31. März 2021
Der Staat tut derzeit wenig, um das Kinosterben aufzuhalten. Doch mit den Kinos schwindet auch ein Teil der kritischen Öffentlichkeit. JACOBIN hat eine Betreiberin besucht.
Seit den 1980ern Jahren bietet das Spuntik anspruchsvolles Programmkino im Kiez.
Das Licht fällt auf die Leinwand. »Scheiß drauf, den Strom und die Lampenabnutzung gönn’ ich mir jetzt«, habe sie sich beim Schauen der Berlinale gesagt, erzählt die Kinobetreiberin Andrea Stosiek. Die Frau mit dem Nasenpiercing und der runden Brille sitzt in einem dunklen Saal, die Reihen um sie herum sind leer, weil das Berliner Filmfestival in diesem Jahr online stattfindet.
Als die Kinobetreiberin von ihrer Privatvorführung erzählt, beginnt sie zu rechnen: Die Projektorlampe des Kinos koste ungefähr 1000 Euro, sie sei etwa ein Jahr nutzbar, etwa 2,50 Euro würden pro privater Filmstunde also draufgehen. »Das kostet halt alles Geld«, sagt Stosiek. Doch der Kinoabend allein sei schon gut gewesen, gibt sie lachend zu, obwohl sie die Berlinale-Filme dieses Jahr eher mäßig fand. Abgesehn von einer Ausnahme: A Cop Movie, ein Film über die Korrumpiertheit der mexikanischen Polizei. »Hoffentlich kommt der in die Kinos«, sagt Stosiek, obwohl sie das auch selbst in der Hand hat.
Doch wann Stosiek das Sputnik in Berlin-Kreuzberg wieder öffnen wird, weiß sie nicht. Seit sechs Monaten lebt sie von ihren Ersparnissen und wartet auf den »Tag X«. Wie dem Sputnik geht es momentan Hunderten unabhängigen Kinos: Einige mussten schon Insolvenz anmelden, zahlreiche fürchten sie. Während die Renditen von Netflix, Disney+ und anderen Streaminganbietern durch die Pandemie gestiegen sind, steckt das Kino in einer schweren Krise.
An einem kalten Dienstagabend steht für Stosiek wieder ein Screening an, diesmal aber nicht allein. Die Betreiberin steht mit zwei Regisseurinnen im Projektorraum, den man sich wie eine etwas zu große Abstellkammer vorstellen kann. Die Filmemacherinnen wollen ihren Film auf der Leinwand gucken. »40 Minuten ist auch so ’ne Länge zwischen allen Stühlen«, kommentiert Stosiek, während sie den Laptop der Regisseurin an den schwarzen, glatten Digitalprojektor anschließt. Mit seinem silbernen Lüftungsrohr, das in die Decke führt, wirkt er wie ein riesiger Ofen.
An der Tür des Projektorraums hängt ein Plakat von Jim Jarmuschs Schwarz-Weiß-Western »Dead Man« und der Titel des Klassikers passt gut zu dem zweiten, eisernen Bauer-Projektor, an dem wie Girlanden noch alte 35-Millimeter-Filmrollen herabhängen. Während der Digitalprojektor den diskreten Charme einer Playstation 4 versprüht, wirkt der Bauer-Projektor wie ein mystisches Relikt aus der Kohle-und-Stahl-Moderne, die das Medium Film einst erschütterte. Die enge »Kerkerwelt« der Kneipen und Großstadtstraßen, der Bahnhöfe und Fabriken habe der Film mit dem »Dynamit einer Zehntelsekunde gesprengt«, schrieb der Philosoph und frühe Kinotheoretiker Walter Benjamin. Der Bauer-Projektor erinnert an die große Kraft des Kinos, das bewegte Bilder, Töne und Geschichten in einer historisch beispiellosen Weise für ein breites Publikum verfügbar machte.
Betreiberin Andrea Stosiek vom Sputnik Kino, Berlin.
Die Filmemacherinnen stehen etwas ratlos im Projektorraum. Stosiek ruft immer wieder, dass sie »keine Steuerung« habe: Sie will, dass Bild und Ton wirklich perfekt sitzen, auch wenn das nur eine Testvorführung ist. Nachdem sie verschiedenen Kabel ausprobiert hat, klappt alles und die Regisseurinnen verschwinden im Dunkel. »Wir sind das Volk«-Rufe erschallen aus der Soundanlage. Ein politischer Animationsfilm beginnt, den man wohl eher nicht im Cinestar sehen wird.
Schon in der analogen Zeit der 35-Millimeterollen arbeitete Andrea Stosiek als Vorführerin im Sputnik. Wie es ihr damals erging? »Du musst stressresistent sein. Wenn wir hier so sitzen und da hinten fällt der Film von der Spule in den Dreck, dann ist das ziemlich schlecht.« Früher lief der Laden nicht gut, alles sei ziemlich heruntergekommen gewesen. »Damals habe ich mir gesagt, ich habe keine Lust für jemanden zu arbeiten, der sich gar nicht kümmert, wozu soll ich meine Energie und meine Liebe da reinstecken, wenn sich das gar nicht auszahlt.« Als die Schulden des alten Besitzers immer höher wurden, drängte Stosiek darauf, das Kino zu übernehmen und 2008 war es dann soweit. Sofort begann sie mit der Renovierung. Kino 1 bekam eine neue Leinwand und Kino 2, das seit den 80er Jahren den Beinamen »Kulturrevolution« trägt, wurde endlich richtig bestuhlt: »Damals standen da nur zammelige Sofas.« Keine Kulturrevolution ohne richtige Kinobänke. Weil ihre Kolleginnen und Kollegen aus der Filmszene Stosieks Leidenschaft erkannten, bekam sie sogar einen neuen Projektor geschenkt.
Die elegante Playstation wird nach dem Filmscreening wieder ruhen. »Man macht sich gerade viel Arbeit mit Sachen, von denen man gar nicht weiß, ob sie überhaupt stattfinden werden«, bemerkt Stosiek. Sie plant zwar für Ende Mai das British Shorts, ein englischsprachiges Kurzfilmfestival – Planungssicherheit hat sie dabei jedoch nicht.
»Ich weiß, wie viel die Regierung uns theoretisch versprochen hat. Aber solange das Geld nicht auf dem Konto ist, kann ich nicht damit arbeiten.« Bei Andrea Stosiek sind Ende März bisher weder die Dezemberhilfe noch das Überbrückungsgeld für die Fixkosten des Kinos angekommen. Die Betreiberin fühlt sich fremdbestimmt. Ein Steuerberater muss nun einholen, was von der Regierung mit den Worten »unkompliziert und unbürokratisch« versprochen wurde. Viele Kollegen würden gleich auf die Hilfsgelder verzichten, weil sie Angst haben, auf den Kosten für den Steuerberater sitzen zu bleiben. »Die wollen nicht noch ihre letzten hundert Euro verlieren«, stellt Stosiek trocken fest. Dass die Hilfen jetzt zu spät kommen, sei auch deshalb schlecht, weil das Kino auf Förderprogramme angewiesen ist, die eine Eigenbeteiligung von 20 Prozent vorsehen. »Die muss man dann aber auch haben.« Für Stosiek ist das ganze System der deutschen Kinolandschaft bedroht: Durch den massiven Einbruch von Einnahmen, können Kinos möglicherweise nicht genug Abgaben an die Filmförderung zahlen. Die kann dann keine Filmprojekte mehr unterstützen, was letztlich wieder den Kinos schadet.
Das Sputnik-Kino verdankt seinen Namen dem sowjetischen Satelliten, der als erster seiner Art die Erde umrundete. In der Bar des Kinos liegen überall Flyer mit dem Abbild der Weltraumhündin Laika, eine verstaubte Schreibmaschine steht als Retrodekoration herum, auf einer Ablage liegen zwei Bände zu hundert Filmklassikern. Überall leuchten die Zeichen vergangener Epochen. Droht dem Sputnik die Gefahr, bald selbst zu so einem Zeichen zu werden? Beim Betrachten der Bar hallt ein Satz nach, den Andrea Stosiek irritierend nüchtern formuliert hat: »Ohne die Hilfsgelder ist es in zwei Monaten vorbei.« Schon jetzt aber fehlen Stosiek die Einnahmen für sich selbst, ihre Ersparnisse sind aufgebraucht.
Die leeren Zahlungsversprechen der Regierung verschärfen die Krise der Kinos und setzen Menschen wie Stosiek der existenziellen Not aus: Während in Amazon-Verteilzentren, Fleischfabriken und Großraumbüros munterer Betrieb herrscht, wird die Kultur im Stich gelassen. Eine kalte Marktbereinigung könnte die Folge sein.
Sterben aber kleine Programmkinos wie das Sputnik, stirbt auch ein Teil dessen, was man im emphatischen Sinn unter einer demokratischen Kultur versteht: die öffentliche Vorführung von ästhetisch und politisch anspruchsvollen Werken.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.