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02. Dezember 2025

Warum die Linke sich um sterbende Kneipen kümmern sollte

Explodierende Kosten und stagnierende Reallöhne zwingen immer mehr Kneipen in die Knie. Die Linke sollte sich dieses Problems annehmen. Denn eine vereinzelte Gesellschaft macht nicht nur keinen Spaß, sondern auch keinen sozialen Fortschritt.

In Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen zwanzig Jahren fast die Hälfte aller Wirte aufgegeben – so wie hier in Marl.

In Nordrhein-Westfalen hat in den vergangenen zwanzig Jahren fast die Hälfte aller Wirte aufgegeben – so wie hier in Marl.

IMAGO / biky

»Die kleine Kneipe in unserer Straße, da wo das Leben noch lebenswert ist«, sang Peter Alexander 1976 voller Rührseligkeit auf Schallplatte ein. Ein empörter Lehrer schrieb ihm damals einen bitterbösen Brief. Das Leben bekäme im Kreise einer geordneten Familie, im Besuch eines gediegenen Theaters oder im Gottesdienst einen höheren Sinn »als in einem Beisel«.

Heute müsste sich das westdeutsche Bildungsbürgertum eigentlich freuen, denn Peter Alexanders »Stückchen daheim« wirkt heute beinahe wie historischer Kitsch. Allein in Nordrhein-Westfalen hat in den letzten zwanzig Jahren fast die Hälfte aller Wirte das Handtuch geschmissen. In Brandenburg gab die Landesregierung jüngst darüber Auskunft, dass in manchen Landkreisen mehr als 70 Prozent aller Kneipen während der letzten zehn Jahre geschlossen wurden. Das vielbeklagte Kneipensterben ist in aller Munde.

Warum das so ist, ist keineswegs selbsterklärend. Die Corona-Pandemie war eine Katastrophe für die gesamte Gastronomie und viele Wirtinnen müssen heute noch Hilfen und Kredite abbezahlen. Kaum war diese Krise überwunden, folgte der Ukrainekrieg und damit explodierende Heiz-, Strom- und Lebensmittelkosten – nicht nur für die Gaststätten, sondern auch für ihre Gäste, deren schmalere Portemonnaies weniger Kneipenabende erlaubten.

»Vor dreißig Jahren trank ein durchschnittlicher Deutscher noch 133 Liter Bier im Jahr, heute sind es 88.«

Branchenverbände wie Dehoga klagen außerdem über hohe bürokratische Hürden und Personalmangel. Häufig finden Kneipiers, die sich auf den Ruhestand vorbereiten, schlicht keine Nachfolger mehr. So schwinden die einstigen Institutionen des Zusammenlebens in Dörfern und Nachbarschaften mit zunehmender Geschwindigkeit dahin.

All diese Probleme sind spürbar und real, aber man sollte sich nicht der Illusion hergeben, die kleine Kneipe in unserer Straße sei erst mit der Covid-19-Pandemie richtig unter Druck geraten. Tatsächlich klagen einige Regionen schon seit zehn oder zwanzig Jahren über den stetigen Rückgang an Schankwirtschaften. Das hat auch etwas mit den sich verändernden Lebens- und Konsumgewohnheiten junger Menschen zu tun.

Epizentrum Couch

Vor dreißig Jahren trank ein durchschnittlicher Deutscher noch 133 Liter Bier im Jahr, heute sind es 88. Der Alkoholverbrauch pro Kopf ist laut OECD zwar weit weniger gesunken, aber Brauereien und die klassischen Bierstuben haben es dadurch trotzdem schwer.

Vieles deutet darauf hin, dass die Menschen insgesamt weniger ausgehen und ihren Aperol Spritz eher im eigenen Wohnzimmer einnehmen. Eine Studie aus den USA datiert den Beginn dieses Trends auf die frühen 2000er Jahre. Auch in Deutschland wird die Couch immer mehr »zum Epizentrum der modernen Freizeitgestaltung«, heißt es in einem Bericht der Stiftung Zukunftsfragen des Tabakkonzerns British American Tobacco. Das ist ein schlechtes Zeichen für eine Gesellschaft, die ohnehin schon zu sehr von Vereinzelung und Doom Scrolling geprägt ist. Knapp die Hälfte der 16 bis 30- Jährigen in Deutschland fühlt sich heute einsam und die Abhängigkeit von Social Media scheint eine große Rolle dabei zu spielen.

»Die bürgerlichen Parteien haben jahrzehntelang die strukturellen Probleme hinter dem Kneipensterben bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls kräftig befeuert.«

Angesichts dieser verheerenden Zahlen ist es wenig verwunderlich, dass die Politik mit Alarmismus auf die sterbende Kneipenkultur in Deutschland reagiert. Die Brandenburger CDU forderte erst kürzlich ein spezielles Förderprogramm zum Erhalt der Dorfkneipen – 7,5 Millionen Euro insgesamt, wovon bis zu 150.000 Euro an einzelne Gaststätten ausgezahlt werden sollen. Das Geld soll für Investitionen in »Modernisierung, Digitalisierung und barrierefreien Umbau sowie die Förderung multifunktionaler Dienstleistungszentren im ländlichen Raum« verwendet werden.

Inwiefern Digitalisierungsmaßnahmen den angeschlagenen Brandenburger Schankwirtschaften helfen sollen, bleibt dabei wohl vorerst ein Geheimnis. Diese Inszenierung als Retter der ländlichen Kultur ist aber vor allem deshalb wohlfeil, weil gerade die bürgerlichen Parteien jahrzehntelang die strukturellen Probleme hinter dem Kneipensterben bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls kräftig befeuert haben. Hohe Strom-, Wasser- und Lebensmittelpreise, stagnierende Reallöhne und explodierende Gewerbemieten in den Städten und Mittelzentren sind nicht mit der Gewalt eines Naturgesetzes über die deutschen Gaststuben und ihre Gäste hinweggerollt. Sie sind das Ergebnis von politischen Entscheidungen regierungsverantwortlicher Parteien.

Der Pub Crawl und die Arbeiterbewegung

In der sozialistischen Arbeiterbewegung hat die Kneipe eine lange Tradition. Noch heute werden in London organisierte Pub Crawls in Erinnerung an einen denkwürdigen Abend in den 1850er Jahren organisiert, bei dem die Freunde Karl Marx, Edgar Bauer und Wilhelm Liebknecht einen Kneipenabend derart eskalieren ließen, dass sie später vor der örtlichen Polizei flüchten mussten. Jahrzehnte später mahnte Karl Kautsky, das Wirtshaus sei in Deutschland der einzige Ort, an dem die niederen Volksklassen zusammenkommen und ihre gemeinsamen Angelegenheiten besprechen können: »Ohne Wirtshaus gibt es für den deutschen Proletarier nicht bloß kein geselliges, sondern auch kein politisches Leben«.

Das Bild verrauchter Schankstuben, in denen Arbeiterinnen und Arbeiter mit rußverschmierten Gesichtern an rustikalen Holztischen über die Probleme des Klassenkampfs diskutieren, mutet zwar heute bestenfalls wie ein Motiv nostalgischer ZDF-Kostümdramen an. Fakt ist aber, dass die Kneipe als Zentrum des gesellschaftlichen Lebens in den Arbeitervierteln ein wichtiger Ort sozialer und politischer Öffentlichkeit war. Hier wurden nicht nur politische Versammlungen organisiert, sondern Neuigkeiten ausgetauscht und Freundschaften geschlossen.

»In vielen Dörfern und kleinen Städten bilden sich mittlerweile Vereine und Genossenschaften, um ihre von Schließung bedrohten Kneipen zu übernehmen oder bereits stillgelegte Schankstuben wiederzubeleben.«

Die Kneipe ist in ihrer Entstehung also untrennbar mit der Industrialisierung und der Entstehung einer modernen Arbeiterklasse verbunden, die sich spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts auch beim Feierabendbier zu einer kohärenten sozialen Kraft herausbildete. Nach den Niederlagen der Arbeiterbewegung in den 1980er und 90er Jahren, der Gentrifizierung ehemals proletarischer Kieze und der Deindustrialisierung ganzer Landstriche in Ostdeutschland und anderen heute als »strukturschwache Regionen« bezeichneten Gebieten haben sich viele klassische Arbeitermilieus aufgelöst, aber ohne dass die Klassengesellschaft an ihr Ende gelangt wäre.

Das heutige Kneipensterben, das den Abgeordneten der brandenburgischen CDU vorgeblich so viel Kopfzerbrechen bereitet, ist also nicht zuletzt das Ergebnis eines erfolgreichen Klassenkampfs von oben, der die ehemals gut organisierten Proleten bis in ihr Privatleben hinein atomisiert hat.

Angesichts der vielzähligen strukturellen Probleme sind Vorschläge wie einmalige Finanzspritzen für Dorfkneipen also bestenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein. Damit ist nicht gesagt, dass Unterstützungsmaßnahmen nicht sinnvoll sind. Fördergelder können Sanierungsstaus auflösen und der Abbau unnötiger bürokratischer Hürden eventuell den Betrieb einer Gaststätte vereinfachen. Dies sollte von der Politik unter Rücksprache mit Gewerkschaften und Branchenverbänden sorgfältig geprüft werden. All das ändert aber nichts daran, dass sich viele Gaststätten unter den Bedingungen vergleichsweise niedriger Löhne und hoher Kosten für Lebensmittel, Mieten und Energie kaum noch wirtschaftlich betreiben lassen.

Die Kneipe als Kollektivprojekt

Schon in den vergangenen Jahrzehnten basierte das Geschäftsmodell vieler Betriebe im Gastgewerbe hauptsächlich auf der rücksichtslosen Ausweitung von Niedriglöhnen und Minijobs. Diese sind in der Branche so verbreitet wie in keinem anderen Sektor der deutschen Wirtschaft – mehr als die Hälfte aller Beschäftigten ist davon betroffen. Dass der Branchenverband Dehoga gleichzeitig über den Fachkräftemangel im Gastgewerbe und über »steigenden Lohndruck« klagt, gehört mittlerweile zur verallgemeinerten Schizophrenie des deutschen Kapitals.

Es gibt aber noch einen anderen Ausweg aus der Misere, der nicht darauf beruht, nach kapitalistischen Kriterien unwirtschaftliche Betriebe durch immer niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten am Leben zu erhalten. In vielen Dörfern und kleinen Städten bilden sich mittlerweile Vereine und Genossenschaften, um ihre von Schließung bedrohten Kneipen zu übernehmen oder bereits stillgelegte Schankstuben wiederzubeleben.

Was man aus den Städten schon lange als Kollektivkneipe kennt, dringt nun auch in ländliche Gebiete vor. Manchmal geschieht das in kompletter Eigenregie, manchmal springt die Gemeinde finanziell mit ein, um die Objekte zu kaufen oder die Miete zu übernehmen. Solche Initiativen kennt man bereits aus Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Hessen, Bayern und anderen Bundesländern. Auch in meinem winzigen westsächsischen Dorf, dem nur noch ein einziger Bäcker geblieben ist und wo im alten Vereinsheim viele Jahre kein Licht mehr brannte, organisierte sich vor einigen Jahren eine Dorfgemeinschaft und veranstaltet einmal im Monat einen ehrenamtlich betriebenen Kneipenabend.

»Gerade im Osten, wo die Linkspartei in einigen Gemeinderäten noch stark vertreten ist, ergeben sich hier womöglich besondere Spielräume für eine Kommunalpolitik, die Menschen vor Ort aktiviert.«

Linke sollten solche Projekte fördern und sich, wo immer möglich, selbst mit einbringen. Gerade im Osten, wo die Linkspartei in einigen Gemeinderäten noch stark vertreten ist, ergeben sich hier womöglich besondere Spielräume für eine Kommunalpolitik, die Menschen vor Ort aktiviert und im Alltag spürbar ist. Das Interesse an solchen Initiativen scheint groß. Während die strukturelle Verwahrlosung auf dem Land von vielen Menschen jahrelang nur ohnmächtig und zähneknirschend hingenommen werden konnte, bilden sich nun vielerorts reale Alternativen zu Landflucht und Vereinsamung.

Dies ist absolut begrüßenswert. Nicht nur, weil einsame Menschen empfänglicher für rechte Politikangebote sind und linke Politik soziale Räume benötigt, sondern weil die Kneipe den Menschen mehr Lebensfreude bringt. Schon 2017 fanden Forscher an der Universität Oxford heraus, dass der regelmäßige Besuch in der Nachbarschaftskneipe Menschen glücklicher macht und größere soziale Netzwerke hervorbringt. Deshalb legt Abends lieber mal das Handy weg und lasst euch in der Kneipe um die Ecke blicken, wenn ihr noch eine habt. Prost, Genossen!

Sascha Döring lebt in Berlin und arbeitet im Bereich politische Kommunikation.