28. Dezember 2021
Nach dem Sieg wird es schwierig: Gabriel Boric wurde als Anführer der Studentenproteste bekannt, jetzt wird er Chiles Präsident. Doch er muss mit politischen Kräften regieren, die Teil des Problems sind.
Gabriel Boric in Santiago nach seinem Wahlsieg, 19. Dezember 2021.
Gabriel Boric ist Chiles neuer Präsident. Der ehemalige Studentenführer und Kandidat der Mitte-links-Koalition »Apruebo Dignidad« (dt. »Ich stimme der Würde zu«) gewann die Stichwahl mit großem Vorsprung vor seinem Konkurrenten José Antonio Kast, einem Rechtsextremenn, der seine Niederlage bereits gut eine Stunde vor Schließung der Wahllokale einräumte.
Nach offiziellen Angaben der chilenischen Wahlbehörde SERVEL lag die Wahlbeteiligung bei 55 Prozent, was 8,5 Millionen Stimmen entspricht – eine vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung für ein Land, in dem Wahlenthaltung üblich ist. Dass es dieses Mal so kam, ist vor allem auf die Angst vor einem Sieg des autoritären und rassistischen Pinochet-Verehrers Kast zurückzuführen. Mit fast 56 Prozent der Stimmen wird Boric mit 35 Jahren ab dem 11. März 2022 der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles sein.
Boric hat in der Hauptstadt Santiago leicht dazugewonnen, vor allem in den ausgedehnten südlichen Vororten, wo Hochburgen des Widerstands gegen die Militärdiktatur (1973–1989) angesiedelt sind. Borics Partei gewann aber auch in der Küstenregion der Hafenstadt Valparaíso und im Norden des Landes Stimmen hinzu.
Im Süden Chiles erzielte die extreme Rechte zwar auch im zweiten Wahlgang ein starkes Ergebnis, doch für den Sieg des Pinochet-Kandidaten reichte das nicht. Kast war es im südlichen Araucanía gelungen, tatsächlich mehr als 60 Prozent der Stimmen zu erringen, indem er ankündigte, in den südlichen Provinzen extrem repressiv gegen die indigenen Völker, insbesondere die Mapuche vorzugehen. Diese fordern ihr Land zurück, das momentan noch von multinationalen Energie-, Fischerei- und Holzkonzernen besetzt ist.
Der Wahltag verlief friedlich, war jedoch von heftigen Kontroversen gegen Gloria Hutt, Verkehrsministerin der scheidenden Regierung von Sebastián Piñera (Anm. d. Red.: Mitglied der rechtsgerichteten Partei Renovación Nacional), geprägt. Grund dafür war das marode Verkehrssystem in den Großstädten; insbesondere die Vororte und Arbeiterviertel, in denen eine traditionell linke Wählerschaft lebt, sind betroffen. Aufgrund der hohen Temperaturen mit Höchstwerten von fast 35 Grad kam es zu zusätzlichen Einschränkungen im öffentlichen Nahverkehr. Die Wahlkampfleiterin von Boric, Izkia Siches, warf der konservativen Regierung vor, Wählerinnen und Wähler daran hindern zu wollen, die Wahllokale zu erreichen, woraufhin Siches die Bevölkerung aufrief, ein Nottransportsystem zu organisieren. Der Abgeordnete Giorgio Jackson, einer der Gründer der »Frente Amplio« (dt. Breite Front) und die rechte Hand des künftigen Präsidenten, fuhr Gruppen von Rentnerinnen und Rentnern in seinem eigenen Wagen zu ihren Wahllokalen, um ein Zeichen zu setzen.
Gegen 22 Uhr, wenige Stunden nach der sehr schnellen und einwandfreien Auszählung der Stimmen, traf Boric in Begleitung seiner Verlobten, der Politikwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin Irina Karamanos, im Zentrum der Hauptstadt ein. In seiner ersten Rede als gewählter Präsident bedankte er sich bei den Zehntausenden Anhängerinnen und Anhängern, die die Hauptstraße der Stadt bevölkerten.
Unter Beifall und Feuerwerk begrüßte Boric die Menschen in Mapudungun, der Sprache der Mapuche. Er versprach in seiner vierjährigen Regierung, das Recht auf Bildung und Gesundheit zu gewährleisten und das private Rentensystem zu reformieren. Dieses war vom Bruder des derzeitigen Präsidenten Piñera mitten in der Diktatur geschaffen worden und sieht keine allgemeine Mindestrente vor. Boric verwies auch auf den Schutz der Menschenrechte und der Umwelt und bekräftigte, dass das umstrittene Bergbauprojekt Dominga während seiner Regierungszeit nicht weitergeführt wird. Letzteres sieht den Abbau von Eisen und Kupfer in einem Fischereigebiet in der Nähe des Humboldt-Archipels vor, in dem eine gefährdete Pinguinart lebt.
Seine Rede endete mit einem Satz, der für die Zukunft optimistisch stimmt: »Heute ist der Tag, an dem die Hoffnung über die Angst gesiegt hat«. Eine hektische Wahlkampfwoche ging damit zu Ende, die auch durch den Tod der 99-jährigen Witwe des Diktators Augusto Pinochet, María Lucía Hiriart, geprägt war. Die Nachricht ihres Abblebens wurde auf den großen Plätzen Chiles mit Gesang, Tanz und Trinksprüchen begrüßt.
Hiriart war nicht nur eine Hofdame des Präsidenten, sondern auch eine aktive politische Beraterin des Diktators. Nach dem Putsch gegen Salvador Allende am 11. September 1973 ernannte Pinochet sie zur Leiterin der Cema-Stiftung, einer in den 1950er Jahren gegründeten Charity-Organisation, die Frauen in Elendsvierteln unterstützen sollte. Pinochets Gattin verwandelte die Stiftung schnell in eine Geldwaschmaschine, indem sie Grundstücke verkaufte, die sie vom Staat kostenlos erhalten hatte. Im Jahr 2007 wurde sie wegen Betrugs angeklagt, aber freigesprochen. Dabei nutzte sie ihre Kontakte in der Justiz, in der nach wie vor Beamte aus der Pinochet-Ära tätig waren, obwohl die Diktatur seit dreißig Jahren vorüber war. Als Boric davon erfuhr, erklärte er, dass Pinochets Witwe ein skandalöses Beispiel für die Straflosigkeit in Chile sei. Kast wiederum bekundete sein Beileid und erklärte, er habe keine persönliche Beziehung zur Familie der Verstorbenen.
Boric bereitet sich nun darauf vor, am 11. März in einem der ungleichsten und am stärksten privatisierten Länder das Amt des Präsidenten anzutreten. Man wird noch einige Wochen abwarten müssen, bis die Besetzung der Ministerien bekannt gegeben werden. Erst dann wird sich zeigen, ob die neue Regierung tatsächlich versuchen wird, die Wirtschaft umzubauen, oder ob Boric eher eine moderat-reformistische Agenda verfolgen wird. Für den Moment ist der Sieg der Frente Amplio jedoch zweifelsfrei eine gute Nachricht für den laufenden verfassungsgebenden Prozess. Ein Sieg von José Antonio Kast hätte zu einer paradoxen Situation geführt: 155 Delegierte, die vor kaum sieben Monaten mit der Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten, ins Amt gewählt wurden, wären auf eine Regierung gestoßen, welche die seit 1980 geltende Pinochet-Verfassung entschieden verteidigt. Einer der ersten Gratulanten des neu gewählten Boric war dementsprechend auch der Vizepräsident der Verfassungsgebenden Versammlung, Rechtsanwalt Jaime Bassa.
Auch die Frauen- und die LGBT+-Bewegung, die seit Jahren für die Legalisierung der Abtreibung und die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften kämpfen, atmeten auf. Im Falle eines Sieges der Rechtsextremen hätten sie sich auf eine homophobe und frauenfeindliche Politik einstellen müssen. Außenpolitisch dürfte sich Chile unter Boric um eine Wiederbelebung der Integration und Kooperation lateinamerikanischer Staaten bemühen, wie sie bereits von Argentinien unter Alberto Fernández, von Mexiko unter Andrés Manuel López Obrador und von Bolivien unter Luis Arce und Evo Morales’ »Movimiento al Socialismo« (dt. Bewegung zum Sozialismus) vorangetrieben wird, wenn auch noch zaghaft.
Die nächste chilenische Regierung wird auf die Mitarbeit der Grupo de Puebla zählen können, die von dem zentristischen Senator im chilenischen Parlament, Marco Enríquez Ominami, gegründet wurde. Diesem länderübergreifenden Zusammenschluss gehören verschiedene Persönlichkeiten an, darunter auch der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva – eine der wichtigsten Figuren der heutigen südamerikanischen Linken.
Die meisten offenen Fragen betreffen die innenpolitische Linie des neu gewählten Boric. Einerseits wird er, wenn auch nur teilweise, Antworten auf die Forderungen der zahlreichen Demonstrationen der letzten zwei Jahre [Anm. d. Red.: Proteste gegen soziale Ungleichheit] finden müssen. Andererseits wird er sich mit dem Establishment der Concertación Partidos por la Democracia auseinandersetzen müssen, einer ehemaligen Koalition sozialdemokratischer Parteien, die das Land seit dem Ende der Diktatur von 1989 bis 2010 regierten. Auch die Sozialistische Partei der ehemaligen Präsidentin Michelle Bachelet und die Christdemokratie der ehemaligen Senatorin und Präsidentschaftskandidatin Yasna Provoste waren Teil dieses Bündnisses. Beide haben die Kandidatur von Boric in der zweiten Runde unterstützt und in mehreren Regionen des Landes gegen Kast mobilisiert – eine wichtige Rückendeckung, die unweigerlich auch das Kräfteverhältnis im nächsten Kabinett beeinflussen wird.
Auf Boric kommen schwierige Herausforderungen zu. Er tritt als Präsident des Wandels an, wird aber in einer Koalition mit den traditionellen Parteien regieren müssen, die von den sozialen Bewegungen als Teil des Problems erachtet werden. Zugleich steckt das Land inmitten einer Wirtschaftskrise, die durch die Pandemie noch verschärft wurde. Boric hat im Parlament keine klare Mehrheit hinter sich, der Verfassungsgebende Prozess ist im Gange und ihm steht eine entschlossene Rechte entgegen, die sich unverhohlen nach der Militärdiktatur von Augusto Pinochet sehnt.