21. September 2024
Um die Klimakrise zu bekämpfen, müssen wir uns vom marxistischen Klassenbegriff verabschieden und einen neuen entwickeln – das postulieren Denker wie Bruno Latour. Doch wir brauchen keinen neuen Klassenbegriff, sondern eine klassenbewusste Klimapolitik.
Ingenieur installiert Solarpaneele (Symbolbild)
Ökologische Themen wie der Schutz von Biodiversität und Klima rücken zunehmend in den Fokus von klassenpolitischen Analysen. Immer wieder wird dabei die Frage gestellt, ob bisherige Klassentheorien weiterentwickelt werden müssen, um die ökologische Krise beschreiben zu können. So argumentiert etwa der Ökonom Paul Burkett, das Konzept der »Klasse« sei überholt. Die entfremdete Arbeit des Industrieproletariats und der Aufbau einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft stünden im Gegensatz zueinander. Der Fokus auf Industriearbeitende, die im Zentrum der Analysen bei Marx und Engels standen, sei demnach nicht mehr zeitgemäß.
Schärfer wird die Kritik bei Bruno Latour und Nikolaj Schultz, die in ihrem Memorandum Zur Entstehung einer ökologischen Klasse einen neuen Klassenbegriff entwickeln, der den heutigen ökologischen Konflikten gerecht werden soll. Mit ihrem Versuch, den Begriff der ökologischen Klasse ebenso auf materieller Grundlage zu bestimmen, stellen sie sich in die Tradition des Materialismus, verwerfen jedoch gleichzeitig die zentrale Rolle der Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Sie kritisieren den Fokus auf die Sphäre der Produktion als zu einseitig. Bei Marx ging es, so Latour und Schultz, um die Produktion der materiellen Reproduktionsbedingungen, die »Reproduktion der Menschenwesen«. Diese Konstellation habe sich geändert.
Die Analyse der ökologischen Klasse muss sich daher »anderen Phänomenen als der alleinigen Produktion und der alleinigen Reproduktion ausschließlich der Menschen zuwenden«. Im Materialismus-Verständnis von Latour und Schultz rückt dagegen das gemeinsame Interesse an einem intakten Ökosystem in den Fokus: »Heute Materialist zu sein heißt, zusätzlich zur Reproduktion der für die Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen zur Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen.«
Indem sich Latour und Schultz nicht länger auf die Lage der arbeitenden Klasse im Produktionsprozess beziehen, kehren sie sich von einem marxistischen Materialismus-Verständnis ab. Der Klassenkonflikt entspinnt sich für Latour und Schultz nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen denjenigen Menschen, die die ökologischen Grundlagen der Erde schützen wollen und denjenigen, die das nicht wollen. Damit findet schließlich eine gänzliche Abkehr von einem marxistisch verstandenen materialistischen Klassenbegriff statt – unabhängig davon, dass die materiellen Produktionsbedingungen des Kapitalismus weiter bestehen.
»Der Klassenkonflikt entspinnt sich für Latour und Schultz nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen denjenigen Menschen, die die ökologischen Grundlagen der Erde schützen wollen und denjenigen, die das nicht wollen.«
Ökologische Konflikte und die Umweltbewegungen, die sich um diese Konflikte formiert haben, können so zwar als Klassenkämpfe um den Erhalt der Erde begriffen werden. Dadurch entsteht jedoch ein theoretisches und ein praktisches Problem: Theoretisch stellt sich die Frage, inwiefern man anhand der Definition von Latour und Schultz überhaupt noch von Klassen sprechen kann. Das Interesse an der Bewohnbarkeit der Erde kann schließlich allen Menschen zugeschrieben werden. Der Ansatz ignoriert damit Unterschiede im materiellen Interesse an der Zerstörung beziehungsweise dem Erhalt der ökologischen Grundlage. Während einige als Repräsentanten des Kapitals die Verschmutzungen selbst verantworten, ist auch die Betroffenheit von einzelnen Klimaereignissen und Umweltkrisen unterschiedlich. Indem Latour und Schultz dieses Ungleichgewicht ignorieren, neutralisieren sie im Grunde diesen Klassenkonflikt. Aus Perspektive der Praxis entsteht das Problem, dass das Konzept der ökologischen Klasse zwar die Notwendigkeit ökologischer Kämpfe hervorhebt, aber abseits der Überzeugung, dass der Erhalt der ökologischen Grundlagen auf der Erde notwendig ist, keine weitere Politisierung der Klimakrise betreibt.
Was einen materialistischen Klassenbegriff dem entgegen auszeichnet, ist gerade seine Fähigkeit, nicht entlang moralischer Kategorien, sondern entlang der Stellung im Produktionsprozess zu unterscheiden. Denn obwohl Arbeitende sich im Einzelnen in Konkurrenzverhältnissen um Arbeitsstellen befinden, verbindet sie ihr materielles Interesse an höheren Löhnen, besseren Arbeitsbedingungen – und schließlich einer Überwindung des Ausbeutungsverhältnisses zwischen Kapital und Arbeit.
In ökomarxistischen Ansätzen wird die Sphäre der Ökologie meist über das Konzept des Stoffwechsels einbezogen. Gesellschaft und Natur befinden sich demnach in einem Stoffwechsel, der durch Arbeit als Bearbeitung von Naturstoffen vermittelt wird. In der kapitalistischen Produktionsweise, in der die Produktion einerseits nicht auf Gebrauchswerte, sondern auf Tauschwerte, zielt und bei der andererseits ein Zwang zu stetiger Kapitalakkumulation, zur ständigen »Verwertung des Werts« besteht, entsteht ein »unheilbarer Riss« in den Prozessen des gesellschaftlichen Stoffwechsels. So schreibt Marx im ersten Band des Kapitals: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«
Von der Zerstörung und Verschmutzung der Ökologie profitiert demnach in erster Linie die kapitalistische Klasse, die mithilfe der Aneignung von Natur Kapital anhäuft und Profite erzielt. Nach dieser Interpretation hat die arbeitende Klasse ein materielles Interesse an einem Ende der ökologisch zerstörerischen Wirtschaftsweise des Kapitalismus: Sie haben nicht nur selbst nicht die Möglichkeit, von Naturaneignung und -zerstörung zu profitieren, sondern sind als Bearbeitende diejenigen, die den Wald roden, Pestizide versprühen oder Rohstoffe aus der Erde heben. Sie sind damit gleichsam selbst von den Aneignungsprozessen betroffen. In anderen Worten: Die Zerstörung der Natur wird über die Ausbeutung von Arbeitenden vermittelt.
Eine Kritik am Konzept des gesellschaftlichen Stoffwechsels und der darauf aufbauenden Klassenanalysen brachte auch der Ökosozialist Jason Moore in die Debatte: Er sieht darin einen Dualismus zwischen Menschen und Natur, den er als ursächlich für ökologisch zerstörerisches Wirtschaften sieht. Dieser Dualismus ermöglicht und rechtfertigt demnach eine Beherrschung von Natur und ist ein grundlegender Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise. Das Konzept des Stoffwechsels reproduziert gemäß Moore dieses Verhältnis.
»Denn während das Kapital für ökologische Verschmutzung und Zerstörung verantwortlich ist und davon profitiert, ist es die arbeitende Klasse, die von den Folgen betroffen ist.«
In seinem Buch Capitalism in the Web of Life entwickelt er dagegen das Konzept des Oikeios, das als Lebensnetz alle menschliche und nichtmenschliche Natur gleichermaßen umfasst. Die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Natur soll damit gänzlich überwunden werden. In Anlehnung an das Proletariat bestimmt Moore die Klasse des ›Biotariats‹: Denn auch die Arbeit von nicht-menschlichem Leben wird im Kapitalismus angeeignet. Das gemeinschaftliche Interesse von Proletariat und Biotariat ist die Überwindung des Kapitalismus – der menschliche und nicht-menschliche Arbeit ausbeutet. Moore entwickelt damit innerhalb marxistischer Begrifflichkeiten ein neues Verständnis von Klasse.
Sein Ansatz ist jedoch umstritten, da unklar bleibt, wieso eine Unterscheidung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur ursächlich für die Aneignung letzterer sein soll. Eine fehlende Differenzierung zwischen Gesellschaft und Natur erschwert außerdem die Zuschreibung von Verantwortung für die Zerstörung von Ökosystemen. Dabei ermöglicht das Konzept des Stoffwechsels gerade einen Blick auf das Zusammenwirken von Gesellschaft und nicht-menschlicher Natur.
Trotzdem ist die Forderung, Ökologie und Klassenanalyse zusammenzudenken, richtig und vielversprechend. Es gab zwar historisch betrachtet im Globalen Norden einen Widerspruch zwischen Ökologie und Emanzipation der Arbeitenden, da die arbeitende Klasse in großen Teilen von dem Ausbau der fossilen Energie im 19. und 20. Jahrhundert abhängig war. Die Sozialwissenschaftler Bernd Röttger und Markus Wissen argumentieren jedoch, dass dieser Widerspruch historisch und nicht systematisch ist. Denn im Kapitalismus formieren sich regelmäßig sogenannte »Schranken des Kapitals«, beispielsweise in Form von Überproduktion und damit einhergehend fehlende Absatzmärkte.
Diese Schranken des Kapitals, die sich vor allem in Krisen offenbaren, verknüpfen sich zunehmend mit den Schranken der Natur in Form ökologischer Krisen. Damit besteht eine Grundlage zur Verbindung von Klassenpolitik und ökologischen Kämpfen, von der beide Seiten profitieren. Denn während das Kapital für ökologische Verschmutzung und Zerstörung verantwortlich ist und davon profitiert, ist es die arbeitende Klasse, die von den Folgen betroffen ist. Umgekehrt profitiert auch die Umweltbewegung von einer Integration sozialer Kämpfe. Denn es ist vor allem eine oft überzogene Konsumkritik – beispielsweise, wenn es um den ökologischen Fußabdruck von Individuen geht –, die die Lösung der Klimakrise individualisiert und strukturelle Verantwortlichkeiten verschleiert. Stattdessen hat eine Kritik an umweltschädlicher Produktion und damit zusammenhängenden Verteilungsungerechtigkeiten das Potential, die Mehrheit der Menschen ohne Eigentum an Produktionsmitteln anzusprechen. Beispiele für Versuche, Klassenkämpfe mit Ökologie zu verbinden, zeigen Max Ajl mit A People’s Green New Deal und Stefania Barca mit dem Ansatz eines Working Class Environmentalism.
»Latour und Schultz versuchen dagegen, begrifflich am Konzept der Klasse festzuhalten, verwerfen dabei aber die Idee von antagonistisch entgegengesetzten Klassen.«
Auch Simon Schaupp zeigt in seinem neuen Buch Stoffwechselpolitik das Potential einer ökologischen Klassenpolitik auf. Denn dadurch, dass es Arbeitende sind, die die umweltschädlichen Tätigkeiten durchführen, entwickeln sie Wissen über den Eigensinn der Natur. Dieses Wissen und die Macht, ihre Arbeit niederzulegen, können sie einsetzen, um das Kapital unter Druck zu setzen. Es ist daher ebenso praktisch wie sinnvoll, ökologische Kämpfe auch als Arbeitskämpfe zu führen: »Arbeit und Natur stehen in einem Verhältnis unauflöslicher Wechselwirkungen zueinander. Damit wird die Arbeit zu einem zentralen Ort für die Entstehung der ökologischen Krise – und möglicherweise auch für ihre Überwindung.«
Diese Ansätze zeigen, dass das marxistische Konzept der Klasse nicht aufgegeben werden muss, um ökologische Perspektiven einzubinden. Latour und Schultz versuchen dagegen, begrifflich am Konzept der Klasse festzuhalten, verwerfen dabei aber die Idee von antagonistisch entgegengesetzten Klassen, deren Stellung im Produktionsprozess die Interessen bestimmt. Moore dagegen formuliert zwar eine fundamentale Systemkritik, indem er jedoch die gesellschaftliche Unterscheidung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur als Ursache für die Zerstörung der Ökosysteme sieht, rückt er das Interesse des Kapitals an Umweltverschmutzung aus dem Fokus.
Dem entgegen stehen Ansätze, die das Interesse des Kapitals sowohl an Aneignung und Verschmutzung von Natur als auch an der Ausbeutung der Arbeitenden thematisieren. Dass dieser Ansatz bereits erste Früchte trägt, zeigen Kampagnen wie das Bündnis »Wir fahren Zusammen« von Ver.di und Fridays for Future, bei der Forderungen der Beschäftigten mit den Forderungen der Klimabewegung nach einem besseren und zuverlässigen ÖPNV verbunden werden. So führen beispielsweise höhere Löhne zu mehr Personal, sodass mehr Busse und Bahnen eingesetzt werden können. Das zeigt: Es braucht keinen neuen Klassenbegriff, sondern klassenbewusste Kämpfe für den Erhalt der ökologischen Grundlagen.
Lea Rahman ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin. Sie forscht und schreibt zu internationaler Umwelt- und Klimagerechtigkeit.