08. Juli 2024
Der Wahlsieg der Labour Party ist vor allem das Produkt der Selbstsabotage der Tories. Der Rechtsruck von Labour, für den Keir Starmer steht, eröffnet aber auch Raum für eine linke Opposition und unabhängige Kandidaten wie Jeremy Corbyn.
Kein Erdrutschsieg für Starmer: Die Wahlbeteiligung zeigt, dass das Wahlergebnis eher auf die Stimmenverluste der Tories zurückgeht.
IMAGO / ZUMA Press WireAls die Ergebnisse der britischen Parlamentswahlen eintrudelten, machte der schottische Labour-Vertreter Jim Murphy eine bemerkenswerte Aussage. Murphy, der Labour 2015 zu einer vernichtenden Niederlage in Schottland geführt hatte, freute sich, dass die Scottish National Party (SNP) dieses Mal relativ schlecht abschnitt: »Sie haben nicht nur Stimmen an Labour verloren, sondern auch an Nichtwähler. In der Politik ist es viel schwieriger, Menschen, die zu Nichtwählerinnen geworden sind, wieder zu mobilisieren.«
»Es ist eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen, die verzeichnet wurden, seitdem in Großbritannien das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde.«
Murphy konnte seine Begeisterung über die Vorstellung, dass sich Menschen komplett von der Politik und von Wahlen abwenden, offensichtlich kaum verbergen. Seine Partei war auf einer Welle der Apathie an die Spitze der Macht gesurft: Mit 60 Prozent war die Wahlbeteiligung im Vergleich zur letzten Wahl im Jahr 2019 um mehr als 7 Prozentpunkte gesunken. Es ist eine der niedrigsten Wahlbeteiligungen, die seit Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Großbritannien verzeichnet wurden.
Die Gesamtzahl der für Labour abgegebenen Stimmen war geringer als im Jahr 2019. Wenn man die gesunkene Wahlbeteiligung in Betracht zieht, hat Keir Starmer den Stimmenanteil der Partei gegenüber 2019 um weniger als 2 Prozent erhöht. Das Endergebnis von 33,7 Prozent lag deutlich unter dem durchschnittlichen Stimmenanteil der Labour-Partei unter Jeremy Corbyns Führung – und weit entfernt vom Höhenflug mit rund 40 Prozent im Jahr 2017. Dennoch: Starmer hat die Mehrheit der Sitze im Unterhaus erringen können. Das ist vor allem dem Zusammenbruch der Konservativen Partei zu verdanken sowie dem britischen Winner-takes-all-Wahlsystem.
Der Meinungsforscher John Curtice kommentierte dementsprechend: »Man müsste eher sagen, dass die Konservativen die Wahl verloren haben, als dass Labour sie gewonnen hat.« Die Tories erlitten einen heftigen Stimmenverlust von fast 20 Prozentpunkten. 2019 hatte die Brexit-Partei von Nigel Farage noch hunderte Kandidatinnen und Kandidaten zurückgezogen, um Boris Johnson den Weg zum Sieg zu ebnen. Diesmal wollte Farage mit seiner Partei – die sich inzwischen Reform UK nennt – den Tories schaden. Das schaffte sie und holte tatsächlich 14 Prozent der Stimmen.
Es war genau das Ergebnis, auf das Starmer und sein Team gehofft hatten. Es gab nie das Ziel, mit einem ehrgeizigen Reformprogramm anzutreten, mit begeisterten Wählerinnen und Wählern im Rücken das Parlament übernehmen und die vielschichtigen sozialen Probleme des Landes anzugehen. Ziel der Starmer-Truppe war es vielmehr, Labour für alle, die vom dysfunktionalen Wirtschaftsmodell profitieren, akzeptabel zu machen.
Eine große Mehrheit an Parlamentssitzen nach einem laschen Wahlkampf mit einer Wahlenthaltung von 40 Prozent ist aus ihrer Sicht nahezu ideal. Die Wahl wird sicher nicht der Startschuss für eine reformorientierte Regierung sein.
Die Konservativen haben sich ihre Demütigung redlich verdient, nachdem sie in den vergangenen vierzehn Jahren immer wieder die Axt an die öffentlichen Dienste Großbritanniens gelegt hatten. Allerdings scheint die neue Regierung die Absicht zu haben, dieses zerstörerische Erbe fortzuführen.
Für diejenigen, die auf mehr als nur einen Personalwechsel an der Spitze hoffen, gab es dennoch einige Lichtblicke. Jeremy Corbyn, der von Starmer aus der Labour Party geworfen wurden, behielt seinen Sitz im Norden Londons als unabhängiger Kandidat. Eine Umfrage kurz vor der Wahl hatte noch darauf hingedeutet, dass Corbyn gegen den lokalen Labour-Kandidaten, den Gesundheitsunternehmer Praful Nargund, verlieren würde. Am Ende besiegte er Nargund jedoch – dank einer Massenmobilisierung von Anhängerinnen und Anhängern, die an den Wahlkampf von Labour im Jahr 2017 erinnerte.
Neben Corbyn werden vier weitere Unabhängige ins Unterhaus einziehen, die Sitze von Labour übernehmen. Alle hatten in ihrem Wahlkampf Starmers Unterstützung für Israels Krieg (und Verbrechen) in Gaza betont. Mehrere andere pro-palästinensische Unabhängige standen ebenfalls kurz vor dem Wahlsieg, darunter Leanne Mohamad, der nur knapp 500 Stimmen fehlten, um den Labour-Schattengesundheitsminister Wes Streeting zu schlagen. Für Mohamad wäre das ein großer Erfolg gewesen, denn Streeting hat bereits angekündigt, die Privatisierung des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS weiter vorantreiben zu wollen.
Sogar Starmer selbst wurde in seinem Londoner Wahlkreis von einem Antikriegsaktivisten namens Andrew Feinstein herausgefordert. Wie aus dem Nichts holte Feinstein satte 19 Prozent der Stimmen, während Starmers Anteil stark sank, obwohl er nicht wirklich Gefahr lief, abgewählt zu werden. Die Grüne Partei, die ebenfalls den Angriff auf Gaza kritisiert, erhielt fast 7 Prozent der Stimmen und gewann vier Sitze. Es ist ihr bisher bestes Wahlergebnis.
Diese Stimmen für die Antikriegs- und Grünen-Kandidaten deuten an, dass es durchaus Potenzial für progressive Bewegung gibt, die eine soziale und ökologische Reformagenda im Inland mit einer auf Frieden, Menschenrechten und Klimagerechtigkeit basierenden Außenpolitik verknüpft. Wir wissen bereits aus Corbyns Zeit als Labour-Chef, dass derartige Ideen in der britischen Gesellschaft breite Unterstützung finden. Nach der jüngsten Wahl wissen wir jetzt auch, dass es möglich ist, auch außerhalb des Rahmens der Labour Party politisch Fuß zu fassen – trotz des britischen Wahlsystems mit seinen hohen Eintrittshürden für kleinere Fraktionen.
Derweil hat Labour die meisten ihrer schottischen Sitze von der SNP zurückerobert, die in den vergangenen zehn Jahren ihr größter Konkurrent in Schottland gewesen war. Die SNP gewann diese Sitze erstmals 2015 mit einem Programm, das sich gegen Sparmaßnahmen und Atomwaffen stellte. Nachdem sich die SNP-Vorsitzende Nicola Sturgeon damit links von Labour positioniert hatte, bewegte sie sich aber sowohl politisch als auch stilistisch in die Mitte, vor allem nach dem Brexit-Referendum von 2016. Die Ursprünge der aktuellen SNP-Krise liegen in Sturgeons Zeit als Parteivorsitzende. Der Niedergang verschärfte sich jedoch, als zunächst Humza Yousaf und dann John Swinney die Führung der Partei übernahmen.
Die Labour-Führung wird das Wahlergebnis in Schottland zweifellos als Beweis dafür heranziehen, dass sich die Frage der schottischen Unabhängigkeit erledigt habe und endlich alles wieder so sein könne wie vor dem Referendum 2014. Diese selbstgefällige Haltung von Labour könnte der SNP theoretisch die Möglichkeit eröffnen, bis zu den nächsten schottischen Parlamentswahlen 2026 wieder Stimmen von Labour zurückzugewinnen. Fraglich ist, ob die Scottish National Party zu einer derartigen Erneuerung fähig ist.
»Die Abgeordneten von Reform UK werden alles tun, um Migranten und Geflüchtete für die sozialen Probleme verantwortlich zu machen, die sich unter Starmer verschärfen werden.«
Der Stimmenanteil für Nigel Farages Reform UK war nicht wesentlich höher als das Ergebnis der UK Independence Party im Jahr 2015. Diesmal reichte es jedoch für vier Sitze, darunter einen für Farage selbst. Außerdem hat die Partei mehrere zweite Plätze erreicht. Dieses Ergebnis von Reform UK zeigt einmal mehr, dass man migrationsfeindlichen Parteien nicht das Wasser abgraben kann, indem man ihre Ideen übernimmt.
Nichtsdestotrotz sind die beiden großen Parteien inzwischen mehr oder weniger auf Farages Position zur Einwanderung aus dem Jahr 2015 eingeschwenkt und haben im Wahlkampf versprochen, mehr Abschiebungen durchzuführen. Damit haben sie nichts erreicht, außer die Rhetorik von Farage und seinen Verbündeten zu legitimieren. Jetzt, da sie in Westminster vertreten sind, werden die Abgeordneten von Reform UK alles tun, um Migranten und Geflüchtete für die sozialen Probleme verantwortlich zu machen, die die Regierung Starmer wahrscheinlich weiter verschärfen wird.
Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Rechten damit Erfolg haben werden. Zwar wird Starmer nun mit einer großen Mehrheit der Sitze Premierminister, allerdings muss er sich auch einer linken Konkurrenz stellen, die es nicht gab, als Tony Blair 1997 an die Macht kam.
Es dauerte mehrere Jahre (und drei Wahlen), bis die Unzufriedenheit mit New Labour so weit erstarken konnte wie die linke Opposition, die mit Starmer heute konkurriert. Es gibt keinen guten Grund, warum die Rechte ein Monopol auf den Widerstand gegen Starmer haben sollte. Die britische Linke muss nun die richtigen Lehren aus den Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts ziehen.
Daniel Finn ist Redakteur bei Jacobin.