08. Dezember 2023
Das Konzept Klassismus wird häufig dafür kritisiert, von der ökonomischen Ausbeutung der arbeitenden Klasse abzulenken. Dabei kann das Reden über Stigmatisierung im Gegenteil als lebensnaher Ansatzpunkt für grundsätzliche Kritik am Kapitalismus dienen.
Klassismus ist ein emotionales Thema. Ich erlebe regelmäßig junge Leute, die zum ersten Mal damit in Berührung kommen. Nicht selten sind die Reaktionen heftig: gerötete Wangen, zitternde Finger, leidenschaftlich vorgetragene Argumente. Die Themen Klasse, Kapitalismus und Ausbeutung sind von da aus nur wenige Schritte entfernt. An sich müssten Linke das Konzept Klassismus also feiern. Das passiert auch, aber gleichzeitig gibt es heftige Kritik an dem Begriff.
Die Kritik am Antiklassismus stützt sich primär auf drei Thesen. Erstens: Klassismus sei eine rein »identitätspolitische« Kategorie. Antiklassismus-Akteure wollten – überspitzt formuliert – nur netter zu DHL-Beschäftigten sein, anstatt deren Ausbeutung abzuschaffen. Zweitens: Der Antiklassismus benutze einen unscharfen Klassenbegriff. Das führe dazu, dass der eigentliche Kern des Klassenbegriffs – die Ausbeutung der arbeitenden Klasse – vergessen werde. Diese Annahme führt direkt zum dritten Kritikpunkt: Das Klassismuskonzept würde zu einer Zersplitterung von Klassenkämpfen führen, weil der Feind innerhalb der eigentlich eigenen Klasse verortet werde.
Doch zumindest in Deutschland denken die wichtigsten antiklassistischen Akteure ökonomische Strukturen stets mit, selbst wenn sie sich eher auf Diskriminierung fokussieren. Das entscheidende Problem ist materielle Armut, nicht diskriminierende Begriffe, erklären zum Beispiel Andreas Kemper oder Francis Seeck. Allerdings sagen sie auch, dass die Dimension der Kultur und Anerkennung ebenfalls wesentlich ist, um Klasse zu verstehen. Klassistische Ideologie trägt zur Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft bei und der Begriff Klassismus benennt die verschiedenen Erfahrungen der Abwertung, denen arme und arbeitende Menschen ausgesetzt sind.
Bisher hat sich noch keine einheitliche Definition von Klassismus durchgesetzt. Francis Seeck definiert Klassismus als Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und Position. Das deutsche Standardwerk zum Thema von Heike Weinbach und Andreas Kemper versteht Klassismus bewusst weit gefasst als Diskriminierungs- und Unterdrückungsform. Dazu gehören sowohl die Verweigerung von Anerkennung als auch Ausbeutung und Gewalt. Diese offenere Definition wird von anderen als unpräzise kritisiert.
Gerade kam ein neues Buch von Markus Gamper und Annett Kupfer heraus, das sich darum bemüht, das Klassismuskonzept präziser zu erfassen. Im Buch wird eine sinnvolle, wenn auch etwas sperrige Definition präsentiert: Demnach ist Klassismus die Diskriminierung und Stigmatisierung entlang sozioökonomischer Klassen und andererseits die Schaffung von sozialen, ökonomischen und kulturellen Asymmetrien. Klasse ist damit die Ist-Beschreibung und Klassismus der Prozess, der Klassenstrukturen produziert und reproduziert.
In den meisten großen Zeitungen Deutschlands, aber auch in kleinen linken Zeitungen wurde in den letzten Jahren immer wieder gesagt, der Antiklassismus wolle nicht die Armut abschaffen, sondern nur netter zu Arbeitenden sein. Slavoj Žižek erklärt etwa, Antiklassismus beruhe darauf, die Identität des Arbeiters zu achten und nicht das Klassenverhältnis aufzulösen. Im Spiegel wird unterstellt, es gehe dem Antiklassismus nur darum, dem Paketboten auf halber Treppe entgegenzukommen, und auch auf Zeit Online erklärt Lars Weisbrod, die antiklassistische Identitätspolitik würde nicht verstehen, dass arbeitende Menschen Geld und nicht Respekt bräuchten. Weisbrod hat seine Behauptung wahrscheinlich nicht mit seinem DHL-Fahrer oder seiner Bäckerin abgestimmt. Denn Respekt und Anerkennung waren schon immer ein zentrales Thema für arbeitende Menschen.
Wie die neue soziologische Studie Triggerpunkte von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, ermittelt, finden 81 Prozent der deutschen Bevölkerung, dass einfache Menschen zu wenig Respekt bekommen. Wer sich Arbeiterlieder anhört oder Reden vor Arbeitendenversammlungen liest, wird feststellen, dass diese sich so gut wie immer auch um Anerkennung drehen. Immer wird ein starkes »wir« und der Stolz auf die eigene Identität bestärkt. »Wir sind die Bauherrn der kommenden Welt« heißt es in dem Lied Die Arbeiter von Wien – nicht: »Wir sorgen für eine Lohnerhöhung von 20 Prozent«.
Die Behauptung, antiklassistische Aktivistinnen und Aktivisten würden sich nur für Anerkennung interessieren, wird selten belegt. Und wenn doch, dann nur mithilfe von Anekdoten, die keine allgemeinen Aussagen zulassen. Vielfach klinkt man sich ganz einfach in die so weitverbreitete und teils irrationale Wut gegen »Identitätspolitik« ein. Wer »Identitätspolitik« sagt, braucht keine Belege.
»›Wir sind die Bauherrn der kommenden Welt‹ heißt es in dem Lied Die Arbeiter von Wien – nicht: ›Wir sorgen für eine Lohnerhöhung von 20 Prozent‹«.
Im Vergleich dazu argumentiert Fabian Nehring in einem Beitrag für JACOBIN schon sachlicher. Darin kritisiert er unter anderem das Klassenverständnis des Antiklassismus und zitiert dazu Heike Weinbach. Armut resultiere aus »Diskriminierung, sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung«, nicht aus der kapitalistischen Produktionsweise, wie Nehring fälschlich fortführt. Tatsächlich betont Weinbach nämlich zwei Absätze nach dem Zitat, dass bei Analysen von Klassismus der Status von Menschen im Produktionsprozess, also die ökonomische Stellung, zum Ausgangspunkt genommen werde.
Aber nicht nur. Und darin besteht wohl das Missverständnis, das sich durch die Feuilletons und linken Zeitungen Deutschlands zieht. Der Antiklassismus sagt zumindest in Deutschland so gut wie immer: Das Problem sind materielle Ungleichheit und ideologische Abwertung von Arbeitenden und Armen. Dieses »und« reicht einigen Linken, antiklassistischen Aktivistinnen und Aktivisten eine Fixierung auf Anerkennungspolitik zu unterstellen.
Diese Fixierung gibt es tatsächlich in bestimmten Bereichen. Die Sozialtheoretikerin Nancy Fraser gab dem Phänomen eine Bezeichnung: progressiver Neoliberalismus. Das meint eine kulturelle Emanzipation, die ohne eine Änderung ökonomischer Verhältnisse auskommt. Das trifft beispielsweise auf die Politik der ehemaligen US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton oder des kanadischen Premierministers Justin Trudeau zu. In Deutschland kenne ich allerdings niemanden, der Antiklassismus mit progressivem Neoliberalismus verbindet.
Ich habe vor einiger Zeit ein Radio-Feature zum Thema Klassismus gemacht. Darin habe ich die bis dahin wichtigsten Stimmen zum Thema interviewt. Immer wieder hörte ich, Armut und Ausbeutung seien das zentrale Thema und müssten bekämpft und abgeschafft werden. Nie hat jemand behauptet, das sei nur durch nettere Worte machbar. Andreas Kemper, der Pionier der deutschen Klassismus-Forschung, erklärte explizit, dass Klassismus eher durch starke Gewerkschaftsarbeit zu bekämpfen sei als durch Awareness-Kurse. Die Behauptung, der Antiklassismus wolle nur, dass man netter zu Armen und Arbeitenden ist, ist also unwahr.
Das zweite Argument gegen Klassismus ist verwandt mit dem ersten. Es kritisiert den Klassenbegriff, mit dem der Antiklassismus arbeitet, als unscharf. Die Frage nach dem richtigen Klassenbegriff ist auch unter denjenigen umstritten, die für Antiklassismus kämpfen. Kemper und Weinbach verweigern sich in ihrem Standardwerk allzu genauer Definitionen von Klasse und plädieren für einen Definitionsmix. Diese Offenheit trage dazu bei, alltäglich erlebte Phänomene des Klassismus besser zu erfassen und für neue Sichtweisen zu sensibilisieren.
Das ist nachvollziehbar, kann aber auch einige Nachteile mit sich bringen. Diese fasst Sebastian Friedrich in einem Artikel für die Analyse und Kritik zusammen. Unter anderem erklärt er, man solle sich nicht an einem soziologischen Schichtenmodell orientieren. Gesellschaftliche Einteilungen wie Oberschicht, obere Mittelschicht, mittlere Mitte oder untere Mitte verwässerten das Kernproblem: die Ausbeutung und die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse. Statt das Ausbeutungssystem an sich greife diese Art des Antiklassismus nur Vermögensungleichheiten und fehlende Marktchancen der Lohnabhängigen an. Es sei faktisch inkorrekt, Klassismus als Ursache für Ungleichheit anzusehen. Die tatsächliche Ursache seien die materiellen Verhältnisse.
Es stimmt: Die Linke verliert ihre argumentative Grundlage, wenn sie den Klassenbegriff nur »kulturell« und über Statusunterschiede vermittelt denkt. Milieus, kulturelle Konzepte und die Vorstellung einer geschichteten Gesellschaft alleine tragen nicht dazu bei, den Kapitalismus zu verstehen oder durch etwas Besseres zu ersetzen. Darauf hinzuweisen, ist sinnvoll. Nicht sinnvoll ist dagegen, alle Konzepte außer der marxistischen Theorie der Mehrwertproduktion durch die Ausbeutung von Arbeitskraft zu verwerfen. Eine politische Analyse, die ausschließlich damit arbeitet, beschneidet sich selbst. Auch Marx hat seine Analysen nicht darauf reduziert.
»Ausgerechnet das Thema Ungleichheit ist für den Großteil der Bevölkerung kein Emotionen-triggerndes Thema. Stattdessen macht selbst das Sprechen über Lastenräder Leute wütend.«
Nancy Frasers Konzept des progressiven Neoliberalismus wird oft zitiert, um eine Kritik an vermeintlichen oder tatsächlichen Formen der Identitätspolitik zu formulieren. Dabei wird sie aber oft nicht richtig wiedergegeben. Fraser behauptet nie, man solle Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse ausschließlich ökonomisch begreifen. Tatsächlich plädiert sie eben dafür, beide Dimensionen gleichzeitig zu denken. Ja, die letzte Ursache der klassenförmigen Ungerechtigkeit sei die Wirtschaftsstruktur des kapitalistischen Wirtschaftssystems, erklärt sie. Die bewirkte Schädigung schließe aber mangelnde Anerkennung und ökonomische Benachteiligung ein. Diese Art von statusabhängigen Schädigungen würden zusätzlich zur ökonomischen Dimension ein Eigenleben entwickeln. Die mangelnde Anerkennung verhindere die Mobilisierung betroffener Menschen gegen ihre Ausbeutung. Dazu gehören laut Fraser kulturelle Interpretationen, die arme und arbeitende Menschen erniedrigen und nahelegen, diese bekämen nur, was sie verdienen.
Es ist kaum denkbar, dass die riesigen Ungleichheiten moderner kapitalistischer Gesellschaften ohne klassistische Ideologie legitimierbar wären. Auch die berüchtigten Hartz-IV-Reformen wären vermutlich nie machbar gewesen ohne Hetze gegen »die faulen Arbeitslosen«. Es gebe kein »kein Recht auf Faulheit«, erklärte der verantwortliche Bundeskanzler Gerhard Schröder damals. In der anschließenden deutschlandweiten Debatte wurde in unzähligen Publikationen und Sendungen intensiv über »Faulenzer«, »Drückeberger« und »Sozialschmarotzer« diskutiert – und darüber, wie diese das deutsche Sozialsystem überlasteten.
Laut den Autoren der Triggerpunkte-Studie ist ausgerechnet das Thema Ungleichheit für den Großteil der Bevölkerung kein Emotionen-triggerndes Thema. Stattdessen macht selbst das Sprechen über Lastenräder Leute wütend. Schuld daran ist vor allem die meritokratische Ansicht, Arme und Reiche hätten ihre Lage verdient – eine Ansicht, die untrennbar mit klassistischer Ideologie zusammenhängt.
Selbst eine auf den ersten Blick eindimensionale ökonomische Kategorie wie Klasse enthält eine Statuskomponente, erklärt Fraser. Diese sei insgesamt weniger relevant als die ökonomische Dimension. Klassenkampf lasse sich dennoch kaum organisieren, ohne die Dimension der Anerkennung im Blick zu behalten. Faktisch haben erfolgreiche klassenkämpferische Bewegungen genau das getan. Klassenkampf war wesentlich auch ein Kampf um Anerkennung und um kulturelle Werturteile. Das zeichnet beispielsweise der Historiker E. P. Thompson in seinem Buch über die Entstehung der englischen Arbeiterklasse präzise nach.
Das dritte Argument gegen den Antiklassismus besagt, er spalte die Klasse der arbeitenden Menschen. Auf eine Weise ist da etwas dran: Jede neue Konfliktlinie »spaltet«. Es ist aber offensichtlich, dass es weder sinnvoll noch möglich ist, alle neuen Konflikte innerhalb der eigenen Klasse zu vermeiden. Schließlich ist auch die Klasse der Arbeitenden auf verschiedenste Weisen divers und diese Diversität zeigt sich in Konflikten.
Bestimmte Probleme und Widersprüche nicht anzusprechen, führt nicht unbedingt dazu, Einheit zu stiften. Eine Bewegung, die Konflikte totschweigt, ist auch nicht besonders attraktiv im Sinne politischer Mehrheitsbildungen. Sinnvoller ist es, Interessen- und Meinungsgegensätze anzuerkennen, sachlich zu diskutieren und gleichzeitig ein übergeordnetes, verbindendes Narrativ zu erzählen. Dieses Narrativ muss die reale Diversität der arbeitenden Menschen widerspiegeln. Dass innerhalb der arbeitenden Klasse bestimmte Gruppen eher ausgebeutet werden als andere, ist eine Tatsache
»Es ist kaum denkbar, dass die riesigen Ungleichheiten moderner kapitalistischer Gesellschaften ohne klassistische Ideologie legitimierbar wären.«
Hochbezahlte Tech-Angestellte profitieren davon, dass Niedriglöhner billig ihr Essen ausliefern und ihre Laptops zusammenbauen. Eine angestellte Managerin mit einem sechsstelligen Gehalt gehört streng genommen auch der arbeitenden Klasse an, da sie ihre Arbeitskraft an das Kapital verkauft. Sie hat dennoch weder dieselben Interessen noch eine ähnliche Lebenswelt wie Leute, die für Mindestlohn oder gar weniger Tag für Tag am Fließband Schweinen Bolzen in den Kopf schießen oder wegen ihrer Erwerbslosigkeit bedrängt und ausgegrenzt werden. Diese Unterschiede zu leugnen, trägt nicht zur Solidarität bei. Und sie lassen sich eben besser mit differenzierteren Klassenmodellen beschreiben.
Tatsächlich spaltet nicht das Sprechen über Klassismus, sondern der Klassismus selbst die arbeitende Klasse. Es ist für eine linke Bewegung fatal, kulturelle Erklärungsmuster durch ökonomische vollständig zu ersetzen. Stattdessen sollten beide Dimensionen von Klasse mitgedacht werden: die ökonomische und die kulturelle.
Das Klassismuskonzept soll die Marx’sche Klassenanalyse nicht ersetzen. Das fordert auch niemand. Es ergänzt vielmehr das Verständnis von Marx. Wie Gamper und Kupfer in ihrem neuen Buch erklären, spielt der Klassismus eine zentrale Rolle beim »doing class« – bei der Produktion und Reproduktion von Klasse. Klassenunterdrückung wird von arbeitenden Menschen als Stigmatisierung und kulturelle Abwertung erfahren. Dem gibt die Klassismustheorie einen Begriff. Darum reagieren viele Menschen auch so emotional, wenn sie das Konzept neu kennenlernen. Der Begriff Klassismus bezeichnet außerdem jene Ideologie, die wesentlich zur Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft beiträgt – eine Ideologie, die besagt, dass Arme zu Recht arm sind und Arbeitende zu nichts anderem gut sind als zu schlecht bezahlter Arbeit.
Houssam Hamade ist Journalist und Autor. Außerdem unterrichtet er an einer Berufsschule.