05. September 2024
Der britische Premierminister Keir Starmer verkündet, neue Sparmaßnahmen seien unvermeidlich. Damit gibt er sich machtloser als er tatsächlich ist.
Premier Keir Starmer in Berlin, 28. August 2024.
Premierminister Keir Starmer hat die britische Bevölkerung schon einmal vorgewarnt: Der im Oktober aufzustellende Haushalt werde »schmerzhaft« sein. Verantwortlich dafür seien die Tories und ihr ebenso rücksichtsloses wie unwirtschaftliches Missmanagement in den vergangenen Jahren. Dadurch sei ein Loch in Höhe von 22 Milliarden Pfund in den Staatsfinanzen entstanden.
Es ist zweifellos richtig, dass die diversen konservativen Regierungen die britische Wirtschaft außergewöhnlich schlecht gemanagt haben. Das hatte und hat weiterhin Auswirkungen auf Produktivität, Leistung und Gerechtigkeit. Doch die Vorstellung, die britische Regierung stehe vor einer Art schwarzem finanziellen Loch, das ohne drastische Kürzungen der Staatsausgaben nicht zu stopfen sei, ist einfach absurd.
Wie Ökonomen aus dem gesamten politischen Spektrum seit Jahrzehnten betonen, sind Staatsausgaben in einer wohlhabenden Volkswirtschaft wie der britischen auf kurze Sicht nicht durch die eigenen Steuereinnahmen begrenzt.
Erstens kann die Regierung neue Schulden machen, um die Ausgaben zu decken. Solange diese Schulden für produktive Zwecke verwendet werden – beispielsweise gute Ausbildung der Arbeitskräfte, Ausbau der physischen und sozialen Infrastruktur sowie Förderung der grünen Wende – werden sie mittel- bis langfristig wieder hereingeholt. Genau durch solche schuldenfinanzierte, produktive Investitionen hat Großbritannien seine Schulden nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreich abbauen können. Höhere Steuern für Reiche und Großunternehmen sorgten darüber hinaus dafür, dass der aus dem Wirtschaftswachstum erwirtschaftete Wohlstand viel gerechter in der britischen Gesellschaft verteilt wurde, als es heute der Fall ist.
Zweitens kontrolliert der britische Staat das Geldsystem des Vereinigten Königreichs. Nachdem die Banken 2008 die Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatten, zog die Bank of England alle Register, um die Interessen der Vermögensinhaber zu schützen. Die Zinssätze wurden gesenkt und riesige Geldsummen in das Finanzsystem gepumpt. Heute hingegen sorgen die bisher relativ hohen Zinssätze dafür, dass die Kreditaufnahme für den Staat sehr viel teurer ist. Die Rechnung dafür tragen die Steuerzahler. Das muss aber nicht sein: Die Regierung könnte die Inflation viel gezielter und effektiver in den Griff bekommen, indem sie beispielsweise die großen Unternehmen, die von den explodierenden Preisen profitiert haben, stärker besteuert, oder indem sie die Kreditvergabe der Geschäftsbanken direkter kontrolliert.
»Das Problem ist also, dass die Macht des Staates von Einzelinteressen vereinnahmt wurde und daher nur noch zu deren Nutzen eingesetzt wird.«
Stattdessen verlässt sich der britische Staat weiterhin auf das stumpfe Instrument der höheren Zinsen, was zu höheren Rechnungen für arbeitende Menschen führt sowie zu höheren Kosten bei der Rückzahlung von Staatsschulden.
Im Zuge der sogenannten quantitativen Lockerung (Quantitative easing, QE) überweisen die Steuerzahler jedes Jahr Milliarden Pfund an die Geschäftsbanken. Im Jahr 2023 musste die britische Regierung 44 Milliarden Pfund zahlen, um die Kosten der Bank of England zu decken, wovon der Großteil direkt an die Geschäftsbanken weitergeleitet wurde. Langfristig dürfte die quantitative Lockerung die britische Gesellschaft wohl mehr als 100 Milliarden Pfund kosten.
Kurz gesagt (und wie ich kürzlich auch schon in Tribune dargelegt habe) gibt es eine ganze Menge an Dingen, die die britische Regierung tun könnte, um die derzeitigen wirtschaftlichen Probleme des Landes anzugehen. Austerität ist eine bewusste Wahl – keine unvermeidliche Notwendigkeit. Warum also erklären Starmer und seine Finanzministerin Rachel Reeves der Bevölkerung weiterhin, es gebe keine andere Möglichkeit?
Seit vielen Jahrzehnten ist es eine beliebte Taktik neoliberaler Politikerinnen und Politiker zu behaupten, der Nationalstaat sei in unserer modernen globalisierten Wirtschaft zu schwach, um wirklich bedeutende wirtschaftliche Veränderungen zu bewirken. Wenn eine Regierung versucht, Steuern zu erhöhen oder neue Vorschriften zu erlassen, würden wohlhabende Einzelpersonen und Unternehmen einfach abwandern. Der frühere Vorsitzende der Federal Reserve, Alan Greenspan, sagte einst, »dank« der Globalisierung seien »die politischen Entscheidungen in den USA weitgehend durch die globalen Marktkräfte ersetzt« worden. Anders ausgedrückt: Der Staat ist machtlos.
Dieses Argument scheint jedoch immer dann hinfällig zu werden, wenn sich das Kapital mal wieder in einer Krise befindet. Als die Banken 2008 einen Rettungsschirm brauchten, war der Staat sofort da, um diesen bereitzustellen. Als sich die Märkte im Zuge dieser Krise nicht wirklich erholten, sprang der Staat erneut ein. Als Großunternehmen während der Coronavirus-Pandemie gerettet werden mussten, war der Staat ebenfalls zur Stelle und unterstützte sie finanziell. In dieser besonderen Zeit war der Staat sogar mächtig genug, die gesamte Wirtschaft lahmzulegen.
»Das Bild vom machtlosen Staat erlaubt es der Politik, ihr Versagen bei der Bewältigung tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Probleme gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen.«
Wie mächtig der Staat in Wirklichkeit ist, weiß und merkt jeder, der schon einmal versucht hat, sich dieser Machtausübung zu widersetzen. Sei es die Inhaftierung friedlicher Demonstranten oder das Erlassen von gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen: Der britische Staat hat kein Problem damit, mit Gewalt gegen alle Gruppen vorzugehen, die eine Bedrohung für den Status quo darstellen.
Das Problem ist also nicht, dass es dem modernen Staat in einer globalisierten Wirtschaft an Macht mangelt. Das Problem ist vielmehr, dass die Macht des Staates von Einzelinteressen vereinnahmt wurde und daher nur noch zu deren Nutzen eingesetzt wird.
Das Bild vom machtlosen Staat erlaubt es der Politik, ihr Versagen bei der Bewältigung tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Probleme gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Währenddessen wird hinter den Kulissen jeder denkbare Mechanismus genutzt, um die Interessen der Verbündeten aus der Wirtschaft und der Geldgeber zu befriedigen.
Auch in der derzeitigen Labour-Regierung sind Lobbyisten bestens vernetzt und nutzen diese Macht, um die Interessen ihrer jeweiligen Kunden durchzusetzen. Da wundert es kaum noch, dass Ministerin Reeves einerseits behauptet, ihr Ziel sei es, die Ausgaben der Regierung für private Berater deutlich zu senken, KPMG aber einen Regierungsauftrag über 223 Millionen Pfund erhält. Es ist der zweitgrößte Vertrag, den die Beratungsfirma je abgeschlossen hat.
Premierminister Starmer würde es nie zugeben, aber er hat die Macht, die öffentlichen Ausgaben und Investitionen zu erhöhen, die Steuern für Reiche und für Großkonzerne zu erhöhen sowie Big Business und die Finanzinstitute angemessen zu regulieren. Stattdessen wird er aber denjenigen, die es am wenigsten verkraften können, erneute Sparmaßnahmen aufzwingen – nicht, weil er muss, sondern weil er will.
Grace Blakeley ist Redakteurin bei Tribune, Host des Podcasts A World to Win und Autorin des Buches Stolen: So retten wir die Welt vor dem Finanzkapitalismus.