26. September 2023
Die bürgerliche Republik ist ein Fortschritt, aber nicht das Ende des Fortschritts.
»A frightful hobgoblin stalks throughout Europe.«
Illustration: Zane ZlemešaDas Kommunistische Manifest ist einer der meistübersetzten Texte der Welt. Der berühmte erste Satz, »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus«, wird im Englischen normalerweise als »A spectre is haunting Europe – the spectre of Communism« übersetzt. Die erste englische Übersetzung wählte jedoch andere Worte. Da hieß es nämlich: »A frightful hobgoblin stalks throughout Europe. We are haunted by a ghost, the ghost of Communism.«
Die Übersetzung mit dem »frightful hobgoblin«, also dem schrecklichen Kobold, erschien 1850 in der Londoner Zeitung The Red Republican. Ihr Name markierte das Zusammenkommen zweier progressiver Strömungen: Die bis dahin dominante revolutionäre Tradition des Republikanismus verband sich mit den neuen sozialistischen und kommunistischen Bewegungen. Seit der Französischen Revolution von 1789 stand der Republikanismus für Volkssouveränität, Demokratie und Freiheit. Republikaner glaubten, dass Bürger erst dann frei sein würden, wenn sie die Herrschaft der Könige und Aristokraten stürzen, die Gesetze selbst formulieren und die Politik selbst gestalten könnten.
Damit hoben sie sich nicht nur von den zeitgenössischen Liberalen ab, die im 19. Jahrhundert die Demokratie entschieden ablehnten, sondern auch von den frühen Strömungen des Sozialismus und Kommunismus. Diese waren fast ohne Ausnahme antipolitisch und antidemokratisch eingestellt – in einem Ausmaß, das aus moderner Sicht schwer zu verstehen ist. Sie hatten entweder kein Interesse an politischem Engagement oder richteten sich sogar explizit gegen das allgemeine Wahlrecht und eine demokratische Republik. Der Red Republican war Teil einer wachsenden Bewegung, die versuchte, diese antipolitischen Elemente abzuwerfen und den Sozialismus mit dem Republikanismus zu fusionieren.
»Marx und Engels arbeiteten federführend an der sozial-republikanischen Fusion.«
Es war kein Zufall, dass Marx und Engels sich für den Red Republican entschieden, um ihre Ideen in der englischen Arbeiterklasse zu verbreiten. Sie arbeiteten federführend an der sozial-republikanischen Fusion und verteidigten diese auch im Kommunistischen Manifest: Die »Erkämpfung der Demokratie« sei die erste Vorrausetzung für jegliche soziale Emanzipation. Dies war eine revolutionäre Position auf einem Kontinent, der von absolutistischen und schein-konstitutionellen Regimen dominiert wurde. Marx und Engels kritisierten gleichzeitig andere sozialistische Strömungen, die »den Repräsentativstaat, […] bürgerliche Preßfreiheit, bürgerliches Recht, bürgerliche Freiheit und Gleichheit« kleinredeten und sich »mit Erbitterung aller politischen Bewegung der Arbeiter entgegen« stellten. Mit ihrem lebenslangen politischen Engagement trugen Marx und Engels maßgeblich dazu bei, den Sozialismus in eine demokratische Richtung zu weisen. Die Schaffung dieses republikanischen Sozialismus ist einer ihrer wichtigsten (und meist übersehenen) Beiträge.
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Bruno Leipold ist politischer Theoretiker am New Institute in Hamburg. Sein Buch Citizen Marx erscheint 2024 bei Princeton University Press.