23. März 2023
Klimaschutz ist nicht nur dringend notwendig, sondern würde das Leben von uns allen konkret verbessern. Anstatt das klarzustellen, setzt der Berliner Volksentscheid auf Moral und Abstraktion – und legt sich damit selbst Steine in den Weg.
Am kommenden Sonntag wird in der Hauptstadt darüber abgestimmt, ob Berlin schon 2030 klimaneutral werden soll.
IMAGO / Winfried RothermelBerlin hat seine »Wiederholungswahlen« – ein Novum in der Geschichte der Hauptstadt – gerade erst hinter sich. Doch nun sind die Berlinerinnen und Berlin erneut aufgerufen, an die Urnen zu treten. Ein Volksbegehren möchte erreichen, dass sich die Hauptstadt das verbindliche Ziel auferlegt, bis 2030 klimaneutral zu werden. 2021 hatte der Senat dieses Ziel für das Jahr 2045 vorgegeben.
Anders als beim Volksbegehren Deutsche Wohnen und Co. Enteignen wird in diesem Fall über einen konkreten Gesetzestext abgestimmt. Das bedeutet: Sollte eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, mindestens jedoch 25 Prozent der Wahlberechtigten, der Vorlage zustimmen, wird sie Gesetz – ohne dass der alte oder neue Senat daran noch etwas ändern könnten.
Klimaschutz ist ein wichtiges Anliegen, das in der Tagespolitik oft zu kurz kommt. Die Initiative verdient es deshalb, ernst genommen zu werden. Dennoch ist es ihr nicht gelungen, ein breites gesellschaftliches Bündnis, das etwa auch Gewerkschaften miteinschließt, zu schmieden. Der Volksentscheid wird fast ausschließlich von NGOs und Jugendorganisationen von Parteien unterstützt. Hier offenbaren sich die Schwachstellen der aktuellen Strategie der Klimabewegung in Deutschland.
Fragwürdig ist ebenfalls, dass die Initiative weitestgehend darauf verzichtet hat, in ihrem Gesetzentwurf konkrete Maßnahmen zu benennen. Damit folgt man dem Ansatz der existierenden Gesetzgebung und macht sich zwar juristisch und politisch auch weniger angreifbar, verspielt jedoch auch einen wichtigen politischen Vorteil: Für Klimaschutz kann man Menschen nur begeistern, wenn man eine Vision einer konkret ausgestalteten, besseren Zukunft zeichnen kann, die die Vorteile einer Transformation greifbar macht und Ängste vor unkontrollierbaren Einschränkungen und Kosten abbaut. Doch der Ton der Kampagne bleibt größtenteils abstrakt und technokratisch.
Zwar verweist die Initiative auf einen »Klima-Stadtplan«, in dem exemplarisch Maßnahmen aufgezählt werden, doch der ist weder ein verbindlicher Teil des Gesetzentwurfs noch ein besonders exponierter Teil der Kampagne. Immerhin beinhaltet er Kostenschätzungen: Bis 2030 fielen insgesamt etwa 30,7 Milliarden an Investitionskosten für das Land an – eine gewaltige Herausforderung. Zum Vergleich: Das Volumen des gesamten Landeshaushalts für 2023 beträgt 37,9 Milliarden Euro. Natürlich darf dabei nicht vergessen werden, dass – wie die Initiative zurecht betont –, diese Investitionen an anderer Stelle zu Einsparungen führen würden, etwa bei den Strom- und Heizkosten für öffentliche Gebäude.
Die Initiatorinnen und Initiatoren des Volksbegehrens begründen das frühere Ausstiegsdatum damit, dass die Klimaziele des Landes damit in Einklang mit dem Abkommen von Paris gebracht würden. Denn nach der Logik des Vertrags müssen reiche Staaten bei der Klimaneutralität in Vorleistung gehen, ärmeren Ländern wird ein größeres Emissionsbudget zugestanden, und sie erhalten mehr Zeit, um ihre Wirtschaft umzubauen. Des Weiteren streben die Initiatorinnen und Initiatoren des Volksbegehrens eine stärkere Verbindlichkeit der gesetzlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz an. Statt Klimaziele zu »erreichen«, soll das Land laut der Vorlage verpflichtet werden, diese zu »erfüllen«.
Darüber hinaus enthält der Entwurf eine Reihe von Verschärfungen im Detail. So soll etwa die Kompensation von Emissionen über Ausgleichsmaßnahmen ausgeschlossen werden, solange eine direkte Reduktion möglich ist. Ein Beispiel: Nach dem aktuellen Gesetz wäre es zulässig, in einem öffentlichen Gebäude wie etwa einer Schule eine neue Gasheizung zu verbauen und die Emissionen, die während ihres Betriebs anfallen, durch Aufforstung – auch im Ausland – zu kompensieren.
Die Vorlage des Volksentscheids schließt das aus: Solange es technisch möglich ist, müsste eine klimaneutrale Heizanlage, also zum Beispiel Wärmepumpen oder eine Solarthermie, verbaut werden. Die technische Dekarbonisierung soll somit beschleunigt und buchhalterische Tricks verhindert werden. Darüber hinaus sollen die Emissionen, die aufgrund des Flugverkehrs am Flughafen Berlin-Brandenburg anfallen, den Gesamtemissionen des Landes Berlin anteilig angerechnet werden. Emissionen aus dem internationalen Luftverkehr werden in der Klimaberichterstattung oft keinem Einzelstaat zugerechnet und damit praktisch unterschlagen. Ein schwierig zu dekarbonisierender Sektor wird damit praktischerweise ausgeklammert. Diese etablierte, aber fragwürdige Konvention, stellt der Gesetzentwurf infrage.
Aus sozialpolitischer Sicht plant die Volksinitiative eine wichtige Verbesserung: Für den Fall, dass Vermieter Aufgrund der im Gesetz vorgeschriebenen Maßnahmen die Nettowarmmiete für Wohnraum erhöhen könnten, ist vorgesehen, den Mieterinnen die Mehrausgaben aus dem Landeshaushalt zu erstatten, und zwar bis ins Jahr 2050.
Gleichzeitig wird hier eine der größten Sollbruchstellen der Gesetzesvorlage offensichtlich: Über die finanzpolitischen Spielräume wird geschwiegen. Das muss nicht zwingen heißen, dass die Gesetzesvorlage unseriös ist, bedeutet wohl aber, dass einer der wichtigsten Faktoren zur Erreichung der Klimaziele ausgeklammert wird. Denn die Schuldenbremse in Berlin setzt Investitionen, aber auch Sozialausgaben, wie den Zuschüssen zur Miete, restriktive Grenzen. Die Initiative verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf bereits existierende Subventionsprogramme des Bundes und der EU, die Teile der Kosten abfangen könnten. Im Endeffekt kann das bedeuten, dass bei unveränderten Rahmenbedingungen und Einhaltung dieser Zuschüsse an anderen Stellen drastisch gekürzt werden muss. Sollten die finanziellen Spielräume des Landes dagegen ausgeweitet werden, wäre dies ein begrüßenswerter Vorstoß, um die soziale Sicherheit und die wirtschaftliche Nachfrage zu wahren. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass auf Basis dieses Absatzes die Vermieter durch höhere, subventionierte Mieten ihre Rendite auf Kosten des Staates noch weiter aufbessern.
Das Bundesverfassungsgericht urteilte bereits, dass Klimaschutz Verfassungsrang hat, weil seine Unterlassung die Rechte künftiger Generationen beschneide. Ganz gleich, was aus dem Berliner Volksentscheid wird: Restriktive, in Landesverfassungen und dem Grundgesetz festgeschriebene Schuldenbremsen werden zwangsläufig irgendwann in Konflikt mit dem konstatierten Verfassungsgebot zum Klimaschutz geraten. Grundrechtskonflikte sind aber nichts ungewöhnliches, und niemand kann heute voraussagen, wie die Justiz sie auflösen wird. Gut möglich, dass der Klimaschutz Politikerinnen und Politiker irgendwann eine verfassungsrechtliche Hintertür öffnen könnte, um das Investitionshemmnis Schuldenbremse zu umgehen.
Unabhängig von der Frage der haushalterischen Spielräume kann man den Volksentscheid natürlich auch als politisches Signal verstehen: Mit einer Ja-Stimme würden die Wählerinnen und Wähler unterstreichen, dass die Politik einem klimaneutralen Umbau der Stadt eine höhere Priorität einräumen muss. Der Senat stünde dann vor der Aufgabe, für eine entsprechende Finanzierung zu sorgen – etwa, indem neue Einnahmequellen erschlossen werden. Allerdings haben Länder kaum Kompetenzen bei der Festsetzung von Steuersätzen. Die Möglichkeiten in diesem Bereich sind also bescheiden.
Gleichzeitig offenbart die Kampagne aber auch die politischen Schwachstellen der Klimabewegung in Deutschland: Abstrakte Klimaziele juristisch verbindlich zu beschließen, kann zwar durchaus dazu beitragen, Druck auf Akteure aufzubauen. Doch als Inspirationsquelle und Werkzeug der politischen Mobilisierung sind sie von begrenztem Nutzen.
Der Ausgang des Volksentscheides ist bislang vollkommen offen. Eine Umfrage prognostizierte vor wenigen Wochen eine knappe Mehrheit. Die Kampagne für die Initiative hat bislang eine begrenzte Reichweite. Das dürfte auch daran liegen, dass sie es größtenteils versäumt hat, die angestrebten Klimaziele zu konkretisieren und mit dem Alltagsleben der Menschen zu verbinden: Wie sähe eine klimaneutrale Stadt im Jahr 2030 wirklich aus? Was müsste sich verändern, was würde sich verbessern? Welchen Zugewinn an Lebensqualität könnten die Berlinerinnen und Berliner erwarten?
Die Klimabewegung tut sich keinen Gefallen, wenn sie ihr Anliegen nur in Form von moralisch gebotenen, abstrakten Reduktionszielen präsentiert – und höchstens die Mehrkosten der Bürgerinnen und Bürger kompensiert. Eine klimaneutrale Wirtschaft und Gesellschaft wird in einigen Bereichen Einschränkungen und Veränderungen im Alltag mit sich bringen. Doch genauso birgt sie die Chance für eine umfassende Modernisierung der Infrastruktur, für besser isolierte Wohnungen, einen zuverlässigeren und angenehmeren öffentlichen Nahverkehr, weniger Luftverschmutzung, mehr Platz für Fußgänger und Radfahrerinnen.
In den USA hat die Klimabewegung ihre Lektion gelernt und den Schulterschluss mit den Gewerkschaften gesucht. Bei Klimaschutzgesetzen, wie etwa in Illinois und Minnesota, wurde auf verbindliche Standards für Tarifbindung und Entlohnung bei Investitionen zu gepocht – mit Erfolg. Auch in Deutschland verfolgen Teile der Klimabewegung diesen Ansatz – umso weniger verständlich ist es, dass die Berliner Volksinitiative diese Allianzen nicht sucht. Wer Klimaschutz nur als Selbstzweck und moralische Verpflichtung präsentiert, statt die damit verbundenen Verbesserungen im Alltag herauszustellen, macht es sich politisch unnötig schwer. Ob der Berliner Volksentscheid dennoch Erfolg haben wird, bleibt abzuwarten.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.