07. April 2021
Vor einem Jahr versprach Keir Starmer, die Labour Party zu einer starken Opposition zu machen. Doch seither lässt er Boris Johnson alles durchgehen – den härtesten Kurs fährt er gegen den linken Flügel seiner eigenen Partei.
Keir Starmer ist seit einem Jahr Labour-Chef – die Bilanz ist ein Disaster.
Im ersten Jahr seiner Amtszeit als Vorsitzender der britischen Labour Party ist es Keir Starmer gelungen, selbst die Erwartungen seiner schärfsten Kritikerinnen zu unterbieten. Laut Umfragen genoß er unmittelbar nach seiner Wahl breite Unterstützung innerhalb der Bevölkerung – nach kurzer Zeit lag seine Labour Party in den Umfragen Kopf-an-Kopf mit den Tories. Ein Jahr später hat jeder fünfte Labour-Wähler eine negative Haltung zu Starmer. Derzeit liegt die Zufreidenheit mit seiner Arbeit in der Bevölkerung bei -9 Prozent.
Starmer-Anhänger deuten diese Zahlen als eine Nachwirkung der Corbyn-Ära. Doch die jüngsten Umfragewerte deuten auf etwas anderes hin. Wenn die Labour Party unter Corbyn die Wählerinnen und Wähler wirklich so nachhaltig verschreckt hätte, dann wäre Starmer in den Umfragen anfangs nicht so erfolgreich gewesen. Vielmehr hätte das Gegenteil passieren sollen: Die Menschen, die Starmer glaubten, als er behauptete, seine Politik stehe in Kontinuität mit Corbyn, hätten ihn zunächst in einem ungünstigen Licht gesehen, ihre Meinung dann aber mit der Zeit geändert.
In Wirklichkeit ist Starmer selbst für die Bilanz seines ersten Jahres als Oppositionsführer verantwortlich. Er hat einerseits Sozialistinnen und Sozialisten entfremdet, indem er eine Kampagne gegen die Linke führte und Jeremy Corbyn aus der Partei ausschloss, und andererseits Liberale verloren, indem er einer der korruptesten und autoritärsten Regierungen Großbritanniens keinen Widerstand leistete.
Anstatt die liberale Kritik an der Laissez-faire-Politik der Regierung in Bezug auf die Pandemie zu teilen, sich ihrer autoritären Gesetzgebung zu widersetzen und ein paar ehrgeizige Maßnahmen zur Sicherung eines gerechten und nachhaltigen Aufschwungs nach der Krise vorzuschlagen, hat er einen autoritären Kurs eingeschlagen – nämlich im Kampf gegen die Sozialistinnen und Sozialisten innerhalb seiner eigenen Partei.
Unter Starmer wurden Versammlungen von Labour-Basisorganisationen im ganzen Land unterbrochen oder ausgesetzt, demokratische Prozesse – wie die Wahl des nächsten Labour-Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters von Liverpool – behindert, und Abgeordnete ihrer Posten enthoben, weil sie sich regierungskritisch äußerten. Würde ein linker Vorsitzender die Partei in dieser Weise führen, gäbe es einen riesigen medialen Aufschrei.
Dabei haben einige von Starmers ungeheuerlichsten Fehltritten kaum Aufmerksamkeit erhalten. Zu der »Spy Cops Bill« und der »Overseas Operations Bill«, die verdeckt ermittelnden Polizeikräften und im Ausland eingesetzten Streitkräften bei ihrer Verwicklung in schwerste Verbrechen effektive Straffreiheit verschaffen, gab es so gut wie keine ernsthafte Berichterstattung. Und die »Police Crackdown Bill«, die es der Polizei erleichtert, gegen Protestierende vorzugehen, die sich ihren Anweisungen widersetzen, fand nur dann Erwähnung, wenn liberale Kommentatoren Lügengeschichten über diejenigen weiterverbreiten, die gegen das Gesetz demonstrierten.
Um es mit einem Lieblingswort des liberalen Establishments zu sagen: Die Situation in Großbritannien nimmt wahrhaft »orwellsche« Züge an. Die Linie der Regierung ist sakrosankt – nicht nur die gefügigen Medien pflichten ihr bei, sondern auch die sogenannte Opposition. Das hängt beides miteinander zusammen: Denn wenn sich die Labour Party nicht gegen die Regierungspolitik ausspricht, dann kommen auch Journalistinnen und Journalisten leichter mit unkritischer Berichterstattung davon.
In Großbritannien sind inzwischen mehr als hunderttausend Menschen an Covid-19 gestorben, während die Regierung von einem Skandal in den nächsten schlittert und nun das Recht der Bevölkerung einschränkt, gegen ihren Machtmissbrauch zu protestieren. Doch keine der mächtigsten Institutionen des Landes hat auch nur den geringsten Widerspruch eingelegt. Die einzigen, die sich aktiv gegen diese Regierung zur Wehr setzen, sind die Protestierenden auf der Straße. Doch anstatt Unterstützung aus der Opposition zu erhalten, werden ihre Demonstrationen verurteilt. Es sind Zeiten wie diese, in denen Freiheiten und Rechte beinahe unbemerkt verloren gehen.
Das Verhältnis zwischen Liberalen und Sozialisten war immer angespannt, gerade auch innerhalb der Labour Party. Trotzdem haben sie in der Vergangenheit oft zusammengestanden, um gegen den Missbrauch staatlicher und wirtschaftlicher Macht zu kämpfen.
Keir Starmer hat keinerlei Ähnlichkeit mit den Liberalen vergangener Zeiten, von denen viele Seite an Seite mit Sozialistinnen und Sozialisten für das allgemeine Wahlrecht, für den Frieden und für die Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte gekämpft haben. Das hat vielleicht weniger mit ihm persönlich zu tun als mit der historischen Situation, in der wir uns befinden.
Der Liberalismus ist stets dem Schutz des Status quo verpflichtet. Heute wird aber offensichtlich, dass dieser Status quo nicht mehr zu retten ist. Unsere Wirtschaft befindet sich in einer anhaltenden Stagnation, die nur von schweren Krisen unterbrochen wird. Unsere Demokratie ist in Gefahr und unsere Umwelt geht vor unseren Augen zugrunde.
Für diese Probleme gibt es keine moderaten Lösungen. Wir können entweder den Weg der Rechten einschlagen, auf dem die herrschende Ordnung nur durch rohe Gewalt und reaktionäre Politik aufrechterhalten wird und sehenden Auges auf den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch zusteuern. Oder wir erkennen an, dass wir dem Ende der Corona-Pandemie mit einer radikalen, demokratisch-sozialistischen Transformation unserer wirtschaftlichen, politischen und sozialen Institutionen begegnen müssen.
Nach einem Jahr im Amt steht außer Frage, welchen dieser beiden Wege Starmer gewählt hat. Da er es versäumt, gegen die Regierung Stellung zu beziehen, wird er weiter an Unterstützung verlieren. Viele seiner treuesten liberalen Anhängerinnen und Anhänger haben bereits begonnen, sich von ihm zu distanzieren. Doch sie werden ebensowenig eine wirkliche Opposition gegen die Regierung darstellen können wie er.
Nun ist es an der Linken innerhalb wie außerhalb der Labour Party, eine Alternative aufzuzeigen. Wir könnten in einer freien, gerechten und nachhaltigen Gesellschaft leben, in der unsere wichtigsten Ressourcen sozialisiert sind und demokratisch verwaltet werden. Die Regierung versucht, mit Unterstützung der Opposition, solche Zukunftsvisionen zugunsten einer reaktionären Nekropolitik auszuboten. Es ist nun unsere Aufgabe als Sozialistinnen und Sozialisten, diesen Hoffnungsfunken am Leben zu erhalten.
Grace Blakeley ist Ökonomin und Journalistin. Ihre Texte erschienen unter anderem bei »Tribune«, »Jacobin«, »The Guardian« und im »New Statesman«. Ihr erstes Buch »Stolen« wurde 2021 auf Deutsch im Brumaire Verlag veröffentlicht.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.