10. Februar 2023
Vor 125 Jahren wurde Bertolt Brecht geboren. Seine Texte sind zu Klassikern geworden – und haben ihr revolutionäres Potenzial dennoch nicht verloren.
Bertolt Brecht, 1. Mai 1948.
IMAGO / AllstarBertolt Brecht war einer der bedeutendsten Dramatiker, Dichter und Denker des 20. Jahrhunderts. Als unorthodoxer Marxist, der Kunst und Politik auf neue Weise zu verbinden versuchte, war er zeit seines Lebens vielen traditionelleren kommunistischen Theoretikern und Kulturpolitikern ein Dorn im Auge, galt aber gleichzeitig auch als einer der innovativsten modernen Autoren.
Nachdem Brecht 1956 verstarb, spaltete der Kalte Krieg auch die Rezeption seines Werkes entlang ideologischer Linien. Die Übersetzung seines theoretischen und literarischen Werks ins Französische, Englische und Spanische, die in den späten 1950er und 60er Jahren allmählich einsetzte, brachte insbesondere wegen des dichten Stils und der Neologismen des Autors neue Probleme mit sich. Sein Ruf auf internationaler Ebene, der manchmal fragwürdigen stilistischen Entscheidungen und Missverständnissen in der Übersetzung geschuldet ist, hat Kontroversen und Verwirrungen ausgelöst.
1964 äusserte Max Frisch wohl zum ersten Mal den frustrierten Vorwurf der »Brecht-Müdigkeit« – sein Werk habe die »durchschlagende Wirkungslosigkeit eines Klassikers«. Frisch bezog sich damit nicht auf Brecht an sich, sondern auf dessen stumpfsinnige Rezeption durch die Theaterkritik und den Widerstand, mit dem die Theater seinen dramaturgischen Neuerungen begegneten. Frisch brachte damit die Haltung derjenigen auf den Punkt, die Brecht wie einen literarischen Klassiker behandelten – die also seine Vorschläge für ein neues Theater ignorierten und seine Stücke zu fader Unterhaltung verkommen ließen.
1978 erklärte der prominente Literaturkritiker Hellmuth Karasek Brecht für »mausetot«. Sein Status als literarischer Klassiker war inzwischen so gefestigt, dass der umstrittene Brecht-Biograf John Fuegi – der behauptete, Brechts Texte seien im Tausch gegen Sex von seinen Mitarbeiterinnen geschrieben worden – der »Denkmalschändung« bezichtigt werden konnte.
Spätestens zu Brechts vierzigstem Todestag 1996 und seinem hundertsten Geburtstag 1998 gab es keinen Zweifel mehr daran, dass er endgültig zum Klassiker – und in diesem Sinne bedeutungslos – geworden war. Gleichzeitig war sein geschändetes Denkmal endgültig vom Sockel gefallen. Doch die Tatsache, dass diese gegensätzlichen Urteile immer wieder beinahe zwanghaft wiederholt werden, legt nahe, dass uns Brecht noch immer sehr beschäftigt – nicht Brecht als Person, sondern sein widersprüchliches Lebenswerk und dessen Rezeption.
In Bezug auf seine breite Beliebtheit erscheint Brecht heute tatsächlich als Klassiker im traditionellen Sinn. In Deutschland führen seine Stücke seit Jahren die Statistik der meistgespielten Theatertexte an und in der englischsprachigen Welt zählt er zusammen mit den klassischen griechischen Tragödien, Molière, Ibsen und Tschechow zu den meistgespielten übersetzten Dramatikern. Angesichts des intellektuellen Anspruchs von Brechts Theater, das die Beziehung zwischen einem selbstgefälligen Publikum und einer auf Unterhaltung basierenden Theatertradition zu untergraben versucht, ist das durchaus bemerkenswert.
Aber sein Einfluss reicht noch weiter. Der Brecht’sche Verfremdungseffekt und sein Begriff des »Gestus«, der die Widersprüchlichkeit der Handlungen einer Figur offenbaren kann, sind nicht nur im Theater, sondern auch in der Ästhetik des Kinos und des Fernsehens weit verbreitete Elemente geworden. Selbst in der Werbung werden sie angewandt, wenn auch ohne das politische Ziel, das hinter Brechts eingreifendem Denken stand: »Ändere die Welt, sie braucht es«.
Es gibt keinen essenziellen Brecht, der sich aus seinen kritischen Schriften oder seiner kreativen Praxis herausdestillieren lässt. Jedoch sind Brecht als Person sowie seine Werke für verschiedene Zwecke instrumentalisiert worden. Die Brecht-Forschung und die Brechtianische Theaterpraxis der Nachkriegszeit sind von eindeutigen ideologischen Verpflichtungen, Verschiebungen und Revisionen in Ost und West durchdrungen.
Im geteilten Deutschland folgte die Brecht-Rezeption einem klaren, wenn auch widersprüchlichen Muster. Seine Rückkehr nach Ost-Berlin 1948 und die Gründung seines eigenen Theaters, des Berliner Ensembles, wurden von der DDR-Regierung als PR-Coup gefeiert, da dies eine kulturelle Kontinuität zu den linken Intellektuellen der Weimarer Republik etablierte. Dennoch wurden Brechts Politik und Ästhetik im Laufe der 1950er Jahre bis zu seinem Tod 1956 von den Kulturfunktionären mit Skepsis betrachtet, da sein »Formalismus« dem Sozialistischen Realismus zuwiderlief. Erst nach Brechts Tod und nachdem das Berliner Ensemble bei seinen Tourneen in Paris (1954) und London (1956) internationale Erfolge feierte, wurde sein Werk als Form des politischen Theaters akzeptiert, solange seine Techniken auf die faschistische Vergangenheit und den westlichen Kapitalismus, nicht aber auf den real existierenden Sozialismus angewandt wurden.
Hier zeigen sich die ersten Anzeichen dafür, dass sich Brecht als politische Person und seine künstlerischen Texte voneinander verselbständigen und gegeneinander ausgespielt werden. Unter genau dieser dogmatischen Definition des »Politischen«, die eine engstirnige und polemische Position für oder gegen die Politik Brechts aufrechterhält, litt ein Großteil seiner Rezeption im Osten wie im Westen. Diese Positionen haben eine Tendenz, die innovative, experimentelle Energie von Brechts Projekt im Keim zu ersticken.
In der Zeit des Kalten Krieges veränderte sich die Rezeption Brechts im Westen. Auch wenn er in den 1950ern von einigen wenigen geschätzt oder sogar verehrt wurde – häufiger in Ländern wie Italien, Frankreich und Großbritannien als in Westdeutschland –, führte Brechts Parteinahme für das »andere«, sozialistische Deutschland bis zu seinem Tod zu einem regelrechten Boykott seiner Werke an den öffentlich getragenen Theatern der Bundesrepublik. Mitte der 1960er Jahre wurde er im Osten zur offiziellen Ikone des sozialistischen Realismus versteinert, während er im Westen kurz davor war, von der jüngeren Generation als Alternative zum muffigen Erbe eines spießbürgerlichen Humanismus entdeckt zu werden.
Für die einen wurde er zum Ideengeber für ein anderes, kritisches Denken, für die anderen zur Waffe in den sektiererischen Auseinandersetzungen der Linken. In den 1970er Jahren erneuerte sich die Sicht auf Brecht: Ostdeutsche Schriftsteller wie Heiner Müller und Volker Braun, die in Brechts dialektischem Denken geschult waren und seine Sprache kannten, führten sein Erbe fort, während in Westdeutschland die anfängliche Begeisterung für den »etablierten« Brecht des Berliner Ensembles verblasste und sich die Aufmerksamkeit progressiver Theater und Forschender auf die Lehrstücke des frühen Brecht richtete, die im Osten weitgehend ignoriert wurden.
In den 1980er Jahren wurde Brecht sowohl in der BRD als auch in der DDR in den Kanon integriert. Sein Werk wurde professionalisiert, institutionalisiert und spezialisiert. An den Universitäten und Theatern wurde es dadurch ironischerweise Teil eines Systems ideologischer Rechtfertigung und Legitimation. Seine Geschichten, Gedichte und Theaterstücke wurden in Lehrbüchern abgedruckt. Im Kontext konkurrierender und widersprüchlicher Diskurse entstand inmitten der Ost-West-Spannungen ein doppelgesichtiges Bild von Brecht. Die Kontrahenten zeichneten sich durch eine mitunter aggressive, vorwurfsvolle und selbstgerechte Rhetorik aus: auf der einen Seite der politische Brecht, auf der anderen der Dichter Brecht; hier der rebellische Brecht, dort der stalinistische Brecht; hier der überlebte Brecht im Museum, dort Brechts totalisierende Kritik der Verhältnisse der Gegenwart.
Übersetzungen in viele Sprachen und die Anziehungskraft eines undogmatischen Denkers machten Brecht zu einem beliebten Forschungsobjekt, das von Akademikern und Künstlerinnen anderer Länder aus kritischer Distanz interpretiert werden konnte. In Mittel- und Südamerika, Asien und Afrika war sein Werk von entscheidender Bedeutung, um den emanzipatorischen Prozess des politischen Wandels zu artikulieren – und ist es bis heute geblieben. Experimentelle und Avantgarde-Theater betrachten Brecht durch verschiedene Linsen: etwa die des Feminismus, der Performance-Theorie, des Körpers oder des Humors. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben Künstlerinnen, Kritiker und Intellektuelle in Brechts Werk immer wieder Texte gefunden, mit denen sich alte und neue Themen, die bei ihrem Publikum Widerhall finden, behandeln lassen: das Aufkommen von Neonazis, der Aufstieg autokratischer Politiker, die ständige Bedrohung des Krieges.
Welche Bedeutung hat Brecht also heute? Die stärker werdenden Kräfte des globalen Kapitalismus, die Hegemonie der Mechanismen des Warenmarkts, der wachsende Einfluss der Kommunikationstechnologien und die Vernachlässigung der Klassenpolitik im Vergleich zu einer politischen Fokussierung auf Identität und Lifestyle erfordern neue konzeptionelle und analytische Werkzeuge, um zu verstehen, wo und wie das kulturelle Terrain bestritten werden kann. Inzwischen werden Konzepte wie Aufklärung, Pädagogik, Fortschritt, Vernunft und historische Handlungsfähigkeit – Grundpfeiler in Brechts Vision von gesellschaftlichen Wandel – als Werte »toter weißer Männer« hinterfragt, die vermeintlich im Dienst der herrschenden Eliten stünden.
All das verweist Brechts Oeuvre in eine historisch überholte Periode der Moderne, ist aber auch Ausdruck jener Krise der Repräsentation, auf der seine gesamte Ästhetik basiert. Die historischen Illusionen der Moderne sind nun zu einem Problem für das Subjekt geworden, dass sich in einer radikal unstetigen Realität positionieren muss. Die tiefgreifenden Veränderungen, die sich in den 1990er Jahren auf der europäischen Landkarte vollzogen haben, legen außerdem nahe, dass dieses Problem der Positionierung auch eine Frage der Politik ist. Denn wir können beobachten, wie die sich überschneidenden Anforderungen lokaler, nationaler und internationaler Instanzen Spannungen in dem multinationalen Raum erzeugen, in dem wir leben.
Gleichzeitig müssen jene Vorstellungen, die an die Stelle der zerfallenen Utopien der Moderne getreten sind (etwa Nationalismus, Regionalismus, Ökologie oder ein neues Traditionsbewusstsein), erst beweisen, dass sie mehr sind, als bloße Apologien für eine neue Hierarchie autoritärer oder totalitärer Beziehungen zwischen dem Partikularen und dem Pluralen. Wenn wir von der Person Brecht und seinem politischen Referenzsystem Abstand nehmen, können wir seine Texte ohne seine ideologischen Scheuklappen lesen und dadurch entdecken, wie er das Material, aus dem er seine Darstellung der Wirklichkeit konstruierte, nutzte und umwandelte.
Um zu beantworten, ob Brecht noch relevant ist, muss man sich zunächst fragen, ob politische Kunst (noch) möglich ist. Dazu ist es hilfreich, zu erklären, was Brecht mit »eingreifendem Denken« meinte – ein Begriff, der für seine Vorstellung gesellschaftlichen Wandels zentral war. Das ist keine leichte Aufgabe, da sich seine Vorschläge diesbezüglich – wie so vieles in seinem pragmatischen Denken – an konkreten historischen Bedingungen und Situationen orientierte.
Das Konzept des eingreifenden Denkens, das Brecht in den frühen 1930er Jahren – seiner vielleicht produktivsten Phase – erarbeitete, setzt er im Exil (1933–1948) und nach seiner Rückkehr in die DDR in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Zielen um. Zunächst muss man den widersprüchlichen Zusammenhang zwischen »Eingreifen« und »Denken« erläutern. Denken beschreibt ein kontemplatives Verhältnis zu einem Objekt, einem Ereignis oder der Welt; das Denken ist vor allem ein Prozess der Distanzierung zwischen Subjekt und Objekt. Über etwas nachzudenken bedarf Analyse und Logik, um einen Gegenstand dekonstruieren und dann rekonstituieren zu können. Das Eingreifen hingegen ist das Gegenteil des Denkens, da es eine Handlung beschreibt. Aus der Perspektive des Subjekts meint Eingreifen, dass das Objekt, der Verlauf eines Ereignisses oder der Zustand der Welt verändert wird. Das eingreifende Denken ist damit typisch für Brechts antagonistische Weltanschauung.
Seine Kreativität zehrte von Krisen und fand ihre produktivste Inspiration in der Zuspitzung von Widersprüchen. Dafür erdachte er immer neue, dynamische poetische und ästhetische Formen. Der Begriff des eingreifenden Denkens ist die Abstraktion dieser Dynamik; er bezeichnet eine Haltung, die nicht nur nach Kontemplation und Einsicht, sondern auch nach Anwendung und Wirkung verlangt. Eingreifendes Denken ist also das Ergebnis einer spezifischen ästhetischen Form, die den Adressaten (etwa die Leserin, das Publikum oder den Teilnehmer) durch einen analytischen, distanzierenden Prozess in Bewegung bringt.
Viele, wenn nicht sogar alle Stücke Brechts sind explizit politisch. Doch er interessierte sich nicht nur für spezifische historische Situationen, sondern er versuchte Probleme so darzustellen, dass sie den Kontext und die Machtverhältnisse, die sie ermöglichen, offenlegen. Auf diesem Weg wollte er den Wunsch erwecken, die Dinge zu verändern. Im weiteren Sinn richtete sich seine »Politik« auch gegen die Institution der Kunst, die er für konservativ hielt. Brechts praktische Arbeit bestand darin, Widersprüche zu produzieren, Texte zu überarbeiten und die Passivität eines konsumierenden Publikums zu überwinden.
Als Abstraktion ist der Begriff des eingreifenden Denkens noch einleuchtend. Doch sobald wir versuchen, seinen Inhalt zu definieren, wird er problematisch. Welche ästhetischen Formen sind heute noch brauchbar? Gibt es Brecht’sche Techniken oder Stilelemente, die für bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse und Gegebenheiten der 1930er, 40er oder 50er Jahre entwickelt wurden, aber heute noch funktionieren? Solche Fragen lassen sich weder abstrakt noch generell beantworten. Eingreifendes Denken müsste zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten unterschiedliche Dinge bedeuten, denn es handelt sich dabei um keine Formel, sondern um eine Haltung gegenüber Erfahrungen und Vorstellungen.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, Brechts Utopismus in Betracht zu ziehen, weil die Vorstellungskraft über gesellschaftlichen Wandel gerade dort ihre historischen Grenzen und systemische Unterdrückung offenbart. Die Utopien der Moderne versuchten, das Subjekt aus seiner Anomie und Entfremdung zu befreien, indem sie einen Nicht-Ort imaginierten, in dem Arbeit und Leben, Individuum und Kollektiv, Kunst und Politik, Wirtschaft und Moral ineinander aufgehen würden. Brecht schuf solche Nicht-Orte, indem er die Schauplätze seiner Stücke in ein mythisches Chicago, in den Kaukasus oder nach China verlegte, und in Stücken wie Mutter Courage und ihre Kinder oder Die heilige Johanna der Schlachthöfe mit Anachronismen spielte. Dennoch beharrte er auf Differenzierung, um über strukturelle Beziehungen und historisch vermittelte Besonderheiten neue Einsichten zu gewinnen.
Die Verfremdung ist Brechts Mittel der Wahl, um die Wahrnehmung zu historisieren, also zu zeigen, dass die Vergangenheit anders war als die Gegenwart und daher auch die Gegenwart verändert werden kann. Das ist zweifellos seiner tiefen Empathie für den Überlebenskampf geschuldet. Als Exilant während des Dritten Reichs hatte er diesen selbst durchgestanden. Brechts Stücke, vor allem seine Parabeln, die in entlegenen Zeiten und Orten spielen, aber politische und moralische Dilemmata seiner Gegenwart wiederspiegeln, erschaffen Situationen, die die Widersprüche zwischen alten Verhaltensweisen und neuen Gegebenheiten sichtbar machen. Die Diskrepanz zwischen historischer Zeit und subjektiver Zeit wird durch die Utopie vermittelt. Dabei geht es nicht darum, ein unterdrückerisches System nur zu reformieren, sondern es von Grund auf neu zu gestalten. Es geht darum, die Menschen dazu zu befähigen, ihre Gegenwart zu verstehen, um sie dann zu verändern. Das ist Brechts materialistische Dialektik – sein Versuch, sich etwas vorzustellen, was noch nicht möglich, aber bereits unvermeidlich ist.
Als politischer Avantgardist strebte Brecht eine Utopie an, in der Kunst und soziale Praxis miteinander verbunden sind. Diese Vision entstand vor dem Hintergrund einer bestimmten gesellschaftlichen Situation und wandelte sich im Lauf der Zeit erheblich. Als Zeuge des Zusammenbruchs der alten Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg und der Entstehung einer zunehmend inakzeptablen neuen Ordnung im Deutschland der 1920er Jahren faszinierte ihn die Idee der Erlösung durch die Negation des Selbst. In den Exzessen und der Isolation der asozialen Antihelden seiner frühen Stücke zeigt sich seine Kritik am bürgerlichen Subjekt, ohne in die modernistische Lösung abzurutschen, derzufolge man der Auflösung in die Masse nur durch Hyperindividualismus entkommt.
In den späten 1920er Jahren und insbesondere den experimentellen Lehrstücken der frühen 30er Jahre versucht Brecht, eine Alternative zu dieser subjektivistischen, antibürgerlichen Haltung zu entwerfen – eine Kollektivität, die sich aus dem Bewusstsein individueller Subjekte speist und sich durch die Dynamik der Kämpfe der breiten Masse in eine Klassenidentität verwandelt. Das soziale Chaos und die Entwurzelung des Individuums weichen einem »Einverständnis« mit dem Kollektiv und einem neuen Subjekt, das sich durch die Masse und nicht im Gegensatz zu ihr definiert.
Dieser Kollektivismus hat sich nicht nur in Brechts Ästhetik niedergeschlagen, sondern durch die Praxis kollaborativer Autorschaft auch in seiner Biografie. Die schnelle Veränderung der kulturellen Produktionsbedingungen war eines der charakteristischen Merkmale der Krise der Moderne in der Weimarer Republik. Das Aufkommen der populären Unterhaltung (etwa Kino, Sport und Tanzrevuen) führte zu einer zunehmenden Kommerzialisierung der Freizeit, die wiederum mit einer Kommerzialisierung der kulturellen Beziehungen einherging. Die Funktion der traditionellen Kulturinstitutionen stieß diese Entwicklung in eine soziale Krise.
An die Stelle des gebildeten, bürgerlichen Publikums trat ein viel breiteres Publikum von Konsumentinnen und Konsumenten, das neue Ansprüche an ästhetische Erfahrungen und Freizeitgestaltung stellte. Diese kulturelle Demokratisierung wirkte sich auch auf die Rolle und das Selbstverständnis des Autors aus. Einerseits suchten sowohl Avantgardistinnen als auch Traditionalisten nach neuen Möglichkeiten, um ihren Elitismus aufrechtzuerhalten; andererseits begrüßten Schriftsteller wie Brecht die Tendenz der Moderne zur sozialen Desintegration und Massenorientierung als emanzipatorische Entwicklung.
Die Zwänge des bürgerlichen Individualismus verschwanden. Brecht begann, einen Ansatz zu entwickeln, der die Subjektivität des Autors in ein Kollektiv bettete. Allein schon das Verständnis künstlerischer Tätigkeit als »Produktion« – anstatt als Kreation –, das Brecht in seinem Essay Der Dreigroschenprozeß (1932) entwickelte, verweist auf diese grundlegende Veränderung. Und Brechts Stück Mann ist Mann (1926) stellt ein Modell der Identitätskonstitution vor, das auf der Funktion des Protagonisten als Objekt in einem sozioökonomischen Prozess des geschäftlichen Austauschs beruht. Die Entmystifizierung des bürgerlichen Konzepts des Individuums ist also auch für die Entmystifizierung des bürgerlichen Konzepts des Autors von Bedeutung.
Das Aufkommen neuer Formen der Unterdrückung und insbesondere der Aufstieg des Faschismus in den 1930er Jahren verliehen Brechts Vision einer menschlicheren Gesellschaft zwar eine besondere Anziehungskraft, ließen sie aber auch immer abstrakter werden. Brechts Versuche, eine überzeugende alternative Gesellschaftsordnung zum Faschismus seiner Zeit abbzubilden, scheiterten weitgehend. Ins Exil gezwungen und mit den Schrecken des Nationalsozialismus konfrontiert, lenkte Brecht seinen Fokus zunehmend darauf, das Alte auf neue Weise darzustellen, anstatt das Neue zu entwerfen.
Der formale Reduktionismus, der seine Parabelstücke aus dieser Zeit charakterisiert, scheint einerseits eine Art Schutzschild gegen die unaushaltbaren Widersprüche der Realität zu sein. Andererseits sorgt diese gezieltere Verfremdung dafür, dass der Fokus weniger auf der Beziehung zwischen Text und Publikum liegt und sich auf die utopische Vorstellungskraft der Zuschauerin selbst verlagert. Der Prolog zu Der kaukasische Kreidekreis (1944 geschrieben, 1949 veröffentlicht) bietet einen prägnanten Ausblick auf die politische und poetische Utopie, die Brecht in seinem Spätwerk anstrebte. In dem Stück entfaltet sich ein Konflikt zwischen Mutterinstinkt und Blutsverwandschaft vor dem Hintergrund von Ungleichheit und Ungerechtigkeit: Eine adlige Dame setzt während eines Krieges ihr Kind aus, das daraufhin von einem Dienstmädchen aufgezogen wird, bis Frieden einkehrt und sich das Kind als Erbe eines großen Vermögens entpuppt. Der Prolog stellt die Frage, wie eine Gesellschaft nach der Katastrophe des Nazi-Faschismus wieder aufgebaut werden kann. Sein Schauplatz ist das sowjetische Georgien – die erste Region, die von der deutschen Besatzung befreit wurde. Der Dialog lässt Ziegenhirten und Obstbauern in einem Wettkampf um das fruchtbare Land gegeneinander antreten. Brecht projiziert hier seine eigenen Befürchtungen vor einem Wiederaufflammen nationalistischer und rassistischer Ideologien, und zeigt, wie aufgeklärter Umgang mit rationalen Argumenten ein Modell für das Europa der Nachkriegszeit werden könnte. Das kollektive Schicksal der beiden kooperierenden Gruppen von Bauern, das durch den Sänger im Hauptteil des Stücks vorweggenommen wird, der von der Lösung ihres Konflikts erzählt, zeigt, dass Kunst (die Erzählung des Sängers) und Arbeit (das kollektive Projekt der Bewirtschaftung des Landes) gleichwertige Produktionsformen für freie Subjekte darstellen.
Repräsentation, Ästhetik und Vorstellung werden so zu politischen Akten von einem Gebrauchswert, der mit dem der Arbeit vergleichbar ist. In seinen theoretischen Schriften der 1940er Jahre charakterisierte Brecht diese Kollektivität als »das menschliche Zusammenleben«. Mit seinen Bemühungen am Berliner Ensemble in der Nachkriegszeit versuchte Brecht – zumindest in groben, unvollkommenen Zügen – diese Art der Kollektivität am Theater in die Praxis umzusetzen.
Brecht wurde in den späten 1920er Jahren zum Marxisten. Ähnlich wie beim frühen Marx war auch Brechts Gesellschaftskritik anfangs nicht antikapitalistisch. Der junge Brecht verstand den Kapitalismus als einen Motor, der immer komplexere soziale Verhältnisse erzeugt. Gleichzeitig folgte er dem idealistischen Zug im Marxschen Denken, wonach alle Menschen aufgrund ihres Klassenstandpunkts die Interessen eines imaginierten Kollektivs teilen. Dabei müssten die extrem ausdifferenzierten Interaktionen einer gesellschaftlichen Konstellation, wie sie Brecht interessierte, ein viel komplexeres Ineinandergreifen von Bedürfnissen, Forderungen, Ängsten und Wünschen zur Folge haben.
Brecht bestand zwar darauf, dass Klasse im sozialen und politischen Sinne die Hauptrolle bei der Identitätsbildung spielt, blendete jedoch andere Elemente, die die Komplexität des Subjekts ausmachen, nicht aus. Sein poetisches Modell hinterfragt die starke Tendenz im Marxismus, soziale Dialektik als einen Prozess zu verstehen, der alle Widersprüche versöhnt.
Sein sich in den 1930ern entwickelndes Konzept des Epischen Theaters – das die theatralischen Elemente Musik, Text und Bühnenbild voneinander entkoppelt und die aufrüttelnde Qualität des Fragments oder der Montage betont – sowie seine Vorstellung eines »ko-fabulierenden«, also kreativ mitdenkenden Publikums, zu der er in den 1950er Jahren im Zusammenhang mit dem sogenannten Dialektischen Theater gelangte, zeugen davon, dass Brecht Widersprüche als produktiv ansah und nicht als etwas, das zum Abschluss kommen muss.
Brechts Vorstellung des Kollektivs als Zusammenleben betont, dass sich die Subjekte durch Konflikte und Widersprüche als Subjekte produzieren. Er verstand das Subjekt offensichtlich als eine Konstruktion.
Brecht war kein Utopist, der die Welt durch eine rosarote Brille betrachtete, sondern ein Künstler und Intellektueller, der seine kritische Urteilskraft durch das Erleben politischer Umschwünge und historischer Umbrüche entwickelte. Seit Brechts Tod hat der Zusammenbruch der Sowjetunion und des mit ihr assoziierten verknöcherten Sozialismus dem traditionellen linken Utopismus einen schweren Schlag versetzt. Aber Brechts Beitrag zum Projekt einer gerechteren Gesellschaft bestand nicht darin, Antworten auf die Frage zu geben, wie die Welt besser werden kann. Seine Schriften sind vielmehr eine Anleitung dafür, wie man die richtigen Fragen für eine Situation formuliert, die unhaltbar ist und geändert werden muss.
Brecht vertraute auf die Kraft der Vernunft, die den Menschen dazu befähigt, die Probleme, die ihm umgeben, zu erkennen und zu lösen. Doch er war weder ein engstirniger Rationalist noch glaubte er naiv an die Unvermeidbarkeit von Fortschritt und menschlicher Emanzipation. Seine Kritik an der »Einfühlung«, die häufig missverstanden und als Dramaturgie der Kälte umgesetzt wurde, richtete sich nicht gegen das Gefühl oder die Spontaneität an sich, sondern gegen die Funktion, die das Erzeugen von Emotionen im traditionellen Theater erfüllte. Brechts Glaube an die Vernunft zielt, wie das eingreifende Denken, auf die Fähigkeit des Einzelnen, sein Interesse selbst zu bestimmen und dementsprechend zu handeln. Diese Vorstellung schließt weder Leidenschaft noch Emotion aus.
Unser Bild von Brecht ist durch biografische und historische Fakten, interpretierende Lektüren und polemische Spekulationen, ideologische Instrumentalisierung und utopisches Wunschdenken vermittelt. Die Tatsache, dass es immer im Wandel ist, trägt dazu bei, dass es uns immer noch herauszufordern vermag. Es stimmt, dass Brecht heute ein Klassiker ist, der als kanonischer Autor und Denker der modernistischen, aufklärerischen Tradition anerkannt ist und der über einige der größten Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts geschrieben und nachgedacht hat.
In einer Welt, die von Medien und Kommunikationstechnologien beherrscht wird, klingt die Stimme Brechts seltsam verstaubt. Gleichzeitig werden Brecht’sche Praktiken – wie das Vandalisieren der Weltliteratur, die Vermischung von Poesie und Kitsch, der positive Bezug zur Massenkultur und das »komplexe Sehen« bei der Darstellung und Rezeption von Kunst – von der Privatwirtschaft übernommen und in deren Funktionsstratgeien integriert.
Im Zeitalter von Streaming und virtuellen Identitäten kann selbst der Brecht’sche Verfremdungseffekt genutzt werden, um Waren effizienter zu verkaufen. Doch solcher Pessimismus nimmt einen Teil fürs Ganze, in einem System, in dem Bilder in den Medien zu den maßgeblichen Erfahrungen im fortgeschrittenen Kapitalismus erhoben werden. Diejenigen, die Brechts kritisches Projekt weiterführen wollen, suchen hingegen nach Möglichkeiten der Anleitung und Kommunikation, die das Denken fördern und eine kontemplative Haltung unterwandern.
Brecht war ein Meister darin, Sand ins Getriebe institutioneller Hierarchien zu streuen. In dieser Hinsicht ist er ein besonders gutes Beispiel dafür, wodurch sich ein öffentlicher Intellektueller auszeichnen sollte. Brecht lebte in einer Zeit, in der das Selbstverständnis des Künstlers und Denkers als sozial und politisch engagierter Mensch der Erwartung der Öffentlichkeit entsprach. Heute hingegen scheint die Autonomie und Selbsterhaltung von Künstlern und Denkerinnen im Vordergrund zu stehen. In einer Zeit, in der kritische Denkerinnen und Denker bedroht und Strategien der Kritik entwertet werden, brauchen wir Vorbilder oppositioneller Stimmen, um die Notwendigkeit des Protests nicht aus den Augen zu verlieren. Brecht liefert uns ein solches Vorbild.
Parteiisch, ohne an eine Partei gebunden zu sein, unabhängig von offiziellen Institutionen und doch erfahren darin, sich innerhalb von Institutionen zu behaupten, immer bereit, Risiken einzugehen und unkonventionelle Wege zu erkunden: So kam Brecht mit einer Welt zurecht, die er als veränderbar erachtete. Heute, da soziale Medien die öffentliche Meinung prägen, sind Versuche und Strategien, Sand ins Getriebe zu streuen, wieder angebracht. Brechts Schriften bieten uns überzeugende Beispiele dafür, wie das gelingen kann. Während wir beobachten, wie neue Technologien althergebrachte Sicherheiten und Identitäten verdrängen, brauchen wir neue Wege, um Erkenntnis zu befördern, menschliche Beziehungen sichtbar zu machen und Sehgewohnheiten zu destabilisieren.
Brechts wichtigster Beitrag besteht also in den innovativen Methoden, die er erarbeitet hat, um die Vergangenheit zu analysieren und die Veränderlichkeit historischer Prozesse aufzuzeigen. Brecht, der von den Kollisionen und Umbrüchen des Jahrhunderts, in dem er lebte, geprägt war, wird als Künstler und Denker immer dann relevant werden, wenn seine Art von Vision wieder not tut; wenn in einer Zeit ideologischer Unberechenbarkeit Ideen radikal kritisiert werden können, ohne dass man sich um die Wiederherstellung von alten Gewissheiten zu sorgen braucht. Kurzum, Brechts Bedeutung liegt nicht in den Anweisungen begründet, die er uns geliefert haben mag, sondern in der Fähigkeit seiner Texte, beim Nachdenken über die Geschichte unsere eigene Kreativität zu stärken.
Dieser Essay ist eine gekürzte und überarbeitete Version des Beitrags »Brecht is dead! Brecht is dead?«, der anlässlich des fünfzigsten Todestages Bertolt Brechts bei »Logos: A Journal of Modern Society and Culture« erschienen ist.
Marc Silberman ist emeritierter Professor für Germanistik an der University of Wisconsin-Madison und der ehemalige Vorsitzende der Democratic Socialists of America der Region Madison.