26. September 2023
Im Sommer 1923 griffen Arbeiterinnen und Arbeiter im Erzgebirge und im Vogtland unter dem Druck der Inflation zu unkonventionellen Methoden.
»An Arbeitskämpfe klassisch gewerkschaftlicher Prägung war zu dieser Zeit kaum noch zu denken. Was an Konzessionen von den Arbeitgebern zu holen war, wurde von der rasanten Geldentwertung meist unmittelbar wieder aufgefressen.«
Illustration: Andreas Faust»Herrenstiefel 16 ½ Mill., Herrenhosen 6,5 Mill., Mützen 3,6 Mill.« Beinahe lakonisch hält Viktor Klemperer, der zu dieser Zeit an der TU Dresden lehrt, die astronomischen Preise des Hyperinflationsjahres 1923 in seinem Tagebuch fest. Waren die Preise seit Kriegsbeginn 1914 immer weiter angestiegen, erreichten sie neun Jahre später schier unvorstellbare Höhen.
In Sachsen, insbesondere im Erzgebirge und im Vogtland, waren die Folgen der Inflation besonders verheerend. Die stark von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit betroffene Textilindustrie war in der Region überlebenswichtig: Spitze aus Plauen war bereits eine Marke von Weltrang, die auf der Pariser Weltausstellung im Jahre 1900 mit einem Grand Prix ausgezeichnet wurde. Das dichte Netz industrieller Webereien hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem raschen Ausbau des Schienennetzes geführt. Noch heute zeugen Bauwerke wie die weltberühmte Göltzschtalbrücke und die zahlreichen ehemaligen Fabrikantenvillen von einer lebendigen Industriegeschichte.
Der Einbruch der Textilindustrie traf die Region wie ein Hammerschlag, wie die Historikerin Petra Weber eindrücklich beschreibt: Allein in Plauen gab es 12.000 Arbeitslose, darunter viele Frauen, die einen erheblichen Teil der Belegschaften ausmachten. Mehr als die Hälfte der städtischen Schulkinder war unterernährt und wie überall in Deutschland kam es zu regelrechten Kaufpaniken. Die »Flucht in die Sachwerte« – also das verdiente Geld so zügig wie möglich auszugeben, bevor es weiter an Wert verliert – wurde zum geflügelten Wort. Wo dies nicht mehr ausreichte, um dem Hunger Einhalt zu gebieten, kam es zu Demonstrationen, (wilden) Streiks und Plünderungen. Von der um sich greifenden Wut und Verzweiflung profitierte vor allem die KPD, die im Bezirk Erzgebirge-Vogtland auf über 30.000 Mitglieder anwuchs. Vor dem Krieg hatten SPD und Gewerkschaften hier einen schweren Stand gehabt. Nun strömte das hungernde Proletariat in die kommunistischen Parteilokale.
An Arbeitskämpfe klassisch gewerkschaftlicher Prägung war zu dieser Zeit kaum noch zu denken. Was an Konzessionen von den Arbeitgebern zu holen war, wurde von der rasanten Geldentwertung meist unmittelbar wieder aufgefressen. Im Vogtland spielten die Gewerkschaften deshalb schon im Juli 1923 keine Rolle mehr. Der sozialdemokratische Innenminister Herrmann Liebmann beschrieb diese Zustände gegenüber seinem Amtskollegen der Reichsregierung als »Tarif-Anarchie« und »Verwilderung der gewerkschaftlichen Kämpfe.« Die hungernden Arbeiterinnen und Arbeiter setzten auf kurzfristig wirkende Aktionen und unkonventionelle Methoden der sozialen Umverteilung. Neben direkten Plünderungen von Feldern und Geschäften kam es in den sächsischen Städten immer wieder zu Demonstrationen, insbesondere wenn Gerüchte über Betriebsschließungen die Runde machten oder Lohnerhöhungen verweigert wurden.
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Naima Tiné ist Historikerin und Mitglied im Bundesvorstand der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken.
Sascha Döring lebt in Berlin und arbeitet im Bereich politische Kommunikation.