23. Oktober 2023
Deutschlands Kommunen stehen vor massiven Herausforderungen: marode Schulen, geschlossene Schwimmbäder und kaputte Straßen. Doch Investitionen in die Infrastruktur sind alarmierend niedrig. Um die Kommunen zu sichern, braucht es eine Neuorientierung in der Finanzpolitik.
Eine Tafel in einem leeren Klassenzimmer der alten Grundschule in Trinwillershagen.
Wenn man in Deutschland seine ehemalige Schule besucht, dann stehen die Chancen gar nicht schlecht, die eigenen Toilettengraffitis von früher vorzufinden. Alles noch wie damals. Unsanierte Schulen sind aber nur eins von vielen Problemen, mit denen Kommunen sich herumschlagen müssen. Geschlossene Schwimmbäder, fehlende Kita-Plätze, kaputte Straßen und Brücken, ein schleppender Glasfaserausbau. Die Liste der Baustellen ist lang.
Das kommt nicht von ungefähr. Deutschland belegt in der EU den vorletzten Platz, was Investitionen in die eigene Infrastruktur angeht. Nur 2,1 Prozent des BIPs werden in öffentliche Infrastruktur gesteckt, während die EU-Länder durchschnittlich 3,7 Prozent investieren. Diese Investitionsrückstände machen nicht nur den Menschen das Leben schwer, sondern sind auch negative Standortfaktoren für Unternehmen. Umso erstaunlicher ist es, dass Konservative und Liberale sich dem Problem zwar bewusst sind, es aber mit ihrer Politik noch verschlimmern.
Anstatt die so dringend benötigten Investitionen endlich auf den Weg zu bringen, will Finanzminister Christian Lindner ein Sparprogramm in Höhe von 20 Milliarden Euro in den Bundeshaushalt 2024 einpflegen und mit seinem Jahressteuergesetz noch 7 Milliarden Steuergeschenke an die Privatwirtschaft machen, mit dem Versprechen, dies werde die Investitionsfreude von Unternehmen befeuern. Bei den 7 Milliarden, die Unternehmen weniger an Steuern zahlen sollen, handelt es sich insbesondere auch um Steuern, die eigentlich in Städte und Gemeinden fließen würden. Obendrein verweist Lindner in seinen Kürzungsvorschlägen an die Ministerien ausgerechnet auf Förderprogramme, die vor Ort öffentliche Investitionen möglich machen.
Aber auch auf kommunaler Ebene wollen viele konservative und liberale Politiker sparen. Das Kalkül lautet: »Man muss schauen, welche Leistungen die Menschen am wenigsten nutzen und diese Leistungen einfach rauskürzen.« So werden Schwimmbäder, öffentliche Bibliotheken, Konzerthäuser oder kommunale Wohnungsbauprojekte infrage gestellt. Das stärkt langfristig vor allem eines: reaktionäre Politik, die auf die Unzufriedenheit der Menschen baut. Statt eines solchen Förderprogramms für die Rechten braucht es tragfähige Haushalte für die Kommunen.
Denn Kommunen sind der Ort, an dem Politik real wird. Hier ist das Handeln der öffentlichen Hand am engsten an demokratische Mitbestimmung von Stadt- und Gemeindeparlamenten und zivilgesellschaftlichen Initiativen geknüpft. Zwar gibt es mehr als genug extrem konservative Landrätinnen und Oberbürgermeister. Doch insgesamt zeigt sich, dass viele Orte progressiv voranschreiten, insbesondere beim Klimaschutz. Viele Kommunen haben sich zum Ziel gesetzt, vor 2030 klimaneutral zu sein, und auch Landkreise werden im Klimaschutz immer aktiver und bringen vor allem im Energiebereich neue Projekte auf den Weg.
»Es geht am Ende nicht nur darum, Gelder gerecht umzuverteilen, sondern auch die ›realen‹ Ressourcen richtig zu lenken. Daher braucht es eine effiziente Besteuerung hoher Vermögen.«
Das ist kein Zufall: Politik kann vor Ort viel direkter auf Vorbehalte der Bevölkerung gegen die Transformation reagieren, als im Land oder im Bund. Die Menschen können nicht nur ihre Angst vor Veränderung zum Ausdruck bringen, sondern auch Möglichkeiten der Mitsprache wahrnehmen. So ist der Gedanke vom politischen Wandel nicht mehr ganz so fremd und die Erfahrung, dass eine sozial-ökologische Transformation letzten Endes den 99 % nützt und die »Kosten« sichtbar und überschaubar bleiben, wird aus erster Hand gemacht.
Städte, Gemeinden und Landkreise beweisen schon lange, dass sie auch zu politischen Entscheidungen in der Lage sind, die mehr soziale Gerechtigkeit vor Ort schaffen. Viele Kommunen gestalten beispielsweise Ticketsysteme im ÖPNV, den Zugang zu sozialen Einrichtungen oder den Beitrag zum Kita-Mittagessen mit einem Umverteilungsgedanken.
Das deutsche föderale System befähigt die Kommunen formal dazu, diese Rolle wahrzunehmen. Sie besitzen politische Freiheiten und setzen einen großen Teil der Staatsaufgaben um, von sozialstaatlicher Absicherung bis hin zur Planung und zum Bau zukunftstauglicher Infrastruktur. Rund 60 Prozent der deutschen Bauinvestitionen für öffentliche Infrastruktur kommen aus den Kommunen.
Doch die kommunale Ebene gerät zunehmend unter Druck, genauer gesagt: Vielen Kommunen fehlen die Mittel, um ihre Aufgaben zu bewältigen.
Innerhalb der vergangenen zehn Jahre hat sich in jeder dritten Kommune die Finanzlage verschlechtert. Über 10 Prozent der Kommunen in Deutschland mussten zu Kurzzeitkrediten greifen. Das heißt, sie haben sogenannte »Kassenkredite« aufgenommen, also Schulden mit sehr hohen Zinsen, die daher eigentlich umgehend zurückgezahlt werden sollten, vergleichbar mit einem privaten Dispo-Kredit. Die Gesamtsumme dieser Schulden belief sich 2021 auf circa 31,5 Milliarden Euro.
Doch die wenigsten Kommunen haben einfach »schlecht« gewirtschaftet. Vielmehr konnten es sich viele Kommunen wegen geringerer Gewerbesteuereinnahmen, welche durch wirtschaftlichen Strukturwandel bedingt werden, schlicht nicht mehr leisten, ihre absoluten Pflichtaufgaben aus eigenen Mitteln zu erfüllen.
Vertrauen in die Politik schwindet dort, wo Menschen in ihrem Alltag feststellen, dass der Staat sich zurückzieht. Die Bedeutung öffentlicher Investitionen vor Ort ist gewaltig, fehlen aber die Ressourcen, so ist das häufig eine Quelle für großen politischen Frust. Genau das macht sich heute bemerkbar. Studien zeigen, dass Menschen, die sich abgehängt fühlen, dieses Gefühl nicht primär auf sich persönlich, sondern vor allem auf ihr Umfeld bezogen erleben. Sie erleben es als Verlust, wenn ihr Umfeld zerfällt. Sie wünschen sich vor allem bessere Erreichbarkeit von Infrastruktur in ihrer Region. Es geht um den Bus, der nicht fährt, den Weg bis zum nächsten Krankenhaus und zur nächsten Schule.
Dieses Problem verkompliziert auch die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft. Finanzschwache Kommunen müssen Klimaschutz leisten wie alle anderen auch. Wenn sie dafür aber an anderer Stelle sparen sollen, dann wird Klimaschutz als Bedrohung für soziale Politik wahrgenommen und das erleichtert die Bildung politischer Allianzen gegen notwendige Veränderungen. Darüber hinaus wurde in diesen Kommunen bereits heftig gespart und Investitionen sind häufig dringender nötig als andernorts.
Kassenkredite sollten die Kommunen niemals langfristig belasten. Dennoch ist dies seit Jahrzehnten Realität. Schon lange wird darüber diskutiert, die Kommunen zu entschulden. Konkrete Konzepte sehen vor, dass betroffene Länder und der Bund sich die kommunalen Altschulden aufteilen und damit vielen Kommunen unmittelbar eine höhere Investitionsfähigkeit verschaffen. Um das zu ermöglichen, müsste man jedoch das Grundgesetz ändern. Außerdem stellen sich Bundesländer wie Bayern oder Baden-Württemberg dagegen, weil sie nicht davon profitieren würden. Auch die Union hat viel zu hohe Nebenbedingungen aufgestellt, etwa lokale Schuldenmoratorien, die neue Infrastrukturprojekte verhindern würden. Beides ist fahrlässig und macht die Verhandlungen über den Haushalt noch mühsamer.
»Langfristig braucht es ein tragfähigeres Finanzierungsmodell für politische Vorhaben vor Ort, für Schwimmbäder, für Bus und Bahn, für Jugendzentren, für Konzertsäle und Theater.«
Doch das Problem der Kommunalfinanzen reicht tiefer, denn nicht nur die extrem finanzschwachen Kommunen brauchen dringend Unterstützung. Gut die Hälfte der Kommunen geht davon aus, dass sie mit dem aktuellen Finanzierungsmix nicht verlässlich in ihre Zukunft investieren können. Um diese Herausforderung anzugehen, braucht es mehr als nur Geld. Investitionen müssen schließlich von Menschen geplant und in die Tat umgesetzt werden. Doch in Deutschland wurde lange Zeit Arbeitskraft zu schlecht bezahlt, Migration bekämpft und Digitalisierung verschlafen. An all diesen Stellschrauben muss man drehen, um die notwendigen Investitionen auf den Weg zu bringen.
Es geht am Ende nicht nur darum, Gelder gerecht umzuverteilen, sondern auch die »realen« Ressourcen richtig zu lenken. Daher braucht es eine effiziente Besteuerung hoher Vermögen. Diese verteilt nicht nur Geld von Vermögenden in die öffentliche Hand. Sie verändert auch, wer Zugriff auf welche Ressourcen in unserer Gesellschaft hat. Wenn weniger Luxuswohnungen in Auftrag gegeben werden, gibt es mehr Ressourcen und Fachkräfte, die sich dem Bau von Schulen widmen können. Vermögenssteuern können so durch zusätzliche öffentliche Infrastrukturausgaben für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgen. Zuletzt werden besonders bei der Vermögenssteuer hohe demokratiefördernde Effekte erwartet. Durch abnehmende Vermögenskonzentration verringern sich Spekulation und politische Einflussnahme, das politische System gewinnt an Stabilität.
Auch lassen sich Ressourcen umverteilen, indem man fossile Subventionen streicht und das gewonnene Geld in eine sozial gerechte Transformation steckt. Institutionen wie der IWF haben in Deutschland Subventionen in fossile Energieträger von circa 72 Milliarden Euro festgestellt. Es lässt sich an diesem enormen Berg ansetzen und Teile der Subventionen, beispielsweise die 3,1 Milliarden Luxus-Subventionen zur privaten Nutzung von Dienstwagen, sofort einkürzen.
In unserem politischen System ist im Grunde klar geregelt, was vor Ort passieren kann und soll. Doch die Visionen und Ambitionen der kommunalen Ebene scheitern häufig am Geldbeutel. Besonders in den Gemeinden, die jahrzehntelang unter Altschulden leiden, macht sich dies bemerkbar und führt zu Frust.
Diese Kommunen müssen umgehend entlastet werden. Langfristig braucht es aber ein tragfähigeres Finanzierungsmodell für politische Vorhaben vor Ort, für Schwimmbäder, für Bus und Bahn, für Jugendzentren, für Konzertsäle und Theater. Das werden wir nur bekommen, wenn wir die großen Vermögen besteuern und fossile Subventionen abbauen. Wir müssen alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um die Ressourcen aus den privaten Taschen der Wenigen, mit denen so viel Veränderung für alle möglich wäre, in unser aller Daseinsvorsorge umzuverteilen.
Karoline Otte ist Mitglied des Bundestages für Bündnis 90/Die Grünen.