalgütern, den Finanzwerten, im Wesentlichen auf nur drei Rechtsordnungen: dem englischen Recht und dem Recht der US-amerikanischen Staaten New York und Delaware. Alle anderen Länder machen mit, indem sie die freie Rechtswahl ermöglichen.
In Deutschland war das lange anders. Es galt, dass Kapitalgesellschaften nach deutschem Recht organisiert werden mussten, wenn der Hauptsitz und die Aktivitäten des Unternehmens in Deutschland waren. Nur so ließen sich zwingende Mitbestimmungsrechte und andere Fragen der Unternehmensorganisation kontrollieren. Doch der Europäische Gerichtshof hat das verboten, weil die Europäischen Verträge die freie Beweglichkeit aller Personen vorschreiben, inklusive sogenannter »juristischer Personen« wie beispielsweise Aktiengesellschaften. Deutschland muss es Unternehmen deshalb heute ermöglichen, sich für eine andere Rechtsordnung innerhalb der EU zu entscheiden. Diese Möglichkeit versierter Akteure, sich den für sie günstigsten rechtlichen Rahmen für die Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen herauszupicken, ist ganz kritisch. Sie hebelt die nationalstaatliche Domestizierung des Privatrechts weitgehend aus.
Hier zeigt sich, wie der Drang alles zu monetarisieren, ein überwältigender Antrieb des heutigen Rechts geworden ist. Es ist ja an sich gut, dass wir viele unserer rechtlichen Beziehungen mittels des Privatrechts ordnen können und dass wir dadurch auch Zugang zur Staatsgewalt haben. Aber es geht schlicht zu weit, dass wir das Kapital im Recht systematisch privilegieren und ihm von staatlicher Seite auch noch zusätzliche Dinge hinterherwerfen, etwa dass Kredite von der Unternehmenssteuer absetzbar sind oder es einen besonderen Konkursschutz für Derivate gibt. All diese Privilegien sind Subventionen für das Kapital. Aber die größte aller Subventionen ist das Recht selbst.
Diese Privilegien für das Kapital müssen zurückgenommen werden, bevor wir überhaupt darüber reden können, wie wir rechtliche und wirtschaftliche Zusammenhänge besser organisieren, rechtlich codieren oder den Wohlstand in unseren Gesellschaften anders verteilen. Das würde uns als Gesellschaft wieder etwas Luft verschaffen, neu über diese grundsätzlichen Fragen nachzudenken. Sowieso ist die Kapitalseite ja ständig dabei, mit sehr gut ausgebildeten und hoch bezahlten Anwälten, die Möglichkeiten des Systems auszuschöpfen. Um dem beizukommen müssen wir verstehen, wie sie das tun, also wie in den großen Anwaltskanzleien Kapital erschaffen wird.
In Ihrem Buch zeigen Sie sich eher skeptisch gegenüber einem politischen Mittel gegen Ungleichheit, das zuletzt viel diskutiert wurde: das der Umverteilung durch Steuern. Sie sagen, dass Steuern ihren Biss verloren haben, weil sie immer erst da ansetzen, wo das eigentliche Geschäft schon gelaufen ist. Ließen sich auch Steuern effektiver rechtlich »codieren«? Und was sind Alternativen, um die Übermacht der Reichen und Mächtigen zu brechen?
Zu dieser Frage der Steuern habe ich eine andauernde Debatte mit Thomas Piketty. Einerseits gibt es das Privatrecht und dessen staatliche Durchsetzung. Der Privatwirtschaft werden also die Mittel gegeben, große Reichtümer aufzubauen. Und dann kommt der gleiche Staat hinterher und sagt, »jetzt nehmen wir euch hier aber ein bisschen was weg«. Damit haben die privaten Akteure ja weiterhin das gesamte Handwerkszeug, um die staatliche Steuerlast zu umgehen. Der Staat kommt schlicht nicht hinterher.
Wir sehen ja, wie das Privatrecht dafür benutzt wird, Steuerpflichten zu umgehen. Durch die Gründung von Briefkastenfirmen in anderen Jurisdiktionen, was nur aufgrund der erwähnten freien Rechtswahl möglich ist. Oder wie Apple komplexe rechtliche Strukturen geschaffen hat, um sämtliche Einnahmen, die in Kontinentaleuropa gemacht wurden, ins Steuerparadies Irland zu schleusen. Das ist ein privatrechtliches Gerüst. Und dazu bloß zu sagen, wir besteuern hinterher wieder ein bisschen mehr – das bringt nichts.
Ich weise in meinem Buch stattdessen auf einige rechtliche Lücken hin, die geschlossen werden müssen. Wir könnten die Eigenständigkeit einer juristischen Person (wie einer AG oder GmbH) einfach aberkennen, wenn deren einziger Zweck ist, Steuern zu umgehen. Auch müsste das Rechtsinstrument der Durchgriffshaftung angewendet werden, wenn ein Unternehmen nur zum Zweck der Vermögensverschiebung besteht. Wenn es also beispielsweise keinen wirklichen Vorstand, keinen wirklichen Aufsichtsrat nach deutschem Recht und kein Personal hat. Das Prinzip der Durchgriffshaftung gibt es im deutschen Recht für den Fall, dass eine Rechtsform total missbraucht wird. Mit ihr können Aktionäre für Ansprüche haftbar gemacht werden, die gegenüber der Tochtergesellschaft bestehen. Die Anwendung dieses Prinzips könnte ausgeweitet werden.
Angesichts der augenblicklichen internationalen Gegebenheiten muss das der Gesetzgeber auf nationalstaatlicher Ebene tun, denn nur hier gibt es demokratische Handlungsmöglichkeiten. Man wird natürlich auf Widerstand stoßen. Doch in meinen Augen stehen die Chancen, derlei Anpassungen vor dem EuGH durchzubekommen, gar nicht so schlecht. Der neoliberale Höhepunkt ist auch in Europa überschritten, an dem man bei Gericht alles Mögliche im Sinne der »Markteffizienz« ausgelegt hat.
Wären jenseits des Schließens von Schlupflöchern nicht auch eine Neudefinition bestimmter rechtlicher Grenzen denkbar? Vor zwei Jahren erklärte ja beispielweise das kolumbianische Verfassungsgericht den Amazonas-Fluss zu einem Träger von Rechten. Wofür könnte man das Recht in progressiver Absicht benutzen?
Witzigerweise kann man für das Allermeiste Rechtsinstitutionen einsetzen, die es jetzt schon gibt. Es gibt in Deutschland etwa das Stiftungsrecht, das es erlaubt, Werte wie einen Fluss in einen Public Trust, eine öffentlich-rechtliche Stiftung, einzubringen und einer vertraglich genau bestimmten Ordnung zu unterwerfen. In der gleichen Weise kann man sich rechtliche Formen auch für andere öffentliche Güter vorstellen. Oder nehmen Sie die Ölfonds in Alaska und Norwegen, wo bestimmt wurde, die Rendite aus dem Ölverkauf zu benutzen, um in gesellschaftliche Aufgaben zu investieren. Man kann sich ähnliche Fonds auch in anderen Bereichen vorstellen, erweitert um soziale und ökologische Investitionsziele. Das ist rechtlich alles denkbar, man muss nur sehen, wie man eine gute Governance-Struktur hinkriegt.
Gleiches gilt für Genossenschaften. Ich arbeite dazu etwa mit Trebor Scholz zusammen, der die globale digitale Bewegung Plattform Co-Ops (Plattform-Genossenschaften) initiiert hat. Diese Rechtsstrukturen sind sehr altertümlich, weil Anwälte nie so intensiv daran rumgebastelt haben, wie an anderen Unternehmensformen, etwas der Aktiengesellschaft oder der Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Aber wenn man sie modernisiert, kann man damit ganz neue Formen des Wirtschaftens rechtlich codieren. Im Grunde könnten wir einfach das vollends flexibilisierte GmbH-Recht des US-Staats Delaware hernehmen und damit machen, was wir wollen. Gerade weil das Kapital diese Unternehmensformen schon ewig bastelt und biegt, sind die Möglichkeiten weit.
Bloß ist bei Genossenschaften die kritische Frage eben nicht die rechtliche, sondern die der Finanzierung. Von Arbeitnehmerinnen geführte Genossenschaften möchten natürlich keine Großinvestoren an Bord haben, weil die die Unterehmensphilosophie unterminieren könnten. Aber wenn sie sich ganz von Krediten abhängig machen, gehen Genossenschaften in Krisen wie der jetzigen unter. Es werden bereits große Co-Ops von Equity Fonds aufgekauft. Aber nicht, weil sie kein gutes rechtliches Statut haben, sondern weil sie ihre Schulden nicht bezahlen können.
Sie haben 2020 einen Artikel publiziert, der sich wie ein Follow-Up zu Ihrem Buch liest. »Rule by Data. The End of Markets« beschreibt, wie Kapital in der Zukunft zunehmend digital statt rechtlich codiert werden könnte. Was bedeutet das?
Wir hatten ja eingangs darüber gesprochen, wie der Staat durch seine Garantien und sein Gewaltpotenzial weit gespannte anonyme Märkte möglich macht. Der Code dieser staatlich gestützten Märkte ist das Recht. Die Idee eines neuen digitalen Codes wäre, dass diese Skalierbarkeit von Märkten in der Zukunft durch private Algorithmen ermöglicht werden könnte, ohne Rückgriff auf die Staatsgewalt. Ich denke, wir müssen diese Möglichkeit sehr ernst nehmen, weil sie verheerende Folgen haben könnte. Denn die Angewiesenheit auf die Staatsmacht gibt uns – zumindest in demokratischen Systemen – immerhin einen gewissen Zugriff auf den Code. Und damit die Möglichkeit es vielleicht anders zu machen.
Können Sie genauer erklären, was es bedeutet digital statt rechtlich zu kodieren?
Die Grundlage digitaler Codierung ist unser Verhalten im Internet. Wir haben so gut wie keine Kontrolle über die Algorithmen, die unser Nutzungsverhalten speichern, interpretieren und steuern. Digitale Plattformen sind heute noch rechtlich eingehegt, wir schließen ja permanent Verträge, wenn wir uns durch Nutzungsbedingungen klicken. Aber sobald wir unser »Einverstanden« abgegeben haben, haben wir meistens gleichzeitig mitunterschrieben, dass die ihre Geschäftsbedingungen auch ändern können, mit Folgen, die wir gar nicht absehen können. Wir lesen diese ganzen Verträge ja nicht, das würde ja viel zu lange dauern.
In meinem Buch argumentiere ich noch, dass dieser neue digitale Code rechtlich eingehegt werden wird. Aber inzwischen habe ich meine Meinung geändert. Der eigentliche Auslöser war, als Facebook versucht hat, seine Digitalwährung namens Libra rauszubringen. Zu diesem digitalen Geld habe ich vor dem Finanzausschuss des US-Repräsentantenhaus ausgesagt und das hat mich wirklich umgetrieben. Da Buch war gerade veröffentlicht und dann wurde Libra angekündigt. Mir war sehr schnell klar, das muss gestoppt werden. In der Folge habe ich mich intensiver damit beschäftigt und bin immer skeptischer geworden, ob wir es hinkriegen, die rapide voranschreitende Digitalisierung wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisses mit globaler Spannweite rechtlich einzuhegen.
Durch digitale Codierung entsteht eine ganz andere Governance-Struktur, die aber nicht rechtlich sein muss. Der Punkt des staatlichen Rechts war die Skalierbarkeit sozialer Verhältnisse durch staatlicher Absicherung, in letzter Instanz durch Staatsgewalt. Wenn wir das digital machen können durch sogenannte »smarte« Verträge, die automatisch durchgesetzt werden, dann brauchen wir den Staat hierfür nicht mehr. Auf die Spitze getrieben könnte das sogar bedeuten, dass ich mit genügend Daten überhaupt keine Märkte mehr brauche. Weil ich alles vorhersehen kann aus den ganzen Informationen, die ich über die Konsumentinnen habe. Dann schaffe ich Märkte im Prinzip ab. Das bereitet mir manchmal schlaflose Nächte.
Wir sollten uns nichts vormachen, Unternehmen wie Facebook und Google sind selbst autokratische Systeme, die nicht einmal der Kontrolle ihrer Aktionäre unterliegen, da die Unternehmensgründer über die Mehrheit der Stimmen verfügen können. Wir müssen da wirklich ran und die Macht dieser Unternehmen brechen. Das Zeitfenster dafür hat sich noch verkürzt durch COVID-19, weil wir alle noch mehr digital unterwegs sind und diese Unternehmen dadurch einen riesigen Marktvorteil haben. So schwindet die Möglichkeit, diese Player einzugrenzen.
Würde das bedeuten, dass privatwirtschaftliche Akteure eine ähnliche Rolle als »stabilisierender Dritter« übernehmen, wie sie zuvor der Staat innehatte?
Genau, und zwar vermittelt über digitale Algorithmen. Hinzu kommt, dass wir es durch den Zugriff auf unsere Daten auch mit einer Art der Besteuerung durch private Unternehmen zu tun haben. Im Grunde besteuern Facebook und Co. uns, weil sie umsonst unsere Daten nehmen und diese dann monetarisieren. Weshalb dürfen die das? Facebook hat Zugriff auf die Daten von 2,5 Milliarden Leuten und kann den künftigen Wert dieser Daten monetarisieren.
Eine digitale Währung wie Libra würde dieses Spiel nochmal ganz grundsätzlich verändern. Sie täten damit etwas, was bisher nur Staaten können: Für ihr eigenes Geld einstehen. Heute ist es so, dass Staaten den Wert ihrer Währungen nicht mehr mit Gold, sondern mit der künftigen Produktivität ihrer Wirtschaft absichern. Das Geld hat einen Wert, weil wir, das heißt unsere Produktivität, dafür einstehen. Falls Facebook nun dasselbe machen kann, indem es mit dem Wert unserer Daten für seine Währung einsteht, dann hat man eine neue Quelle für Souveränität.
Auch dazu entwickeln Sie eine politische Forderung, die an den Slogan der amerikanischen Revolution angelehnt ist: »Keine Datensammlung ohne demokratische Repräsentation.«.
Ja, genau. Es muß darum gehen, auch diese neue Struktur der Souveränität wieder zu demokratisieren. Praktisch gedacht müssen wir dafür sorgen, dass für die verarbeiteten Daten, die in den Algorithmus reingegangen sind, ein proportionaler Anteil an die Konsumenten zurückgegeben und ihnen Kontrollrechte eingeräumt wird.
Unsere Daten am Punkt der Katalogisierung unseres Verhaltens zu verkaufen hätte keinen Wert. Aber ab dem Punkt, wo die Daten einmal aggregiert sind und eingesetzt werden, ließe sich eine Art Trust, ein öffentlicher Fond, denken, deren Mitglieder wir alle sind. Gewählte Vertreter könnten die Interessen der verschiedenen Konsumentengruppen vertreten. Das sind so erste Ansätze, über die von Digital-Aktivistinnen nachgedacht wurde. So oder so sollte irgendetwas in der Richtung schnell passieren. Sonst verlieren wir die Kontrolle.
Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtigen Codierer des Kapitals, die hoch spezialisierten Anwaltskanzleien der Banken und Konzerne. Geht es Ihnen auch darum, bei den Anwältinnen und Anwälten selbst zu einem Umdenken beizutragen?
Ja! Einer der Zwecke des Buches ist es auch, den Juristinnen und Juristen zu sagen: Man kann auch anders Juristin sein. Ihr habt eine Verantwortlichkeit, die ihr wieder annehmen müsst.
Was ich interessant finde, ist, dass gerade unter den jungen Juristinnen und Juristen ein anderer politischer Wind weht. Ich habe in meinem Kurs für Gesellschaftsrecht 170 Studierende. Die frage ich am Anfang immer: Warum habt ihr diesen Kurs belegt? Und etwa ein Drittel der Studierenden sagen jetzt: »Wir wollen endlich ernsthafte Kapitalismuskritik machen«. Zwei Drittel sagen natürlich, wir wollen bei der Wall Street arbeiten, aber ein Drittel – das habe ich noch nie gehabt. In den USA waren unter anderem die Sanders-Bewegung und die Präsidentschaftskandidatur der linken Senatorin Elizabeth Warren ein wichtiger Impuls. Warren ist Juraprofessorin, Andrew Yang – der sich im Vorwahlkampf für ein aus einer Big-Tech-Steuer finanziertes bedingungsloses Grundeinkommen eingesetzt hat – ist ein Alumnus der Columbia Law School, an der ich unterrichte.
Das sind schon Vorbilder für die neue Generation von Juristinnen und Juristen. Ich denke, es ist immer noch eine Minderheitsbewegung, aber sie verbreitet sich wie ein Strohfeuer bei den Studierenden. Klar, seit 2008 ist eigentlich jedem klar, dass sich das System radikal ändern muss. Also wollen sich auch die jungen Juristinnen und Juristen neu orientieren.
Über die Beteiligten
Katharina Pistor ist Edwin B. Parker Professorin für Rechtsvergleichung an der Columbia Law School in New York und Direktorin des Center on Global Legal Transformation. Gabriel Schimmeroth ist Kurator und Leiter der Veranstaltungsabteilung im Museum am Rothenbaum (MARKK) in Hamburg. Linus Westheuser ist Jacobin-Redakteur und promoviert an der Scuola Normale Superiore in Florenz zu Politischer Soziologie.