04. Juli 2024
Nach tödlichen Protesten gegen eine umstrittene Steuerreform reißen die Unruhen in Kenia nicht ab. Die aktuelle Eskalation ist eine direkte Folge der Politik des IWF, der das Land ökonomisch abhängig macht.
Protestierende in Kenias Hauptstadt Nairobi, 25. Juni 2024.
IMAGO / ZUMA Press WireIn Kenia entzündet sich an einer geplanten Steuerreform der Regierung der Unmut der Bevölkerung. Am vergangenen Dienstag stürmten Demonstrierende das Parlament in Nairobi und setzten es teilweise in Brand. Die Sicherheitskräfte erschossen daraufhin mehrere Demonstrierende und mussten die Abgeordneten evakuieren. Obwohl vorangegangene Proteste bereits die Erhöhung der Steuern auf Brot sowie Öl und Geldtransfers verhindern konnten, reißen sie nicht ab. Schuld an der Eskalation ist der Internationale Währungsfonds (IWF).
»Aus dem hehren Ziel, den Kapitalmarkt durch seriöse und liquide Organisationen zu stabilisieren, ist ein in weiten Teilen undurchsichtiges Konstrukt zur Durchsetzung westlicher Hegemonie geworden.«
Kenias Staatsverschuldung hat sich seit der Bankenkrise 2008 relativ zum Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt. Die damit einhergehende Finanzkrise rief den IWF auf den Plan: eine internationale Organisation, die 1944 zusammen mit der Weltbank in Bretton Woods gegründet wurde, um insbesondere durch Kreditvergabe an hochverschuldete Länder das internationale Finanzsystem zu stabilisieren und die ökonomische Entwicklung ärmerer Regionen voranzutreiben.
Aus dem hehren Ziel, den Kapitalmarkt durch seriöse und liquide Organisationen zu stabilisieren, ist allerdings ein in weiten Teilen undurchsichtiges und interessengeleitetes Konstrukt zur Durchsetzung westlicher Hegemonie geworden. Die Vorgehensweise des IWF ist dabei immer ähnlich: Notleidenden Staaten, vorzugsweise aus dem globalen Süden, werden Kredite gewährt, die günstiger verzinst sind als Staatsanleihen; im Gegenzug verpflichten sich eben jene Staaten zu teils umfassenden wirtschaftspolitischen Reformen, sogenannten Konditionalitäten, um die Rückzahlung dieser Kredite sicherzustellen. Dazu schließt der IWF Kreditverträge mit den betreffenden Staaten. Werden die Vorgaben nicht umgesetzt, fließt kein Geld.
Aus diesem Grund setzten zahlreiche lateinamerikanische Länder infolge der regionalen Staatsschuldenkrise zu Beginn der 1980er Jahre Wirtschaftsreformen um. Argentinien etwa liberalisierte sein Bankensystem, Costa Rica verkaufte einen Großteil der staatlichen Unternehmen und Kolumbien erhöhte die Preise auf Waren des täglichen Bedarfs um bis zu 40 Prozent. Auch während der europäischen Schuldenkrise der 2010er Jahre war der IWF aktiv. Zusammen mit der EZB und der EU-Kommission bildete er die gefürchtete Troika, die den überschuldeten Staaten, allen voran Griechenland und Portugal, Kredite gegen Reformen gewährte. Im Zuge dessen kürzte Griechenland 2013 die Zuschüsse für Krankenhäuser um 25 Prozent, während Portugal den Arbeitsmarkt zulasten der Arbeiterklasse flexibilisierte.
Die derzeitigen Geschäftsbeziehungen zwischen Kenia und dem IWF gehen auf eine durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste Finanzkrise und die darauffolgende Kreditbeantragung durch den damaligen Präsidenten Kenyatta zurück. 2021 gewährte der IWF zunächst Gelder in Höhe von 2,3 Milliarden US-Dollar. Die neu gewählte Regierung um Präsident Ruto beantragte in den Jahren 2022 sowie 2023 weitere Hilfen, da auch der Ukrainekrieg der kenianischen Wirtschaft stark zugesetzt hatte. Heute schuldet Kenia dem IWF 2,5 Milliarden US-Dollar. Im Gegenzug verpflichtete sich die Regierung zu wirtschaftspolitischen Maßnahmen und Reformen, darunter: Steuererhöhungen, Streichung jeglicher Subventionen und Privatisierung staatlicher Unternehmen. Das kenianische Parlament beschloss Ende 2023 auf Vorschlag des Präsidenten den Verkauf von 35 Staatsunternehmen, darunter die Kenya Pipeline Company, die Kenya Electricity Generating Company und mehrere Banken. Die Mehrwertsteuer für Kraftstoffprodukte wurde auf 16 Prozent erhöht und damit verdoppelt.
»Die Regierung reagiert auf den Unmut der Bevölkerung mit aggressiver, teils tödlicher Repression und Einschränkungen der Pressefreiheit.«
Die Folgen dieser Maßnahmen sind dramatisch. Seit Jahren liegt die Inflation konstant über 6 Prozent, die Preise für manche Lebensmittel haben sich mehr als verdoppelt. In der Folge steigen Arbeitslosigkeit und Armut im Land. Jeder dritte Kenianer ist auch nach den Hilfskrediten des IWF noch arm. Von der positiven Entwicklung des Bundesinlandsprodukts kommt bei den Menschen nichts an und die heftigen Proteste vom vergangenen Dienstag stellen schon lange keine Ausnahme mehr dar. Stattdessen reagiert die Regierung auf den Unmut der Bevölkerung mit aggressiver, teils tödlicher Repression und Einschränkungen der Pressefreiheit.
Die Vorgehensweise des IWF ist aus mehreren Gründen kritikwürdig. Erstens handelt der IWF die Kreditkonditionalitäten mit den Regierungen aus. Das ist bei völkerrechtlichen Verträgen zwar Standard, doch im Bereich der Finanzpolitik – einem parlamentarischen Hoheitsbereich – ist es demokratietheoretisch durchaus bedenklich, wenn dem Parlament erhebliche Gestaltungsmacht genommen wird. Indem sich die Regierungen auf den Zwang des IWF berufen, um ihre Sparmaßnahmen gegen den Willen der Bevölkerung durchzudrücken, entziehen sie sich jeglicher demokratischen Verantwortlichkeit.
Zweitens zielen die vom IWF bevorzugten und vorgeschlagenen Reformen meist auf die Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie einen Abbau des Sozialstaates und Steuererhöhungen. Es ist empirisch belegt, dass das sowohl die sozioökonomische als auch rechtliche Sphäre der Bürgerinnen und Bürger einschränkt. Denn zunächst fallen durch die Kürzungen im Staatshaushalt Sozialleistungen weg, was sich unmittelbar negativ auf die soziale Teilhabe der Bevölkerung auswirkt. Die Demonstrationen und Proteste, die sich in Reaktion darauf formieren, veranlassen dann wiederum das herrschende Regime dazu, Freiheitsrechte einzuschränken, um ihre Macht zu erhalten.
»Das kenianische Parlament beschloss den Verkauf von 35 Staatsunternehmen, darunter die Kenya Pipeline Company, die Kenya Electricity Generating Company und mehrere Banken.«
Ein Beispiel dafür ist etwa der Absturz Kenias im World Press Freedom Index von Platz 69 auf 116, der sich knapp ein Jahr nachdem die ersten IWF-Reformen umgesetzt wurden, vollzog. Auch in Lateinamerika gibt es deutliche Hinweise darauf, dass die IWF-Reformen der 1980er und 90er Jahre negative soziale Folgen verursacht haben. Die möglicherweise nicht intendierten menschenrechtlichen Auswirkungen von IWF-Krediten sind eine zentrale Frage, die es noch zu diskutieren gilt.
Drittens basieren die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des IWF auf überkommenen, neoliberalen Modellen, deren Implementierung in den Schuldnerstaaten nahezu ausnahmslos keine bis negative Wirkungen entfalteten. Sowohl die Intervention des IWF in der arabischen Welt zu Beginn der 2010er Jahre als auch das bereits angesprochene Engagement in Lateinamerika zeitigt bis heute keine Erfolge. Die entscheidende Frage ist, wessen Interessen der IWF eigentlich dient, wenn schon die Bevölkerung und das Land nicht von den Krediten profitieren.
Lösungsansätze haben sich lange auf Umstrukturierungen des IWF beschränkt, die sich schon allein wegen der Vetomacht USA auf absehbare Zeit nicht realisieren lassen und vollkommen illusorisch sind. Zu wenig Aufmerksamkeit erhielten bisher nationale Gerichte, die in jüngerer Zeit mehrere einschneidende Reformen in unterschiedlichen Ländern verhindern konnten. In Portugal kippte das Verfassungsgericht 2013 etwa Rentenkürzungen und Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst, die die Troika dem Land während der Eurokrise auferlegt hatte. Und auch in Kenia blockierte der High Court über Monate das Gesetz, das die oben erwähnten Steuererhöhungen auf Kraftstoffprodukte verdoppelte. Zwar befolgte die Regierung das Urteil nicht und erhob die Steuern trotzdem. Allerdings hatte das Gesetz nun jegliche juristische Grundlage verloren, wodurch die Proteste gegen die Steuererhöhungen zusätzlich legitimiert wurden. Zudem scheut der IWF davor zurück, verfassungswidrige Reformen weiterzuverfolgen, um nicht als Verfassungsbrecher zu gelten und weiterhin als seriöser Kreditgeber auftreten zu können. Aus diesem Grund ließ sich der IWF nach dem portugiesischen Urteil auf weitere Verhandlungen ein.
»Der IWF löscht keine Brände, er entzündet sie«.
Der IWF wird wohl noch lange Staaten des globalen Südens tyrannisieren, da es an internationalen Kontrollen fehlt, die rechtliche Einhegung unzureichend ist und die Kompetenzen des IWF schleichend erweitert werden. All das geht zulasten der Ärmsten dieser Welt. Ein Lichtblick ist die Erkenntnis, dass wir mit nationalen Gerichten eine letzte Bastion zur Verteidigung elementarer Rechte zur Verfügung haben. Es ist daher entscheidend, nicht nur ihre unmittelbare Wirkung durch Urteile, sondern vor allem die von ihnen ausgehende (De)Legitimations- und Ermächtigungswirkung genauer zu analysieren.
Unerträglich ist, dass die Proteste mittlerweile 39 Todesopfer forderten. Auch die Inbrandsetzung des Parlamentes ist einer Demokratie unwürdig. An dieser Stelle sei aber an ein berühmtes Zitat des Harvard-Professor Robert J. Barro erinnert: »Der IWF löscht keine Brände, er entzündet sie«.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, im Zuge der Proteste wären 22 Menschen ums Leben gekommen. Dies wurde am 04. Juli korrigiert.
Joel S. Bella arbeitet am Institut für Friedensicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) und forscht zu Fragestellungen des nationalen Verfassungsrechts sowie der Einhegung internationaler Finanzinstitute.