20. Juni 2024
KI öffnet neue Einfallstore für einen Klassenkampf von oben, dem Gewerkschaften nicht beikommen werden, wenn sie einseitig an der Sozialpartnerschaft festhalten.
»Bei KI ist die Gefahr für den einzelnen Beschäftigten, dass man Arbeitsdruck noch stärker als individuelles Problem wahrnimmt.«
Dietmar Kuttner ist ein typisch deutscher KI-Experte. Er ist aber kein Programmierer bei einem Start-up und auch kein Fernsehphilosoph, den Mensch-Maschine-Fragen bewegen. Kuttner ist 61 Jahre alt, hat vor vielen Jahren eine Ausbildung zum Elektrotechniker gemacht und ist seit 2002 Betriebsrat bei Siemens. Er erzählt in hessischem Singsang, dass in seinem Frankfurter Werk gasisolierte Mittelspannungsschaltanlagen gefertigt werden. Seit 1989 sei er dort beschäftigt, also seit 35 Jahren. Seit 2007 ist er im Gesamtbetriebsrat von Siemens.
Auch wenn Siemens seit einiger Zeit versucht, sich als international konkurrenzfähiger Tech-Konzern mit breiter Angebotspalette aufzustellen, ist Kuttners Arbeitsplatz westdeutsche Industrie, also das, was mal als Herzstück der BRD-Wirtschaft galt. Und genau hier wird Kuttner 2018 unfreiwillig zum KI-Experten: »Auslöser war bei uns ein Bericht in unserer Hauszeitung. Da stand drin, dass wir 450 KI-Systeme in Anwendung beziehungsweise Entwicklung haben und mir war kein einziges bekannt.« Also habe er vom Ansprechpartner auf Unternehmensseite Informationen verlangt, aber keine bekommen. Es kam zum Konflikt.
Mittlerweile hätten sich Betriebsrat und Management auf einen Prozess geeinigt, erzählt er. Jede Software, die eingeführt wird, müsse durch diesen Prozess laufen, bei dem der Betriebsrat die Genehmigung erteilt: »Da ist jetzt seit neuem auch ein Haken zu setzen, wenn es eine KI beinhaltet.« Nur: was ist überhaupt eine KI? »Wir haben keine harte Begriffsdefinition, eben auch um andere algorithmische Systeme, die sich auf die Arbeit der Kollegen auswirken würden, mit einfangen zu können.« Zu Konflikten mit dem Management kommt es trotzdem immer mal wieder: »Wenn wir feststellen, da läuft was, wo wir keine Informationen zu bekommen haben, haken wir selbstverständlich nach. Wenn wir feststellen, dass das was Negatives für die Kollegen ist, dann schalten wir im schlimmsten Fall auch mal ab.«
Kuttner treibt die Angst seiner Kolleginnen und Kollegen um. »Die machen sich einfach große Sorgen aufgrund der schnellen, technologischen Entwicklungen.« Deswegen haben Kuttner und seine Betriebsratskollegen Umschulungen und Weiterbildungen für die Siemens-Beschäftigten erstritten: »80 Millionen Euro wurden mittlerweile in Weiterbildung investiert. Das geht bis zu einer Robotikschulung bei uns in der Fertigung.«
Für Kuttner drückt der Schuh ganz woanders: »Wir haben 1.500 KI-Entwickler bei Siemens weltweit. Wir haben zum ChatGPT hunderte Anwendungen, mit denen Siemens Geschäftsmodelle entwickeln will.« Fünf Ausschusssitzungen zu Technologiethemen würde es im Jahr vom Gesamtbetriebsrat geben. »Viel zu wenig für diese Masse, die aktuell eingeführt wird«, sagt Kuttner. »Ich komme kaum hinterher und die 40-Stunden-Woche reicht eigentlich nicht.«
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Nina Scholz arbeitet als freie Journalistin für Deutschlandfunk, Freitag und andere. Meistens beschäftigt sie sich mit Techunternehmen und Gewerkschaften.