08. Dezember 2022
Deutsche Gewerkschaften sind zahm und streikfaul, britische dagegen konfliktfreudig, so das Klischee. Die Realität sind anders aus.
Die verlorenen Kämpfe im Osten verschlechterten auch die Bedingungen in Westdeutschland.
Die vergangenen Monate scheinen die Klischees über britische und deutsche Gewerkschaften zu bestätigen. Schließlich haben die Eisenbahner- und die Postgewerkschaft in Großbritannien mehrere Monate gestreikt und protestiert, während in Deutschland die Lohnforderungen an der Inflationsgrenze kratzen und Sozialproteste nur mühsam anlaufen. Doch ist damit alles gesagt? Ein Blick in die Geschichte lässt zweifeln, denn auch die britischen Gewerkschaften suchten in der Vergangenheit die Sozialpartnerschaft – wurden aber brüsk zurückgewiesen. Und auch in Deutschland gehören wilde Streiks und Betriebsbesetzungen zur Geschichte und Gegenwart der Arbeiterbewegung. Beide Bewegungen haben vieles gemeinsam – und für beide ist die Zukunft offen.
Während des Ersten Weltkriegs verliefen die Arbeiterbewegungen in Großbritannien und Deutschland in sehr ähnlichen Bahnen. In beiden Ländern erklärten Gewerkschaftsführungen 1914 einen Streikverzicht, auf beiden Seiten der Front wurde dieser einige Jahre später durch Betriebsvertrauensleute aufgekündigt. Ab 1917 kam es zu wilden Streiks und zur Bildung einer gewerkschaftlichen Gegenführung – in Deutschland waren das die Revolutionären Obleute, in Großbritannien die Shop Stewards.
Die Obleute protestierten gegen das sogenannte Vaterländische Hilfsdienstgesetz von 1916, das den Gewerkschaften Anerkennung in Form von Arbeiterausschüssen sicherte, ihnen aber im Gegenzug das Streikrecht nahm. Dieser frühe sozialpartnerschaftliche Deal brach mit einem Knall auseinander: Steigende Mieten, Hunger und die Kriegsniederlage führten im November 1918 zur Revolution in Deutschland. Auch in Großbritannien mussten sich die Dinge grundlegend ändern: Das Wahlrecht wurde ausgeweitet, Premierminister David Lloyd George versprach den siegreichen Veteranen aus der Arbeiterklasse ein »Home for Heroes«. Doch daraus wurde nichts.
»Die Gewerkschaften begingen den fatalen Fehler, die Entpolitisierung der Krise mitzutragen, indem sie nur wirtschaftliche Streiks unterstützten.«
In beiden Ländern nutzten die Herrschenden bald darauf ökonomische Krisen, um die neugewonnene Schlagkraft der Arbeitenden wieder zunichte zu machen. In Deutschland bestimmte die Inflation von 1919–23 das Geschehen, in Großbritannien die Massenarbeitslosigkeit. Beides erhöhte zwar die Wut auf den Kapitalismus, zerstörte aber zugleich jede Streikmacht.
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Ralf Hoffrogge ist Historiker und lebt in Berlin, wo er seit über zehn Jahren in der Mietenbewegung aktiv ist. 2025 wird im Brumaire-Verlag sein Buch »Das Laute Berlin« über die hauptstädtischen Mietenproteste seit der Finanzkrise erscheinen.