14. Mai 2021
Die Gewalt in Kolumbien erinnert an Bürgerkrieg. Der Protest richtet sich mittlerweile nicht mehr nur gegen eine Steuerreform, sondern gegen die korrupte und autoritäre Regierung an sich.
Der Protest in der Hauptstadt Bogotá richtet sich gegen die Regierung des Präsidenten Iván Duque.
Seit dem 28. April erlebt Kolumbien eine der größten popularen Mobilisierungen in der Geschichte des Landes. Die massiven Proteste begannen als ein »nationaler Streik« – ausgerufen von Studierenden, Gewerkschaften, Arbeitenden, kleinbäuerlichen, afro-kolumbianischen und indigenen Gemeinschaften, sozialen Bewegungen und feministischen Kollektiven – gegen die rechts-konservative Regierung von Präsident Iván Duque und die geplante regressive Steuerreform.
Seitdem hat sich die Mobilisierung in Umfang und Intensität ausgeweitet, trotz – oder gerade wegen – der brutalen Repression durch Polizei und Militär. An die fünf Millionen Menschen – mehr als ein Fünftel der kolumbianischen Bevölkerung – beteiligten sich in 600 Städten, Gemeinden und Dörfern an Massendemonstrationen, Arbeitsniederlegungen und Straßenblockaden.
Nach der Rücknahme der Steuerreform und dem Rücktritt des Finanzministers richtete sich der Unmut der Protestierenden vor allem gegen die ausufernde Polizeigewalt, soziale Ungleichheit, Armut, Korruption, Umweltzerstörung, Privatisierungen, die Verschleppung der Friedensvereinbarungen mit der FARC-Guerilla sowie gegen die systematische Ermordung sozialer Aktivistinnen und Aktivisten. Neben dem Rücktritt von Präsident Duque fordern die Protestierenden einschneidende soziale, wirtschaftliche und politische Reformen.
In den Großstädten und auch auf dem Land kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen den Demonstrierenden und der Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei. Das im Süden des Landes gelegene Cali ist das Epizentrum der Proteste und der staatlichen Repression. Nach der von Präsident Duque angeordneten »maximalen« Militarisierung gleichen Teile der Stadt einem Kriegsgebiet. Militärhubschrauber rotieren über brennenden Straßenblockaden, während sich am Boden vermummte Jugendliche mit Schildern, Helmen, Masken und Steinen gegen Wasserwerfer, Tränengasprojektile und Gummigeschosse zur Wehr setzten. In sozialen Netzwerken kursieren zahlreiche Videos, in denen die Polizei und bewaffnete Zivilisten auch mit scharfer Munition auf die Protestierenden schießen. Über zwanzig Menschen sind dabei bisher ums Leben gekommen.
Die Polizeigewalt beschränkt sich jedoch keineswegs nur auf Cali. Laut der kolumbianischen Non-Profit-Organisation Temblores sind bei den landesweiten Protesten bis dato insgesamt 39 Menschen getötet, an die 800 verletzt und fast 1000 willkürlich inhaftiert worden; knapp 400 Menschen gelten als vermisst. Außerdem kam es zu zahlreichen Angriffen auf UNO-Mitarbeiterinnen und Journalisten. Die USA, die EU, die UNO und zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben die staatliche Repression mit zum Teil scharfen Worten verurteilt.
Die kolumbianische Rechte hingegen kriminalisiert den demokratischen Protest und fordert ein noch repressiveres Vorgehen. Der weiterhin einflussreiche ehemalige Präsident und Duque-Förderer Álvaro Uribe spricht von »terroristischem Vandalismus« und unterstellt den Protestierenden, von Kolumbiens noch verbleibender Guerilla, der Nationalen Befreiungsarmee (ELN), dem Drogenhandel und der regionalen Linken fremdgesteuert zu sein.
Parallel zu den Protesten erlebt Kolumbien eine tödliche dritte Welle der Covid -19-Pandemie mit hohen Infektionszahlen und übervollen Intensivstationen. Das Land wurde von der globalen Gesundheitskrise besonders schwer getroffen: Mehr als 76.000 Menschen sind dem Virus bereits zum Opfer gefallen. Das ist nach Brasilien und Mexiko die drittgrößte Zahl an Verstorbenen und Infizierten in der Region.
Außerdem hat die Pandemie die angespannte wirtschaftliche und soziale Lage vieler Kolumbianerinnen und Kolumbianer noch weiter verschärft. Im Zuge der anhaltenden Wirtschaftskrise ist die Armut im Vergleich zum Vorjahr um 6,8 Prozent gestiegen; 42,5 Prozent der kolumbianischen Bevölkerung leben mittlerweile unter der Armutsgrenze, 15 Prozent in extremer Armut. Die starke Abwertung des Pesos seit Pandemiebeginn hat Importe verteuert und die Inflation angeheizt. Die Preissteigerungen treffen ärmere Sektoren am härtesten, wodurch die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinandergeht. Laut Weltbank ist Kolumbien nach Honduras das Land mit der zweithöchsten sozialen Ungleichheit in Lateinamerika; weltweit rangiert es in dieser Kategorie auf dem siebten Platz. Die Pandemie hat Millionen von Menschen arbeitslos, verarmt und hungrig zurückgelassen. Viele, die heute ihre Verzweiflung auf die Straße tragen und das miserable Krisenmanagement der Regierung kritisieren, haben buchstäblich nichts mehr zu verlieren.
Armut, Arbeitslosigkeit und Prekarität sind jedoch bei weitem nicht die einzigen Kritikpunkte der Protestierenden. Weiterhin bedrohen Freihandelsverträge und subventionierte Agrarimporte aus den USA und der EU die Existenz kolumbianischer Kleinbauern. Umweltgruppen und indigene Bewegungen kritisieren die Ausweitung extraktivistischer Großprojekte, die Zulassung von Fracking und die Wiederaufnahme der umstrittenen Glyphosat-Besprühung von Koka-Pflanzen. Gewerkschaften beklagen die schleichende Privatisierung des staatlichen Rentensystems; Studierende die nicht enden wollende Krise der öffentlichen Universitäten.
Die Duque-Regierung steht seit längerem in der Kritik, die Umsetzung des 2016 mit der FARC-Guerilla unterzeichneten Friedensabkommens zu verschleppen. Vor allem die im Vertrag vorgesehene Bodenreform blendet die Regierung im Interesse von Großgrundbesitzern aus. Gleichzeitig haben auch die Gewalttaten unter Duque wieder zugenommen. Die UNO zählte im Jahr 2020 76 Massaker – die höchste Zahl seit 2014. Opfer sind meist Aktivistinnen, Kleinbauern und Indigene, die ihr Land und ihre Lebensweisen gegen bewaffnete Gruppen, Bergbauprojekte und die Agrarindustrie verteidigen. Laut der NGO Indepaz wurden allein im Jahr 2020 310 »soziale Führungsfiguren« ermordet. Daneben haben mehr als 250 ehemalige FARC-Mitglieder seit 2016 ihr Leben gewaltsam verloren. In beiden Fällen sind die Täter meist rechte Paramilitärs, dissidente FARC-Gruppen, das Militär oder Drogenbanden.
Seit den letzten großen Mobilisierungen Ende 2019 hat sich vor allem durch die Pandemie die multidimensionale Krise, die die Protestgruppen unterschiedlich trifft, merklich verschärft. Gleichsam hat sich der Gegensatz zwischen den Protestierenden und der korrupten, realitätsfernen und autoritären Regierung verstärkt. Die Ausweitung und die Radikalisierung der aktuellen Proteste stehen in engem Zusammenhang mit dieser Entwicklung. Waren die Anliegen in der Vergangenheit eher konjunktureller, punktueller und personeller Natur, so fordern mittlerweile immer mehr Menschen eine grundlegende Veränderung.
Die derzeitigen Proteste sind weniger Abwehrkämpfe, sondern gehen zunehmend in die Offensive. Die herrschende Gesellschaftsordnung wird von immer mehr Beteiligten infrage gestellt. Zugleich nimmt die Vorstellung eines sozial gerechten, demokratischen und friedlichen Kolumbiens Konturen an.
Kolumbiens popularer Aufstand ist vielfältig, nicht nur was seine Forderungen und Partikularinteressen angeht, sondern auch in seinen Protestformen und Symbolen. Dennoch haben es die Demonstrierenden verstanden, die verbindenden Elemente in den Vordergrund zu stellen. Was die einzelnen Sektoren eint, ist die positive Selbstdefinition als pueblo. Dabei handelt es sich um einen Klassenbegriff, der die verschiedenen unterdrückten, ausgebeuteten, diskriminierten und widerständigen Gruppen zusammenfasst und den herrschenden Klassen gegenüberstellt.
Zugleich haben die Ablehnung der uribistischen Duque-Regierung und die Kritik am neoliberalen, extraktivistischen Akkumulationsmodell eine verbindende Wirkung auf die Protestierenden. Viele der Anliegen und Forderungen stehen in direktem Zusammenhang mit den daraus resultierenden politischen, sozio-ökonomischen und ökologischen Verwerfungen. Der populare Aufstand ist Ausdruck einer sich vertiefenden hegemonialen Doppelkrise: zum einen fällt es dem Uribismus immer schwerer, weite Teile des pueblo kulturell, intellektuell und politisch zu führen; zum anderen gelingt es unter dem herrschenden Wirtschaftsmodells nicht, die subalternen Klassen durch materielle Zugeständnisse einzubinden.
Trotz dieser hegemonialen Krise erschweren der dezentrale und zum Teil unkoordinierte Charakter der Proteste die Formulierung gemeinsamer politischer Ziele. Erste dahingehende Versuche kommen vom Nationalen Streikkomitee, das die unterschiedlichen Gruppen vereint. Neben einer Polizeireform fordert das Komitee ein Grundeinkommen für die ärmsten Bevölkerungsgruppen, das Aufhalten der geplanten Glyphosat-Besprühungen und die Demilitarisierung der Städte und Dörfer.
Die Gespräche mit der Regierung haben bislang jedoch zu keinem Ergebnis geführt. Vielen Protestierenden gehen die Forderungen ohnehin nicht weit genug. Sie lehnen die Repräsentation durch das Streikkomitee ab und wollen ihren Kampf weiterhin auf die Straße tragen. Für Kolumbiens parlamentarische Linke und progressive Oppositionspolitikerinnen könnte die Fortsetzung der Mobilisierung jedoch vor allem in Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2022 eine wichtige Rolle spielen. Der reformistisch orientierte Gustavo Petro, der Duque 2018 mit einem für die Linke historisch starkem Ergebnis unterlag, führt mittlerweile in den Umfragen.
Wie lange Kolumbiens popularer Aufstand tatsächlich andauern wird und in welche Richtung er sich entwickelt, ist momentan noch nicht absehbar. Die Lage in Cali ist nach wie vor extrem angespannt. Angesichts der bürgerkriegsähnlichen Zustände kommt es inzwischen zu Engpässen bei Lebensmitteln und Treibstoff. Und auch die Gewalt geht unvermindert weiter: Anfang der Woche erlag Lucas Villa, einer der Rädelsführer des Aufstands, im Krankenhaus seinen Schussverletzungen. Seine Mörder waren bewaffnete Zivilisten, die mit der Tat ein abschreckendes Zeichen setzen wollten. Mittlerweile ist Lucas jedoch zu einer landesweiten Symbolfigur geworden. Für viele verkörperte er die rebellische Gesinnung, die Furchtlosigkeit und die Lebensfreude all jener, die sich nach einem anderen Kolumbien sehnen. Für die kommenden Tage und Wochen sind erneut landesweite Mobilisierungen angekündigt.
Aaron Tauss ist Assoziierter Professor für Internationale Politik an der Nationaluniversität in Kolumbien.
Aaron Tauss ist Assoziierter Professor für Internationale Politik an der Nationaluniversität in Kolumbien.