27. Januar 2021
In den Niederlanden ist die Regierung zurückgetreten. Der Grund: Tausende Familien wurden fälschlich des Sozialbetrugs beschuldigt und zu Rückzahlungen gezwungen. Viele hat das in den Ruin getrieben. Die Kindergeld-Affäre ist auch die Folge eines tief verankerten institutionellen Rassismus.
Der zurückgetretene Premier Mark Rutte wird vermutlich wieder auf das Amt kandidieren.
Mindestens 26.000 Familien stehen am Rande des Bankrotts und haben mehr Schulden, als sie jemals zurückzahlen könnten. Unzählige verlieren ihre Wohnungen oder ihre Jobs. Beziehungen gehen in die Brüche. Eine Person nimmt sich das Leben, nachdem sie zu einer Rückzahlung von Zehntausenden von Euro aufgefordert wurde. Das alles sind die Folgen einer extrem strengen Politik gegen den Missbrauch des Sozialleistungssystems, die jahrelang von der niederländischen Steuerbehörde verfolgt wurde – und die einen Skandal auslöste, der Premier Mark Rutte und sein Regierungskabinett am 15. Januar zum Rücktritt zwang.
Die Affäre, die sich um Betrugsermittlungen bei Empfängern von Kindergeldzuschlägen dreht, wurde seit Anfang 2019 Schritt für Schritt durch investigative Journalistinnen aufgedeckt. In den Niederlanden haben berufstätige Elternpaare sowie Alleinerziehende Anspruch auf einen staatlichen Zuschuss, um die Kosten der Kinderbetreuung zu decken. Für Menschen mit geringem Einkommen können sich diese Zuschläge auf bis zu 90 Prozent der Kosten belaufen. Diese Beiträge werden meistens direkt an die Betreuungseinrichtungen überwiesen, aber die Verantwortung dafür liegt bei den Eltern – und so kommt es, dass diese jährlich Tausende von Euro zurückzahlen müssen, wenn das Finanzamt befindet, dass die Zuschüsse zu Unrecht vergeben wurden.
Genau das ist unzähligen einkommensschwachen Familien widerfahren: Das Finanzamt forderte fälschlicherweise die Kindergeldzuschläge rückwirkend zurück, oft erst mehrere Jahre nach ihrer Auszahlung. Viele mussten sich dadurch hoch verschulden, was wiederum eine Reihe weiterer Probleme auslöste. In manchen Fällen wurden Familien bereits wegen kleinster Fehler des Betrugs bezichtigt: Eine fehlende Unterschrift oder eine offene Rechnung über 200 Euro genügten schon, um die gesamte Summe der erhaltenen Leistungen für das ganze Jahr rückerstatten zu müssen.
In anderen Fällen führten unberechtigte Betrugsermittlungen bei Kindertagesstätten dazu, dass alle Eltern, deren Kinder eine dieser Einrichtungen besuchten, des Betrugs verdächtigt wurden. Andere Familien wurden durch automatisierte Systeme der »Risikoermittlung« ausgewählt. Sie wurden zu Unrecht zu Rückzahlungen hoher Beträge gezwungen und ihnen wurde die Antragsstellung auf weitere Unterstützung in der Zukunft verwehrt. Einsprüche dagegen wurden systematisch herausgezögert oder ignoriert. Interne Dokumente belegen, dass die Verantwortlichen wussten, dass Unschuldige ins Visier geraten würden, diese Fälle aber als Kollateralschäden verbuchten.
Diese Praktiken hatten System, sie sind ein Beispiel des institutionellen Rassismus. Die große Mehrheit der Betroffen haben einen Migrationshintergrund. Ermittlungen wurden unter anderem aufgrund von Kriterien wie doppelter Staatsangehörigkeit oder ausländisch klingenden Nachnamen eingeleitet – ein Vorgehen, dass von der Datenschutzbehörde wiederholt verurteilt wurde. So wurden etwa alle Leistungsempfänger ghanaischer Herkunft einer Überprüfung unterzogen. In Mail-Korrespondenzen bezeichneten Beamte Minderheiten als »Zwartjes« (etwa »die kleinen Schwarzen«). Dieser Aspekt des Skandals wird nach wie vor nur ungenügend geahndet.
Nachdem die Folgen dieser vermeintlichen Betrugsbekämpfungspolitik durch die Medien publik geworden sind, wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss gebildet. Im vergangenen Dezember legte dieser einen Bericht mit dem Titel »Beispiellose Ungerechtigkeit« vor. Die Steuerbehörde habe »in grober Weise gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen«, dagegen hätten Betroffene »jahrelang keine Chance gehabt«. Dem Untersuchungsbericht zufolge waren die verantwortlichen Kabinettsmitglieder seit langem über die Probleme informiert; Whistleblower hatten darauf gedrängt, den betroffenen Eltern Hilfen für die immer weiter steigenden Schulden zuzusichern. Diese Appelle wurden jedoch wiederholt ignoriert.
Renske Leijten saß für die sozialistische Partei (SP) im Ausschuss und war maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Kindergeld-Affäre auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Sie erkannte, dass die Notlage dieser Familien auch aufgrund von Klassenunterschieden nicht ernst genommen wurde. In einem Interview mit der Zeitung Trouw erklärt sie: »Eine der bittersten Einsichten ist, dass diese Menschen völlig außerhalb des Blickfelds von Entscheidungsträgern, Politikerinnen und den Medien waren. Das sind hart arbeitende Menschen, aber mit den niedrigsten Einkommen. Wir reden hier nicht vom Trainer des Hockeyteams, sondern vom Hausmeister des Vereins. Für diese Menschen gibt es keinen Rechtsschutz, es ist erschreckend.«
Nach wochenlangen Beratungen über die Ergebnisse des Ausschusses trat das gesamte niederländische Kabinett – ein Bündnis aus vier Mitte-rechts-Parteien, angeführt von Premierminister Ruttes rechtsliberaler VVD – am 15. Januar formell zurück. Bis zu den Wahlen im März wird das Kabinett noch kommissarisch weiterregieren. Mark Rutte wird auch im kommenden Wahlkampf die Galionsfigur seiner Partei bleiben. Ein verantwortliches Kabinettsmitglied, Eric Wiebes, trat direkt zurück; Lodewijk Asscher, derzeit Parteichef der Sozialdemokraten (PvdA) und damals in seiner Rolle als Minister mitverantwortlich für den Skandal, hat sich aus dem Wahlkampf zurückgezogen.
Die niederländische Politik ist von der Affäre schwer gezeichnet. Nun wurde eine Reihe von Maßnahmen angestoßen, die verhindern sollen, dass sich dergleichen wiederholt: eine Reform des Kindergelds, Antidiskriminierungsschulungen für das Personal der Steuerbehörde, mehr Transparenz der Regierungsprozesse und mindestens 30.000 Euro Entschädigung für jede betroffene Familie. Die Debatte über weitere Maßnahmen wird im Parlament fortgesetzt.
Wie dem auch sei – dieser Skandal ist bezeichnend für den sozial-liberalen Konsens, der zunehmend Eingang in die niederländische Politik gefunden hat: Der Zugang zu staatlicher Unterstützung sollte weitestgehend eingeschränkt werden, und Menschen, die irgendeine Art von Sozialleistung erhalten, gelten als nicht vertrauenswürdig. Letzten Monat wurde eine Sozialhilfeempfängerin zu einer Rückzahlung von 7.000 Euro verurteilt, weil ihre Mutter gelegentlich Lebensmittel für sie besorgt hatte; das Gesetz erlaubte es dem Gericht nicht, eine niedrigere Strafe zu verhängen. In vielen Gemeinden ist es inzwischen gängige Praxis geworden, Wohnungen von Sozialhilfeempfängern zu observieren und deren Zahnbürsten zu zählen, um zu überprüfen, ob sie womöglich allein leben und überhaupt keinen Anspruch auf die Leistungen haben, die sie erhalten.
Der aufgedeckte Betrug beim Bezug von Sozialleistungen beläuft sich in den Niederlanden auf etwa 120 bis 150 Millionen Euro jährlich. Zum Vergleich: Durch Mehrwertsteuerbetrug fehlen jährlich schätzungsweise 4 Milliarden Euro in den Steuerkassen, insgesamt werden jährlich geschätzte 22 Milliarden Euro an Steuergeldern hinterzogen. Der Sozialleistungsbetrug wird in den Medien und der Politik in überzogenem Maße skandalisiert, was zu einer unverhältnismäßigen Empörung in der Bevölkerung beiträgt: Mehr als die Hälfte glauben, dass es die wichtigste Aufgabe des Sozialministeriums sei, den Missbrauch von Sozialleistungen zu verringern. Das führt wiederum dazu, dass Politiker über das gesamte Spektrum den Eindruck vermitteln wollen, dass sie besonders hart dagegen vorgehen: Das strenge Verfahren bei den Kindergeldzuschlägen geriet unter einem sozialdemokratischen Minister außer Kontrolle, und das Gesetz aus dem Jahr 2013, das für jeden Fehler von Leistungsempfängern automatisch hohe Geldstrafen vorsieht – unabhängig davon, ob diese wissentlich oder unwissentlich begangen wurden – erhielt sogar die Zustimmung der Grünen (GroenLinks).
In den letzten zwanzig Jahren haben ideologisch motivierte Haushaltskürzungen die Vorstellung bekräftigt, dass staatliche Leistungen – sei es Arbeitslosen- oder Wohngeld – kein Grundrecht darstellen, sondern eher ein Zeichen des Wohlwollens der Regierung sind. Die Debatte um die Empfängerinnen und Empfänger von Sozialleistungen ist durchzogen von Phrasen wie »Man muss der Gesellschaft etwas zurückgeben« und »Sie müssen zur Arbeit motiviert werden« – ganz so, als würden die Menschen es genießen, arbeitslos zu sein. Der Zugang zu Einrichtungen wie Sozialwohnungen wird auf eine immer kleiner werdende Gruppe eingeschränkt, um die öffentliche Unterstützung dafür auszuhöhlen und zukünftige Kürzungen leichter durchzubringen. Und Politikerinnen und Politiker des Mainstreams befeuern bereitwillig die rassistischen Ansichten über Menschen mit Migrationshintergrund, die von staatlichen Unterstützungsprogrammen abhängig sind oder diese missbrauchen.
Diese Umstände ermöglichten den Skandal um die Kindergeldzuschläge. Hat man Leistungsempfänger erst einmal als Profiteure dargestellt, dann erscheint es auch legitim, sie alle als potenzielle Betrüger zu behandeln. Wenn Politiker unablässig ein härteres Vorgehen gegen den Missbrauch von Sozialleistungen fordern, werden unschuldige Bürgerinnen, die aufgrund einer unrechtmäßigen Betrugsermittlung ihre Wohnungen verlieren, zu Kollateralschäden. Und solange eine Regierung den Rassismus in ihren Institutionen – für den es zahllose Beispiele gibt – nicht als reales Problem erachtet, werden Bürger weiterhin zu Unrecht aufgrund ihres Nachnamens in die Schusslinie geraten.
Der Zusammenbruch der niederländischen Regierung vollzieht sich inmitten einer beispiellosen Pandemie, in deren Kontext staatliche Finanzspritzen für die Wirtschaft in noch nie dagewesener Höhe bereitgestellt wurden. Eine der Folgen der Corona-Krise ist auch der rapide Anstieg der Zahl der Sozialhilfeempfänger: Etwa 150.000 Menschen wurden arbeitslos und ein Drittel aller Erwerbstätigen wurde indirekt durch staatliche Subventionen unterstützt, um Entlassungen zu verhindern.
Nichtsdestotrotz hat sich die Einstellung gegenüber denjenigen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, nicht signifikant verändert. Umfragewerte, welche die Unterstützung für linke und rechte Parteien abbilden, sind ebenso unverändert geblieben. Ein Bericht des niederländischen Instituts für Sozialforschung deutet an, dass ein langfristiger Effekt bei jungen Erwachsenen zu beobachten sein könnte: Wer in einer Krise wie der heutigen heranwächst, wird im späteren Leben eher zu einer Politik der Umverteilung und der staatlichen Eingriffe tendieren. Was die Gesamtbevölkerung angeht, kommt der Bericht jedoch zu dem Schluss, dass eine etwaige Ausbildung wirtschaftlicher Solidarität während der Pandemie aller Wahrscheinlichkeit nach nur vorübergehend sein wird.
Die aktuellen Umfragen deuten darauf hin, dass die derzeit stärkste Partei – die rechtsliberale VVD – auch nach den Wahlen am 17. März stärkste Kraft bleiben wird. Die VVD ist seit zehn Jahren in verschiedenen Konstellationen in der Regierung: mal mit der sozialdemokratischen PvdA und mal mit der rechtsextremen PVV. Doch die vielen Skandale, die diese Regierungsbündnisse erlebt haben, blieben nie an der VVD oder an ihrem Vorsitzenden und Premierminister Rutte hängen. Tatsächlich sind nur 6 Prozent der Wählerschaft der VVD der Meinung, dass Rutte wegen des Kindergeld-Skandals überhaupt zurücktreten sollte. Seit Ausbruch der Pandemie ist die allgemeine Unterstützung für ihn nur noch weiter gestiegen.
Sowohl unter Mitte-links- als auch Mitte-rechts-Wählerinnen haben sich Wut und Unzufriedenheit über den Skandal breit gemacht. Aber die linken Parteien sind wahrscheinlich zu schwach, als dass sie das Thema während des Wahlkampfs auf der Tagesordnung halten könnten – und eine glaubwürdige, solidarische Alternative zu einer Doktrin, die 26.000 Familien beinahe in den Bankrott getrieben hat, können sie auch nicht anbieten. Die sozialdemokratische PvdA ist maßgeblich für die Affäre mitverantwortlich und politisch richtungslos: Wenn sie in der Regierung ist, verfolgt sie eine neoliberale Politik, und wenn sie in der Opposition ist, besinnt sie sich ihrer Ideale. Und die Sozialistische Partei (SP) ist in einem Kulturkonservatismus erstarrt, der sowohl Aktivistinnen als auch potenzielle Wähler entfremdet.
Sofern die Wahlen nicht wegen der Pandemie verschoben werden, wird die Diskussion über die Bekämpfung des Coronavirus alle anderen Themen übertönen. Das könnten sich die Parteien auch zu Nutze machen: Dass die Regierung ausgerechnet wenige Tage vor ihrem Rücktritt eine öffentliche Debatte über Ausgangssperren entfachte, könnte durchaus ein strategischer Schachzug gewesen sein, um vom Skandal um die Kindergeldzuschläge abzulenken. Ob die Affäre im Wahlkampf eine Rolle spielen wird, bleibt also abzuwarten. Ganz egal welche Regierung nach den Wahlen gebildet wird – das tief verankerte Misstrauen gegenüber Sozialhilfeempfängern und der institutionelle Rassismus werden Teil der politischen Kultur der Niederlande bleiben.
Kevyn Levie ist Journalist*in, in sozialen Bewegungen aktiv und lebt in Berlin.
Kevyn Levie ist Journalist*in, in sozialen Bewegungen aktiv und lebt in Berlin.