04. April 2025
Im Kampf um eine gesellschaftliche Mehrheit ist die parlamentarische Arbeit für Sozialisten unverzichtbar. Doch wie der »Papst des Marxismus« schon 1904 schrieb: Parlamentarier dürfen nie von Dienenden zu Herrschenden werden.
Karl Kautsky (obere Reihe, Dritter von rechts) mit Delegierten des Internationalen Sozialistenkongresses in Amsterdam, 1904.
Vor ein paar Wochen stimmten Linke Ministerinnen und Minister aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern im Bundesrat für das Aufrüstungspaket von Friedrich Merz. Diesen Verstoß gegen das Parteiprogramm und die Beschlüsse des Parteivorstands begründen beide Landesverbände mit ihrer Verantwortung für ihr jeweiliges Bundesland und den finanziellen Spielräumen, die damit einhergehen.
Eklats wie dieser sind nichts Neues. Auffällig ist vor allem, mit welcher Konsistenz solche Alleingänge mit den immer gleichen Argumenten gerechtfertigt werden. Auch Karl Kautsky, der nach Engels Tod im Jahr 1895 als der wichtigste Theoretiker des Marxismus galt, schlug sich schon mit Abgeordneten herum, die sich über die Parteidemokratie hinwegsetzten und sich dabei auf die Wünsche und Bedürfnisse ihres Wahlkreises beriefen. Von der Sozialdemokratie ignoriert und von Lenin als Abtrünniger gebrandmarkt, wurde er jedoch nie zum Bezugspunkt für spätere Linke und geriet so in Vergessenheit.
Von den Klassikern des Marxismus der Zweiten Internationale war Kautsky derjenige, der sich am ausführlichsten mit den spezifischen Fragen sozialistischer Politik in parlamentarischen Systemen auseinandergesetzt hat. Kautskys Werk ist deshalb für die heutige Zeit enorm relevant. Nicht selten stößt man in seinen Texten auf niederschmetternde Widerlegungen von Positionen, die auch heute noch im Umlauf sind, ohne dass sich ihre Vertreterinnen und Vertreter deren Schwächen bewusst zu sein scheinen.
Der Artikel »Wahlkreis und Partei«, der 1904 in der SPD-Parteizeitschrift Die Neue Zeit erschien und den wir hier zum ersten Mal in einem leicht zugänglichen Format wiederveröffentlichen, ist ein Beispiel für so einen Text. In einer auffälligen Parallele zu heutigen Auseinandersetzungen um Fragen der Parteiorganisation entstand auch er im Kontext von Debatten über Militarismus und den deutschen Imperialismus.
»Wenn der Sozialismus wieder als ernst zu nehmende politische Kraft auftreten soll, müssen linke Parteien erkennen, dass Organisation die einzige Waffe im Kampf gegen die herrschende Klasse ist.«
Kautsky argumentiert hier gegen das Recht sozialdemokratischer Abgeordneter, sich über Parteiprogramm und Vorstandsbeschlüsse hinwegzusetzen. Er zeigt, dass Abgeordnete, die sich der Parteidisziplin entziehen möchten und sich dabei auf die Meinungsfreiheit oder die Demokratie berufen, sich rhetorischer Taschenspielertricks bedienen. Es geht nicht um die Meinungsfreiheit der Massen, sondern um die Handlungsfreiheit gewählter Vertreter.
Die Parteidisziplin über Parlamentarier ist keine undemokratische Institution. Im Gegenteil: Sie erlaubt den Massen, ihre Vertreter zu kontrollieren und so den politischen Einfluss der besitzenden Klasse und oligarchische Tendenzen in der Partei zu schmälern. Sie verwandelt den Parlamentarismus von einem Werkzeug der herrschenden Klasse zu einem Werkzeug der demokratischen Emanzipation.
Kautsky entlarvt auch die Argumente selbsterklärter Realpolitiker heute, indem er zeigt, dass die Handlungsfreiheit der Abgeordneten einen desorganisierenden Effekt hat. Wo Parlamentarier nach eigenem Gewissen abstimmen, heben sich Ja- und Nein-Stimmen gegenseitig auf, sodass sich die Partei als effektive politische Kraft selbst neutralisiert. Nicht die Durchsetzung demokratischer Beschlüsse bedeutet also eine Schwächung der Partei, sondern der Verstoß dagegen.
Wenn der Sozialismus wieder als ernst zu nehmende politische Kraft auftreten soll, müssen linke Parteien erkennen, dass Organisation die einzige Waffe im Kampf gegen die herrschende Klasse ist. Und wir müssen nicht nur gegenüber ihren Abgeordneten, sondern auch den eigenen gegenüber darauf bestehen, dass Demokratie, wie Kautsky schreibt, nur »die Herrschaft der Masse« bedeuten kann.
Von Karl Kautsky
Die Niederlage im zwanzigsten sächsischen Wahlkreis hat wieder einmal den Gegensatz zwischen Revisionisten und Antirevisionisten in unserer Partei entfacht. Während diese die Schuld an dem Mißerfolg, soweit sie in den eigenen Reihen zu suchen ist, in der mangelhaften Organisation im Wahlkreis sowie in der Disziplinlosigkeit einzelner Genossen suchen, stimmen die Revisionisten das alte Lied an von der Unterdrückung der Meinungsfreiheit, gewissermaßen dem Terrorismus in der Partei, der ihre Tätigkeit lähme.
Besonders entschieden spricht sich in diesem Sinne W. Heine aus in den »demokratischen Randbemerkungen zum Fall Göhre«, die er in der letzten Nummer der »Sozialistischen Monatshefte« veröffentlicht. Er bemerkt, die »Verfolgung« der Revisionisten gehe Hand in Hand mit den Bestrebungen auf Disziplinierung und Zentralisierung in der Organisation, und wendet sich auf das schärfste gegen jene Richtung, die »eine alles umfassende große Organisation möglichst zentralisiert, eine Taktik, eine Theorie« will, denn eine solche »Zentralisierung und Vereinfachung würde unzweifelhaft die Energie der Aktion für einen Augenblick steigern, aber sie würde den Grundsätzen der Demokratie und geistigen Freiheit widersprechen und auf die Dauer die Partei selbst schädigen«.
Bisher meinte man in der Partei, die Einheitlichkeit der Theorie, das heißt der Grundauffassungen, sei wünschenswert, die Einheitlichkeit der Organisation und der Taktik dagegen unerläßlich, nun erfahren wir, daß dem Revisionismus diese Einheitlichkeit ein Greuel ist und daß er in einer geschlossenen Organisation und Taktik bereits eine Gefährdung der »geistigen Selbständigkeit«, der »geistigen Freiheit und Mannigfaltigkeit«, »der Individualität« erblickt, kurz, alles dessen, »was die Seele einer demokratischen Bewegung ist«.
Es läge nahe, darauf mit persönlichen Ausführungen zu antworten, mit einer Untersuchung der »demokratischen Individualität« und der »demokratischen Methoden« des Verfassers der »Demokratischen Randbemerkungen«, Aber dazu scheint mir hier nicht der richtige Ort zu sein, und ich verzichte um so eher darauf, als Heine nicht bloß persönliche Liebhabereien vorbringt, sondern den Gedankengang der ganzen revisionistischen Richtung ausspricht. Ja, man kann sagen, daß vielleicht in keiner anderen Frage der Revisionismus aller Länder so einheitlich ist, trotz aller seiner »Mannigfaltigkeit« und Buntfarbigkeit, wie in der Organisationsfrage.
»Der moderne Parlamentarismus, auch beim demokratischsten Wahlrecht, ist ein Herrschaftsmittel der Bourgeoisie überall dort, wo eine selbstständige politische Klassenorganisation des Proletariats fehlt.«
Der Gegensatz in der Frage der Organisation, der hier auftaucht, dreht sich aber nicht um die Frage der Freiheit der »Persönlichkeit«, des »Individuums« in der Parteiorganisation, sondern um die Frage der Freiheit der Beauftragten der Partei, in erster Linie der Abgeordneten. Können und sollen die Abgeordneten ihre politische Tätigkeit ganz nach Belieben, nach ihrem persönlichen Gutdünken einrichten oder sind sie Beauftragte, die die Aufträge ihrer Auftraggeber auszuführen haben? Und wenn Beauftragte, sind sie solche ihrer Wähler oder der Gesamtpartei? Das sind die Fragen, um die es sich handelt, und in dieser Bestimmtheit muß man sie sich vor Augen halten und sich hüten, sie in jenen Nebel allgemeiner Phrasen von »Meinungsfreiheit«, »demokratischem Prinzip«, »freier Persönlichkeit« verschwimmen zu lassen, in den sie die Revisionisten so gern einzuhüllen suchen. Nicht um die Meinungsfreiheit der Massen handelt es sich, sondern um die Aktionsfreiheit der Führer. Die Demokratie ist keineswegs Herrschaftslosigkeit, ist nicht Anarchie, sondern sie ist die Herrschaft der Masse über die von ihr Beauftragten, im Gegensatz zu anderen Herrschaftsformen, in denen die angeblichen Diener des Volkes in Wirklichkeit seine Herren sind.
Die Masse kann die Verwaltungsgeschäfte ihrer Organisation nicht selbst führen, wenn diese über ein gewisses Maß hinausgewachsen ist; sie muß einzelne Leute ihres Vertrauens damit beauftragen. Die Macht der organisierten Masse wird damit indirekt zu einer Macht ihrer Vertrauensleute oder Führer. Fehlt aber der Masse, aus ökonomischen oder anderen Gründen, etwa Mangel an Zeit oder an Wissen, die Möglichkeit, die Führer zu kontrollieren und zu beherrschen, dann kommt früher oder später der Moment, wo diese die Macht, die sie besitzen, nicht nur gegen die Feinde der Masse, sondern auch gegen ihnen unbequeme Teile dieser selbst wenden, so daß sie schließlich aus ihren Dienern ihre Herren werden.
Das ist oft genug in der Geschichte vorgekommen, das beweist auch der moderne Parlamentarismus. Bei dem allgemeinen Wahlrecht scheint ein modernes Parlament ohne weiteres eine Vertretung der Volksmasse zu sein. Trotzdem ist der moderne Parlamentarismus, auch beim demokratischsten Wahlrecht, ein Herrschaftsmittel der Bourgeoisie überall dort, wo eine selbstständige politische Klassenorganisation des Proletariats fehlt.
Um dies darzutun, sei uns eine kleine Abschweifung gestattet, die anscheinend rein akademisch ist, aber manche der Erscheinungen erklärt, die uns heute beschäftigen.
Bei allgemeinem, gleichem Wahlrecht kann zwar jeder Erwachsene wählen und gewählt werden. Aber um das parlamentarische Mandat wirksam auszuüben, dazu gehören Zeit und Kenntnisse, bei Diätenlosigkeit auch Mittel. Alles das fehlt den arbeitenden Klassen, es ist ein Privilegium der Bourgeoisie, das heißt der Kapitalisten und der Intellektuellen, der Professoren, Advokaten usw., die, von einigen Ausnahmen abgesehen, sozial wie politisch sich zu der Bourgeoisie schlagen.
Aber noch schwieriger, als ein Mandat wirksam auszuüben, ist es, ein solches zu erobern. Dazu gehören nicht bloß Zeit und Kenntnisse, sondern auch Geld, unter Umständen viel Geld.
Denn die Wähler im modernen Parlamentarismus sind eine zerstreute unorganisierte Masse, die erst zusammengeholt, interessiert, aufgeklärt oder bearbeitet werden muß. Bei alledem hat derjenige, der über Zeit, Kenntnisse (oder doch Weltgewandtheit) und Geld verfügt, einen ungeheuren Vorteil vor dem vereinzelten einfachen Manne aus dem Volke. Dieser kann die Konkurrenz mit dem Bourgeois auch auf dem parlamentarischen Gebiet nicht aufnehmen. Wo nicht eine starke Parteiorganisation vorhanden ist, auf die wir gleich zu sprechen kommen, wird die Bewerbung um ein Mandat ein Privileg der Reichen und solcher Intellektuellen, die einen reichen Gönner oder eine reiche und mächtige Clique, Kirche, Staatsgewalt, denen sie dienen, hinter sich haben. Das gibt heute noch in England den dortigen Wahlkämpfen ihren Charakter. Trotz des ausgedehnten Wahlrechtes find sie innere Zwistigkeiten geblieben, die die herrschenden Klassen unter sich ausfechten.
Die Wähler sind aber souverän nur während der Wahl. Nach der Wahl geht die ganze Macht, über die sie verfügen, uneingeschränkt auf den Gewählten über, der damit machen kann, was er will. Er kann seine Wähler verkaufen und verraten, wie es ihm beliebt, der »freien« Entwicklung seiner »Persönlichkeit« steht nichts im Wege. Bis zur nächsten Wahl ist er »frei« und kann das »demokratische Prinzip« auf die Spitze der höchsten Absurdität treiben, seine Wähler haben keine Macht, seine »geistige Freiheit« einzuengen. Freilich, allzu bunt darf er’s nicht treiben, sonst wird er nicht wiedergewählt. Aber sein Nachfolger macht es wahrscheinlich auch nicht besser, und dann — das Gedächtnis der Wähler ist so kurz! Gebärdet er sich kurz vor den Wahlen einigermaßen volksfreundlich, dann deckt das vieles zu.
Damit die Abgeordneten sich in ihrer »geistigen Freiheit« nicht allzu sehr beengt fühlen, ist es für sie notwendig, daß die Wahlen nicht allzuoft stattfinden. Lange Wahlperioden gehören zum Wesen des modernen Parlamentarismus,kurze Wahlperioden finden wir nur in der Zeit der Illusionen der bürgerlichen Demokratie.
»Seine Organisation ist die Waffe, die das Proletariat emanzipieren wird; es ist die dem Proletariat eigentümliche Waffe des Klassenkampfes, wie die des Feudalherrn das Schwert und die eiserne Rüstung, die des Kapitals das Geld ist.«
Alle diese Umstände machen den modernen Parlamentarismus zum besten Werkzeug der Klassenherrschaft der Bourgeoisie auch dort, wo weitgehende demokratische Einrichtungen bestehen, die der Volksmasse eine uneingeschränkte Teilnahme an den Wahlen gestatten. Die Klassenherrschaft wird nicht dadurch in ihr Gegenteil verwandelt, daß die ausgebeuteten und beherrschten Klassen an dieser Herrschaft mitwirken. Jede Form der Klassenherrschaft, die über die primitive Zwangssklaverei erhaben ist, bedarf zu ihrem Gedeihen der Illusion der Beherrschten und Ausgebeuteten, daß der gegebene Zustand, wenn auch nicht der angenehmste, so doch der einzig mögliche sei. Darauf beruht zum Beispiel vornehmlich die Herrschaft der Kirche. Dieselbe Wirkung hat vielfach der moderne Parlamentarismus; er erweckt in den Massen der Wähler den Wahn, sie seien durch den bloßen Besitz des allgemeinen Wahlrechtes schon zu Herren des Staates geworden, und wenn trotzdem die Bourgeoisie weiter herrsche, so beruhe das darauf, daß deren Herrschaft unentbehrlich sei wegen der Unreife der Massen. Selbst in unseren Reihen gibt es Leute, die mit wahrem Fanatismus jeden bekämpfen, der da meint, die Bourgeoisie sei als herrschende Klasse schon entbehrlich geworden. Auf diese Weise stärkt der Parlamentarismus die Klassenherrschaft der Bourgeoisie mehr, als es die brutalste Unterdrückungspolitik vermochte.
Die Anarchisten sehen diese Seite des Parlamentarismus sehr gut. Aber jedes Ding hat zwei Seiten, so auch der Parlamentarismus, und wer die eine aufs schärfste sieht, aber nur die eine, kann eine Erscheinung ebenso vollständig verkennen, wie derjenige, der keine ihrer Seiten recht gesehen hat.
Wir haben oben bereits darauf hingewiesen, daß der Charakter des Parlamentarismus geändert werden kann durch die Entwicklung einer proletarischen Parteiorganisation.
Seine Organisation ist die Waffe, die das Proletariat emanzipieren wird; es ist die dem Proletariat eigentümliche Waffe des Klassenkampfes, wie die des Feudalherrn das Schwert und die eiserne Rüstung, die des Kapitals das Geld ist. Sie ist auch das Mittel, ihm den Parlamentarismus dienstbar zu machen,
In seinen Organisationen erlangt das Proletariat Fähigkeiten, die es zur parlamentarischen Tätigkeit aufs beste geeignet machen. Die Leiter dieser Organisationen werden aber nicht bloß geschulte Parlamentarier, sie gewinnen auch Zeit und Möglichkeit, eine politische Wirksamkeit im Parlament zu entfalten. So produziert das Proletariat seine eigenen Parlamentarier.
In seinen Massenorganisationen gewinnt es aber auch die Kraft, selbständig, ohne bürgerliche Unterstützung, seine Wahlschlachten siegreich zu schlagen. So gering der Geldbeitrag des einzelnen ist, ihre Gesamtzahl ergibt ansehnliche Summen. Noch viel wirksamer als die Geldbeiträge ist aber die freiwillige Arbeit der Genossen, die nie durch die von Mietlingen wirksam ersetzt werden kann.
Der gewählte Abgeordnete bleibt aber einfacher Parteigenosse und als solcher der Parteidisziplin unterworfen, er ist nicht, wie die bürgerlichen Abgeordneten, einer unorganisierten Masse von Wählern verantwortlich, die während der ganzen Legislaturperiode keine Macht über ihn haben und zur Wahlzeit sich oft zu leicht durch schöne Worte betören lassen, sondern er ist in ständiger Abhängigkeit von einer großen Organisation politisch geschulter Parteileute. So sind die Sozialdemokraten die einzigen Wähler, die nicht bloß am Tage der Wahl über ihren Abgeordneten entscheiden, sie sind die einzigen, die von ihren Abgeordneten mit Recht sagen können, daß diese wirkliche Vertreter des arbeitenden Volkes und nicht vom arbeitenden Volke gewählte Vertreter der besitzenden und herrschenden Klassen sind.
Dank der Organisation des Proletariats verändert der Parlamentarismus dort, wo das allgemeine Wahlrecht eine wirksame Teilnahme der Arbeiterschaft ermöglicht, völlig seinen Charakter. Wie das Programm der französischen Arbeiterpartei sagt, wird das allgemeine Wahlrecht aus einem Mittel, das Proletariat zu prellen, zu einem Mittel, es zu emanzipieren.
»Seit einigen Jahren haben wir aber Bestrebungen in den Kreisen der Sozialdemokratie selbst, zwar nicht die politische Organisation des Proletariats zu zerstören, wohl aber die Parlamentarier und auch die Parteijournalisten von ihr unabhängig zu machen.«
Eine ähnliche Wirkung hat die politische Organisation des Proletariats gegenüber der Presse. Auch diese ist überall dort, wo es an einer solchen Organisation mangelt, ein Mittel der Klassenherrschaft der Bourgeoisie und wird es immer mehr.
Nur die Organisation des Proletariats als selbständige Partei ist imstande, der kapitalistischen Presse eine selbständige, wirklich dem Volke dienende Presse entgegenzusetzen. Nur die von den proletarischen Organisationen eingesetzten Journalisten dürfen sich mit Fug Vertreter der öffentlichen Meinung, wenn schon nicht der Gesamtheit, so doch einer großen und wichtigen Bevölkerungsschicht nennen, während die bürgerlichen Journalisten im besten Falle sich selbst zu Vertretern der öffentlichen Meinung ernannt haben, in der Regel aber gar nur Mundstücke irgendeines kapitalistischen Unternehmers sind.
Indeß, so wichtig die proletarische Organisation und ihre Kontrolle über die für das Proletariat eintretenden Parlamentarier und Journalisten ist, sie findet zeitweise Widerspruch selbst in sozialistischen Kreisen. Ehedem waren es. namentlich die Anarchisten, die sich gegen die Kontrolle der Parteiorganisation sträubten, im Namen der »Meinungsfreiheit« und des Rechtes der »freien Persönlichkeit«. Sie kritisieren sehr gut den bürgerlichen Parlamentarismus, suchten aber gerade das einzige Mittel zu zerstören, das ihn unschädlich machen, ja in eine wirksame Waffe des Proletariats verwandeln kann, die politische Organisation der Proletarier.
Seit einigen Jahren haben wir aber Bestrebungen in den Kreisen der Sozialdemokratie selbst, zwar nicht die politische Organisation des Proletariats zu zerstören, wohl aber die Parlamentarier und auch die Parteijournalisten von ihr unabhängig zu machen. Die Parlamentarier sollen nur noch verantwortlich sein ihren Wählern, es soll eine von der Parteikontrolle unabhängige Presse geschaffen und die journalistische Tätigkeit der Parteischriftsteller von jeder Parteikontrolle befreit werden.
In Italien und Frankreich haben diese Erscheinungen sich am offenkundigsten gezeigt. Einesteils ist dort die Parteiorganisation schwach, bilden Journalisten und Parlamentarier eine größere Macht, als zum Beispiel in Deutschland, dann aber ist dort die parlamentarische Fraktion wie der Journalismus der Partei in den letzten Jahren rasch gewachsen, was zur Folge hatte, daß eine Menge bürgerlicher Elemente zu uns stieß, die bis dahin meist als Eingänger auf eigene Faust in der Presse und dem Parlament Politik gemacht. Ein alter Parteigenosse hält es für selbstverständlich, daß er der Parteidisziplin unterworfen ist; ein Neuling findet sich schwer hinein, namentlich, wenn er früher zu einem Mandat kommt, ehe er die Gewohnheiten eines Parteigenossen angenommen, wie das zum Beispiel mit Jaurès der Fall war.
Solche Elemente nahmen von vornherein eine Sonderstellung in der Partei ein. Sobald ihre Richtung von der der Partei abwich, mußte ihnen die Parteidisziplin als eine ungehörige Einengung ihrer freien Persönlichkeit erscheinen. Andererseits gerieten gerade solche Elemente am ehesten in eine Bahn, die von dem bisherigen Wege der Partei abwich.
Der Wahlkampf vom Mai 1898 brachte uns in Frankreich eine Verstärkung unserer Deputiertenzahl von 32 auf 38 und eine Vermehrung der Zahl unserer Stimmen von 400000 auf 800000 — aber von diesen Stimmen wurden 1894 nur 87000 auf die »unabhängigen Sozialisten« abgegeben, dagegen 1898 350000.
In Italien wieder vermehrten die Wahlen von 1900 die sozialistische Fraktion von 16 auf 32 Mann, von denen aber nur zwei Arbeiter.
Diese beiden Wahlen bildeten die Wendepunkte, von denen an die neue Tendenz der »Autonomie« — Autonomie der Wahlkreise, der Fraktion, der Presse, der einzelnen Parlamentarier — erstarkte.
»Die politische Organisation des französischen Proletariats, soweit es durch die ministeriellen Sozialisten vertreten wird, steht nicht mehr über, sondern unter den Abgeordneten. Diese sind aus den Dienern der Partei zu ihren Herren geworden.«
Wie sie in Italien wirkte, hat uns der so lehrreiche wie klare Artikel der Genossin Oda Olberg in Nr. 26 der »Neuen Zeit« deutlich gezeigt.
Aber nicht besser als in Italien hat die neue Tendenz der »Meinungsfreiheit« in Frankreich gewirkt, wie der jüngste Kongreß der »Französischen Sozialistischen Partei« (Jaurésisten) in St. Etienne und die Ereignisse seitdem bewiesen haben. Die »Autonomie« der Presse hat dahin geführt, daß die Parteileitung der genannten Organisation kein Organ zu ihrer Verfügung hat. Das in Paris erscheinende sozialistische Tageblatt, »La Petite République«, gehört ihrer Richtung an, ist aber in Privathänden. Und da dessen Chefredakteur Jaurès in Differenzen mit dem Herausgeber Gérault Richard geriet, gründet der erstere jetzt ein eigenes tägliches Blatt, das ebenso ein privates Unternehmen ist wie das andere und diesem Konkurrenz macht, obwohl es die gleiche Richtung vertritt!
Offenkundiger kann sich die desorganisierende Wirkung der Autonomie der Presse nicht offenbaren.
Und die Abgeordneten? Einen Fraktionszwang kennen sie nicht, jeder stimmt, wie ihm beliebt, so daß bei den Abstimmungen die Fraktion sich vielfach als wirksamer Faktor ausschaltet, da Ja und Nein sich aufheben. Unabhängig waren sie bisher auch von der Parteileitung, die erklären konnte, was sie wollte, die Deputierten taten, was sie wollten. Sie fühlten sich nur den »Wählern« verantwortlich, oder im besten Falle dem Kongreß, nicht aber seiner Exekutive, die doch erst seine Beschlüsse durchzuführen hat; Während der gesamten Legislaturperiode erkannten sie also eigentlich keinen Richter über sich, während der Wahl aber erklärten sie sich für berechtigt, nach Stimmen mit allen Mitteln zu angeln, auch unter Verleugnung ihres sozialistischen Charakters. So war vor den letzten Wahlen (1902) beschlossen worden, die sozialistischen Kandidaten hätten, wenn sie als Parteikandidaten anerkannt werden wollten, das Parteiprogramm als ihr Programm zu affichieren. Viele taten es jedoch nicht, was nicht verhindert, daß sie heute noch als Abgeordnete der Partei auf jedem Kongreß erscheinen und dort das große Wort führen.
Schließlich war der Mehrheit der Genossen in der »Französischen Sozialistischen Partei« diese ewige Disziplinlosigkeit unerträglich geworden; sie verlangten auf dem Kongreß zu St. Etienne, die Abgeordneten sollten der Parteileitung, dem Comité Interfédéral, unterstellt werden. Dieses sollte wieder etwas mehr werden als ein bloßer Briefkasten, in den man Briefe hineinsteckte, die Redner zu Versammlungen forderten.
Die Strömung auf Verstärkung der Parteidisziplin war so stark, daß die Abgeordneten sich ihr fügen mußten. Aber Jaurès, der Erfindungsreiche, war um ein Auskunftsmittel nicht verlegen. Die Abgeordneten haben sich allerdings künftighin mit der Parteileitung über die allgemeine Richtung ihrer Taktik auseinanderzusetzen. Die Parteileitung wurde jedoch geändert. Bestand sie bisher aus dem Comité Interfédéral (den Delegierten der einzelnen Föderationen, in die die Partei zerfällt), so soll die neue Parteileitung, das Comité National, aus dem Comité Interfédéral und der Parlamentsfraktion zusammen bestehen. Das heißt, die Fraktion, die über dreißig Mann stark ist, erhält das Recht, die Parteileitung zu majorisieren. Diese hatte bisher noch die Möglichkeit, gegen die Handlungen der Fraktion oder einzelner ihrer Mitglieder zu protestieren — künftighin wird auch das wegfallen. Die politische Organisation des französischen Proletariats, soweit es durch die ministeriellen Sozialisten vertreten wird, steht nicht mehr über, sondern unter den Abgeordneten. Diese sind aus den Dienern der Partei zu ihren Herren geworden.
Mit Recht erwartet Jaurès von der neuen Einrichtung, sie werde die Unabhängigkeit oder, wie er sich ausdrückt, »die moralische Kraft der Abgeordneten vermehren«, da sie nicht mehr der Gefahr ausgesetzt sein werden, von ihren Freunden desavouiert zu werden. Indem sie das Comité Interfédéral mit den Schwierigkeiten und Verwicklungen ihrer Aufgabe bekannt machen, mit den parlamentarischen Intrigen und Listen der Reaktion, werden sie es daran gewöhnen, sich mit Abstimmungen als notwendigen Folgen des Kampfes zufrieden zu geben, die mitunter die Empörung eines Teiles des Proletariats hervorrufen« (dont parfois une portion du prolétariat se scandalise). (Dépêche de Toulouse, 22. Februar. Zitiert von E. Lafont in seinem Artikel über den Kongreß von St. Etienne, Mouvement Socialiste, 15. März.)
Künftighin wird also auch das Comité Interfédéral in der parlamentarischen Hintertreppenpolitik die Krönung des Klassenkampfes erblicken und Abstimmungen, die in den. Augen des Proletariats ein Skandal sind, mit dem Hinblick auf die Bedürfnisse des Kampfes (!) verteidigen. Die Auflösung der Partei dürfte dadurch nicht aufgehalten werden. Seit dem Kongreß zu Bordeaux, also seit einem Jahre, ist die Zahl ihrer Mitglieder von 11000 auf 8500 zurückgegangen. Bezeichnend ist es auch, daß Millerand, der soviel Bewunderte, ganz kaltblütig das Tischtuch zwischen sich und seinen Freunden zerschnitten hat durch seinen jüngsten heimtückischen Angriff auf das Ministerium. Das hätte er kaum getan, wenn er der Organisation des sozialistischen Ministerialismus noch einen Aufschwung zutraute.
»Ganz unmöglich machen kann man solche Konflikte nicht, sie sind ein Preis der größeren Macht, die das einzelne Individuum und die Klasse durch die Parteiorganisation erhält.«
Weit besser als in Frankreich und Italien steht es bei uns. In Deutschland find die desorganisierenden Wirkungen des Strebens nach »Befreiung der Persönlichkeit« der Abgeordneten bisher gleich Null geblieben, dank der Kraft der Parteiorganisation sowie dem Umstand, daß in der Fraktion immer noch die alten Parteigenossen dominieren — auch unter den jüngst gewählten —, denen die Parteidisziplin in Fleisch und Blut übergegangen ist. Leute, die gleich als Kandidaten zur Welt des Sozialismus kommen, sich in ihr dann nicht zurechtfinden und die Parteidisziplin als eine äußerliche Hemmung ihres Wesens, nicht als ein Stück davon, empfinden, sind bei uns immer noch Ausnahmen. Die autonomistischen Tendenzen haben es bei uns noch nicht viel weiter gebracht als zu mehr oder weniger pathetischen Deklamationen über Diktatoren und Großinquisitoren, Bannstrahlen und Ketzerriechereien, zu endlosen Nörgeleien, die endlosen Zwist erzeugen würden, wenn sie von der Gegenseite beantwortet würden, und zur Verherrlichung einer von der Parteidisziplin unabhängigen Presse, in der angeblich allein ein freies, geistiges Leben sich regen kann.
Die Kleinlichkeit und schließliche Resultatslosigkeit aller dieser Differenzen macht sie um so unerquicklicher. Aber immerhin, sie sind der Spaltung und Desorganisation vorzuziehen, die die Autonomie der Individuen und lokalen Organisationen in Frankreich und Italien hervorgerufen hat. Diese Folgen werden aber auf jeden Fall uns in Deutschland nicht zur Nachahmung reizen. Sie zeigen uns deutlich, daß die »Meinungsfreiheit« der Abgeordneten, ihre Unabhängigkeit von der politischen Organisation des Proletariats auch dort, wo es sich um sozialistisch denkende Abgeordnete handelt, dem Parlamentarismus wieder seinen ursprünglichen Charakter gibt, ein Mittel der Herrschaft der Bourgeoisie mit ihren Intellektuellen über die Volksmasse zu sein. Würde die Sozialdemokratie Heines Bestrebungen verwirklichen, so wäre die unvermeidliche Folge davon die, das allgemeine Stimmrecht aus einem Mittel der Emanzipation wieder in ein Mittel der Prellerei zurückzuverwandeln.
Aber ist es denn nicht richtig, daß die Parteidisziplin auf den Abgeordneten dort lähmend wirkt, wo seine Anschauungen von denen seiner Auftraggeber, der Parteigenossen, abweichen? Daß seine Persönlichkeit dadurch verkümmert und gehindert wird, das Beste zu geben, was sie zu geben vermag?
Kein Zweifel, der Abgeordnete wird nur mit halbem Herzen dabei sein, wenn er eine Politik verfechten soll, die er in seinem Innersten verurteilt. Seine Persönlichkeit wird dadurch nicht nur gelähmt, sie wird direkt degradiert, ja auf die Dauer korrumpiert, zu Unwahrhaftigkeit und zu Charakterlosigkeit, zu der Moral mit doppeltem Boden heruntergebracht.
Wie aber aus dieser Klemme herauskommen, wie die Notwendigkeit der Parteidisziplin mit der Notwendigkeit der freien Verfechtung der Überzeugung vereinbaren?
Das ist das Problem.
Es sieht auf den ersten Blick sehr schwierig aus, aber es ist nur unlösbar, wenn man es für selbstverständlich hält, daß man Krethi und Plethi zu Abgeordneten machen darf. Dagegen löst es sich von selbst, wenn man bei der Auswahl der Kandidaten jene peinliche Sorgfalt walten läßt, die der Wichtigkeit der Funktionen eines Abgeordneten entspricht; wenn man nur Leute zu Kandidaten macht, die erprobt sind als Parteigenossen und deren Vergangenheit die Bürgschaft gibt, daß ihre Überzeugung mit der der Parteigenossen zusammenfällt. Selbstverständlich sind auch dann Konflikte zwischen Überzeugung und Parteidisziplin nicht ausgeschlossen, und sie werden um so schmerzlicher sein, je tiefer begründet die Überzeugung, je hingebender die freiwillige Disziplin. Ganz unmöglich machen kann man solche Konflikte nicht, sie sind ein Preis der größeren Macht, die das einzelne Individuum und die Klasse durch die Parteiorganisation erhält. Keiner von uns, und wäre er der Genialste, würde nur ein Hundertstel dessen bedeuten, was er bedeutet, spräche er nur als Einzelner, nicht als Vertreter der größten Partei des Deutschen Reiches.
Übrigens, was die Parteiorganisation einerseits an Hemmungen der »freien Persönlichkeit« mit sich bringt, macht sie mehr als wett durch die Stützung, die sie so mancher »freien Persönlichkeit« zuteil werden läßt, welche ohne den moralischen Halt, den ihr die Partei gewährt, sich leicht in den sonderbarsten Irrwegen verlöre. Wer weiß, ob der sozialistische Musterminister Millerand so tief heruntergekommen wäre, wenn eine starke Parteiorganisation das freie Ausleben seiner Individualität etwas mehr gehemmt hätte.
Doch dem sei wie ihm wolle, auf jeden Fall ist es für alle Beteiligten von größtem Vorteil, wenn für unsere Abgeordneten die Konflikte zwischen Überzeugung und Disziplin auf ein Minimum reduziert werden. Das geschieht am erfolgreichsten durch sorgfältige Auslese der Kandidaten.
»Je mehr unsere Stimmenzahlen wachsen, um so notwendiger wird es, daß den einzelnen Wahlkreisorganisationen keine absolute Souveränität in der Aufstellung der Kandidaten zusteht und diese eine Angelegenheit der Gesamtpartei ist.«
Hier hapert es aber mitunter. Die Zahl der Erfolg verheißenden Wahlkreise wächst rascher als die Zahl der erprobten, rednerisch begabten, wissensreichen und über die nötige freie Zeit und ökonomische Unabhängigkeit verfügenden Genossen. Namentlich die von den großen Industriezentren abgelegenen Gegenden finden oft nicht den Kandidaten, wie sie ihn brauchen, in ihrer Mitte; sie müssen ihn von auswärts holen und verfallen dabei in ihrer Weltfremdheit leicht auf einen Kandidaten, der vielleicht einen glänzenden Namen in der Literatur oder auch nur einen Titel hat, dem aber noch manches fehlt, was erforderlich ist, soll er ein allseitig befriedigendes Verhalten in der Fraktion verbürgen.
Je mehr unsere Stimmenzahlen wachsen, je größer die Kandidatennot, je entlegener von den großen Zentren des ökonomischen, politischen, geistigen Lebens manche Wahlkreise mit sozialdemokratischen Majoritäten, um so notwendiger wird es, daß den einzelnen Wahlkreisorganisationen keine absolute Souveränität in der Aufstellung der Kandidaten zusteht und diese eine Angelegenheit der Gesamtpartei ist, was am einfachsten dadurch geschieht, daß die Wahlkreise über ihre Kandidaten zum Landtag sich zu verständigen haben mit ihrem Landesvorstand oder der Landesversammlung, über ihre Kandidaten zum Reichstag, mit Landesvorstand und Parteivorstand. 1876 setzte der Parteitag selbst die einzelnen Reichstagskandidaturen fest, das heißt, soweit seine Zeit reichte. Die Erledigung einer Anzahl Kandidaturen wurde wegen vorgerückter Zeit unmöglich und mußte dem vom Parteitag eingesetzten Zentralwahlkomitee überwiesen werden.
Man sieht, es sind verschiedene Formen der Einflußnahme der Gesamtpartei auf die Auslese der Kandidaten möglich. Welche Form die praktischste, ist eine Frage für sich, die hier nicht weiter erörtert werden soll. Zunächst handelt es sich um die Anerkennung des Prinzips, daß die Aufstellung eines Reichstagskandidaten eine Angelegenheit ist, welche die Gesamtpartei ebensosehr angeht, wie den Wahlkreis.
Freilich, dies soll die schnödeste Verletzung des demokratischen Prinzips in sich schließen, das da besagt, von unten herauf, durch die Selbständigkeit der Massen, nicht von oben herab auf bureaukratischem Wege, soll alles politische Tun sich vollziehen. Die jüngste Affäre des zwanzigsten sächsischen Wahlkreises hat ja eine wahre Sturmflut demokratischer Entrüstung über die undemokratische Vergewaltigung der Wähler durch eine Behörde in einigen Parteiorganen entfesselt.
Wenn es aber einen demokratischen Grundsatz gibt, dann ist es der, dass die Majorität das Übergewicht haben soll über die Minorität, und nicht umgekehrt. Die Majorität ist in unserem Falle die Gesamtpartei, die Minorität der Wahlkreis. Vergessen wir nicht, daß wir über das feudale Repräsentativsystem hinaus sind, wo der einzelne Delegierte als der Repräsentant einer besonderen Lokalität auftrat. Der Reichstagsabgeordnete ist der Vertreter des deutschen Volkes, nicht eines Wahlkreises, und als Parteimann ist er der Vertreter der Gesamtpartei, der drei Millionen, nicht der vielleicht zehntausend Wähler, die für ihn ihre Stimme abgegeben haben. Er erhält eine Tribüne, in der er nicht bloß zu seinem Wahlkreis, sondern zu ganz Deutschland spricht, und sein Tun und Lassen im Reichstag wirkt nicht bloß auf seinen Wahlkreis zurück, sondern auf die Gesamtpartei. Was er gut macht, kommt der ganzen Partei zugut, was er schlecht macht, blamiert oder kompromittiert die ganze Partei.
Die Auswahl eines jeden einzelnen Reichstagskandidaten ist daher eine wichtige Angelegenheit für die gesamte Partei.
Da aber diese nicht gut die Auswahl selbst besorgen kann, müssen es ihre Vertrauensmänner tun. Wem das zu »bureaukratisch« oder »zentralistisch« erscheint, der möge vorschlagen, die Kandidaten sollen durch Urabstimmung sämtlicher Parteigenossen festgestellt werden. Wer das nicht für angängig hält, darf sich über den Mangel an Demokratie nicht beschweren, wenn diese Tätigkeit wie manche andere, die der Gesamtpartei zufällt, von einer oder mehreren Parteiinstanzen besorgt wird.
»Im Kriege und in der Politik ist nicht immer die gleiche Taktik am Platze.«
Natürlich nicht von einer obersten Instanz, etwa der Parteileitung oder einem Zentralwahlkomitee allein. Die Parteigenossen im Wahlkreis haben die Hauptlast der Wahlarbeit zu tragen, von ihnen vor allem hängt der Erfolg des Kandidaten ab. Es wäre unsinnig, ihnen einen Kandidaten aufdrängen zu wollen, den sie nicht mögen. Sie sollen nur nicht das Recht haben , der Partei einen Abgeordneten aufzudrängen, gegen den deren Mehrheit schwere Bedenken hat. Sie sollen sich ihre Kandidaten selbst aussuchen, aber hervortreten mit ihm sollen sie erst, nachdem die dazu bestimmten Vertreter der Gesamtpartei ihrer Wahl zugestimmt, was in der Regel auch geschehen, in alten Wahlkreisen mit geschulten Genossen eine bloße Formalität sein wird. Wo aber ein Protest notwendig wird, da ist es für alle Beteiligten besser, er wird stillschweigend unter den genannten Faktoren erledigt. Wären wegen der Wahl im zwanzigsten Wahlkreis erst Landesvorstand und Parteivorstand befragt worden, ehe Göhre selbst aufgefordert wurde, zu kandidieren, so hätten sich nicht die peinlichen Szenen abgespielt, die sicher unserem schließlichen Kandidaten geschadet, aber ebenso sicher auch Göhres Ansehen nicht gefördert haben.
Tatsächlich handelt es sich hier auch nicht um etwas Neues, Unerhörtes, sondern um ein Gewohnheitsrecht. Es war seit jeher in der Partei üblich, daß einzelne Wahlkreise sich mit dem Parteivorstand oder Landesvorstand wegen eines neuen Kandidaten freundschaftlich verständigten. Aber die Partei ist zu groß geworden, als daß dies stillschweigende Gewohnheitsrecht ausreichte. Das Gewohnheitsrecht hört auf, ein Recht zu sein, wenn es aufhört, als selbstverständlich anerkannt zu werden, wenn seine Bestimmungen, ja seine Existenz strittig werden. Da muß es ausdrücklich festgesetzt, kodifiziert werden, weil sonst seine Durchsetzung in einzelnen Fällen eine zu große Kraftverschwendung bedeutet und zu vielen überflüssigen Konfliktstoff mit sich bringt. Unsere Parteimaschinerie bewegt sich, seitdem sie so groß geworden, mit zu großem Knarren und Klappern und mit zu großem Kraftverlust. Eine genauere Festsetzung des bisher Üblichen, dazu vielleicht einige Neuerungen in der Organisation sind erforderlich, sollen die Reibungswiderstände auf ein Minimum reduziert werden und die Parteimaschinerie wieder geräuschlos laufen. Es wäre ein allerdings höchst unfreiwilliges Verdienst Heines, wenn sein Versuch, die auf dem Gewohnheitsrecht basierende Parteiorganisation aufzulösen, zu ihrer genauen statutarischen Festlegung und dadurch zu einer größeren Straffheit der Organisation führte.
Dazu gehört aber vor allem eine genaue Fixierung der Kompetenzen des Wahlkreises gegenüber der Gesamtpartei. Das gilt nicht bloß für die Auswahl der Kandidaten. Wir haben gesehen, daß Abgeordnete, denen die Parteidisziplin lästig wird, sich ihr dadurch zu entziehen suchen, daß sie erklären, sie seien nicht der Partei, sondern ihren Wählern Rechenschaft schuldig. Das ist in Frankreich sehr verbreitet bei den ministeriellen Sozialisten, wurde aber auch schon in unseren Reihen praktiziert. Es klingt sehr »demokratisch«, ist aber tatsächlich nur ein Ausspielen feudaler, partikularistischer Tendenzen gegen die Einheitlichkeit, die einer modernen politischen Partei innewohnen muß. Wenn ein Sozialdemokrat von der Partei an seine Wähler appelliert, so ist das ein ebenso reaktionärer Trick, wie wenn Bülow sich im preußischen Landtag ein Vertrauensvotum sucht, das ihm der Reichstag vorenthält.
Lassen wir uns also durch »demokratische Randbemerkungen« und Gemeinplätze nicht irre machen in dem, was uns zu einer wirklichen Demokratie, das heißt einer Herrschaft der Massen über ihre Beauftragten, not tut in der Verstärkung und strafferen Zusammenfassung unserer Organisation.
Im Kriege und in der Politik ist nicht immer die gleiche Taktik am Platze. In den modernen Schlachten ist die zerstreute Gefechtsart, die Auflösung der Kolonnen, geboten. In der Politik dagegen gilt heute noch die Taktik der Kriege des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts; da siegt die geschlossene Kolonne, die planmäßig und einheitlich wirkt. Wenn uns eine Schlacht angeboten wird, haben wir uns nicht zu zerstreuen, um unsere »Persönlichkeit« »frei entfalten« zu können. Unsere Losung muß lauten: Schließt die Reihen!
Jonas Thiel ist Mitglied der Linken und Contributing Editor bei JACOBIN.