21. Oktober 2020
Bei den Kommunalwahlen in Wien lag die Sozialdemokratische Partei Österreichs klar vorn und bleibt im Amt. Was bedeutet der Wahlerfolg für eine linke Stadtpolitik?
Die Sozialdemokraten haben in Wien mit Abstand gewonnen. Von einem vollen Erfolg kann dennoch nicht die Rede sein.
Das radikal-reformistische Rote Wien ist ein Vorzeigeprojekt – unter anderem im Bereich des kommunalen Wohnbaus –, dessen Nachwirken einen Zuwachs an Lebensqualität in Wien ermöglicht. Die öffentlichen Schwimmbäder, die Bibliotheken, die Gemeindebauten – sie prägen die österreichische Hauptstadt bis heute.
Anfang Oktober wählte Wien seinen neuen Gemeinderat und die Bezirksvertretungen. Den Wiener Sozialdemokraten (SPÖ) gelang es entgegen dem (inter-)nationalen Trend, Mandate und Prozente zu gewinnen. Damit ist gesichert, dass es auch in den kommenden Jahren einen sozialdemokratischen Bürgermeister in Wien geben wird. Szenarien, die vor einem Jahr möglich erschienen – etwa ein Bündnis aus Grünen, ÖVP (Österreichische Volkspartei) und der liberalen NEOS gegen die SPÖ –, wurden von den genannten Akteuren wohl zumindest aus wahlkampftaktischen Gründen beiseitegestellt. Doch: Auch wenn Michael Ludwig weiter im Amt bleibt, stehen den Sozialdemokraten eine Reihe an Herausforderungen bevor.
Als erstes sollten wir festhalten, dass die SPÖ Stimmen verloren hat. Im Jahr 2020 erhielt sie zwar 301.967 Stimmen, aber 2015 waren es noch 329.773 Stimmen und 2010 immerhin 334.757. Auch wenn bei der Wahl 2020 ein prozentuales Plus und ein Gewinn an Mandaten zu verzeichnen ist, verliert die Wiener Sozialdemokratie laufend Wählerinnen und Wähler. Man mag nun spekulieren, dass womöglich viele ältere SPÖ-Wählerinnen aufgrund der Corona-Krise nicht an die Wahlurnen geschritten sind, dennoch muss dieser Trend Besorgnis erregen. Selbst wenn der medialen Demobilisierungskampagne (»SPÖ Wien steht vor der Absoluten«) aus dem ÖVP-Umfeld Wert beigemessen wird ist klar: dieses Plus lässt sich nicht auf einen Wählerzuwachs zurückführen.
Die Sozialdemokraten haben in ganz Wien auf Gemeinderatsebene 41,62 Prozent der Stimmen erreicht – mit Blick auf die Bezirke, zeigt sich ein weniger einheitliches Bild. Erfreulich ist zunächst, dass das rot-blaue Kopf-an-Kopf-Rennen um die Gemeindebauten diesmal nicht wieder stattgefunden hat. Nach Berechnungen des Meinungsforschungsinstituts OGM kommt die SPÖ unter Gemeindebaubewohnerinnen und -bewohnern auf 51 Prozent, die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) war 2015 mit ihr gleichauf und lag teilweise sogar leicht vorn. Während die Wiener SPÖ in Flordisdorf, dem Wohnbezirk des Bürgermeisters, 6 Prozent auf Bezirksebene dazu gewinnen konnte, verlor sie Stimmen in einigen Innenstadtbezirken, wie dem Neubau und der Joseftstadt. In beiden Bezirken haben in letzten Legislaturperiode die Grünen und die ÖVP regiert. Sie gehören außerdem zu den Bezirken mit höherem Durchschnittseinkommen und dem dritt- bzw. zweithöchsten Anteil an Akademikerinnen und Akademikern in Wien.
Aber auch im innerstädtischen Margareten, wo das durchschnittliche Einkommen unter dem Wiener Durchschnitt liegt, verlor die SPÖ. Vor allem in den Innenstadtbezirken zeigt sich auf der Ebene der Bezirkswahl aber, dass die SPÖ Wählerinnen und Wähler an die Grünen verliert. Dort wo ein knappes Wettrennen zwischen SPÖ und Grünen zu erwarten war, etwa auf der Wieden oder am Alsergrund, stellen progressive jüngere Sozialdemokratinnen die Bezirksvorsteherinnen – auch, um die Bezirke gegen die Grünen zu halten. Jene Wählergruppe, die auf der Ebene des Gemeinderats rot und auf Bezirksebene grün wählt, tut dies wohl insbesondere wegen der Stadtplanungskonzepte der beiden Parteien. Wenn die SPÖ die Bezirksvorstehungen in Mariahilf, auf der Wieden, am Alsergrund, in der Leopoldstadt – aber auch in Margareten – halten will, braucht sie eine neue Vision sozialdemokratischer Stadtplanungspolitik: ein Zurück in die Zukunft. Diese muss ein Gegengewicht zu den Grünen Vorschlägen sein, in denen Armut einfach unsichtbar gemacht wurde.
Eine fortschrittliche Stadtpolitik, die Politik für alle machen will, muss einen Interessensausgleich herstellen. Wie wir unsere Freizeit gestalten ist milieu-, klassen-und geschlechterspezifisch. Zusätzlich wirkt die Klimakrise besonders stark auf armutsbetroffene und einkommensschwächere Familien – etwa aufgrund schlechterer Wohnverhältnisse. Die Grünen werben dort, wo sie auf Bezirksebene besonders stark vertreten sind, mit »autofreien Bezirken«. Wohin die SUVs gestellt werden, die auch einige Grünwähler dieser Bezirke fahren, bleibt erstmal offen. Stadtplanung muss mehr bieten als Pop-up-Radwege. Eine sozial-ökologisch geplante Stadt muss Forderungen nach sozialer Absicherung, ökonomischer Durchmischung, bezahlbarem Wohnraum gerecht werden und den Ausbau von sozialer Infrastruktur und Solidarität im öffentlichen Raum voranbringen. Wir brauchen eine klimagerechte, nachhaltige Stadtplanung für alle Menschen, nicht nur für Besitzerinnen und Besitzer von Eigentumswohnungen in innerstädtischen Bezirken.
In den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren war die ÖVP mit kümmerlichen 10 Prozent die Partei der Großbürgerlichen, der Autofanatiker, der Managerinnen und k.u.k.-Nostalgiker. Bei den Wahlen 2020 konnte sie sich wieder auf 20 Prozent hochkämpfen. Die österreichweite Bewegung nach rechts der ÖVP ist vor diesem Hintergrund besonders bedenklich. Denn diese Verschiebung, die unter Sebastian Kurz besonderen Aufwind erfuhr, schlägt sich im gesamten politischen Diskurs nieder. Aber mehr noch: Wenn wir der weitverbreiteten These folgen, dass die SPÖ seit den 1990er Jahren Wählerinnen an die FPÖ verloren hat, und dass bei dieser Wahl ehemalige FPÖ-Wähler die ÖVP wählten, dann bedeutet das, dass ehemalige SPÖ-Milieus jetzt die ÖVP wählen. Oft mag dieser Weg über ein zwischenzeitliches »Nicht-Wählen« verlaufen. Doch Erfolge in diesem Klientel zementieren die Verschiebung nach rechts der ÖVP, die sich kürzlich erst wieder in den unmenschlichen Position im Kontext des Brandes in Moria drastisch dargestellt hat.
Die Zugewinne der SPÖ in den sogenannten »Flächenbezirken«, deren Einwohnerzahl in etwa dem Burgenland gleichkommt, wurden bereits erwähnt. Hier konnten offenbar in stärkerem Ausmaß ehemalige Nicht-Wähler und FPÖ-Wählerinnen zurückgewonnen werden. Hier braucht es eine Strategie, die ehemalige FPÖ-Wählerinnen und -Wähler nicht nur auf den Stimmzetteln, sondern auch ideologisch wieder dahin zurückholt, die Spaltungslinie zwischen oben und unten und nicht zwischen Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte zu sehen. Wenn diese »ideologische« Rückeroberung der sozialen Frage nicht gelingt, ist man erstens weit davon entfernt, Rassismus in der Gesellschaft zu bekämpfen, und zweitens sind diese »Rückgewinne« nicht nachhaltig, weil das Milieu für rassistische Propaganda der FPÖ zugänglich bleibt.
Das Wahlergebnis ist auch in Hinblick auf Fragen der Demokratie kritisch zu betrachten. Die Wahlbeteiligung 2020 lag bei 65 Prozent, 2015 waren es 75 Prozent. Aber nicht nur die Wahlbeteiligung, auch der Anteil der Wahlberechtigten sinkt. Bei der Wiener Gemeinderatswahl 2015 waren 1.143.045 österreichische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wahlberechtigt, 2020 sind es 1.133.011. Auf der Ebene der Bezirksvertretungswahlen ist im Vergleich zu 2015 ein leichter Anstieg um 36.000 Menschen zu verzeichnen, während aber seither über 100.000 Menschen mehr in Wien wohnen.
Über eine halbe Million Menschen in wahlfähigem Alter sind von der Wahl ausgeschlossen, obwohl die allermeisten von ihnen ihren Lebensmittelpunkt schon viele Jahre in Wien haben oder überhaupt niemals woanders lebten. Mit Blick auf das Wahlrecht folgt daraus, dass 45 Prozent der Wienerinnen und Wiener nicht im Wahlergebnis repräsentiert sind. Das sind vor allem Menschen ohne Job, Armutsbetroffene, Menschen mit niedriger formaler Bildung und Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, wie die Politikwissenschaftlerin Tamara Ehs darlegt. Im einkommensschwachen Rudolfsheim-Fünfhaus sind nur 58 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner wahlberechtigt.
Die letzte Nachricht des Abends war, dass das Wahlprojekt von LINKS Wien deutlich an der 5-Prozent-Hürde für den Einzug in den Gemeinderat scheiterte, allerdings konnte die Partei mit 2,06 Prozent einen Achtungserfolg erzielen. Auf Bezirksebene konnte LINKS mit 23 Mandaten gegenüber der Partei Wien Andas, einem früheren Wahlbündnis rund um die KPÖ, die linken Bezirksvertretungsmandate mehr als verdreifachen. Zum Teil ist LINKS sogar mit Klubstatus in den Bezirksparlamenten vertreten, was erweiterte Rechte für die Mandatsträgerinnen ermöglicht. Dennoch stellt sich die Frage, ob damit das Maximum eines linken Wahlantritts in Wien erreicht wurde. Denn die Ausgangsbedingungen dafür stehen heute besonders günstig. Während 2015 die Wiederwahl des damaligen Bürgermeisters Michael Häupl während des Wahlkampfes im Kontext der sogenannten »Flüchtlingskrise« durch eine besonders starke Zustimmung zur FPÖ gefährdet schien, war die Niederlage der FPÖ 2020 absehbar. Diese Verluste machten ein »strategisches Wählen« weniger bedeutsam und ermöglichten daher Zugewinne für kleinere Parteien wie der LINKS.
Der überraschende Erfolg von LINKS bei den Bezirksvertretungswahlen hat wohl viele Hintergründe – die steigenden Mieten in Wien sind wohl einer. Darüber hinaus ist es LINKS mit Anna Svec gelungen, eine ausgezeichnete Spitzenkandidatin zu stellen, die auch außerhalb des Dunstkreises wirkt. Ein weiterer Faktor für das gute Abschneiden von LINKS ist, dass man mit den Donnerstagsdemos einem politisierten Milieu einen Bezugspunkt gegeben hat – jede Woche wurde ein anderes Thema bzw. ein anderer gesellschaftlicher Widerspruch in den Vordergrund gestellt.
Der Wahlerfolg in den Bezirken ist auch auf finanzieller Ebene bedeutsam, denn vor allem aktivistische Zusammenhänge waren bisher in Wien finanziell prekär aufgestellt. Die Herausforderung für die linken Mandatsträgerinnen und Mandatsträger besteht nun darin, den Grundstein für ein längerfristiges Projekt zu legen, das auch in großen Bezirken wie Favoriten, Simmering, der Donaustadt und Floridsdorf Verankerung findet. Wie sich LINKS auf der Ebene der Bezirksräte als linke Opposition einbringen kann und was ihre Forderung »Stadt für alle« konkret bedeutet, wird sich noch zeigen.