14. Juni 2024
Die AfD zählt zwar zu den Siegern der Europawahl, doch sie gewann weniger als zwischenzeitlich befürchtet. Das liegt auch an Richtungskämpfen innerhalb der Partei und der europäischen Rechten insgesamt.
AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl Maximilian Krah auf einer Wahlkampfveranstaltung in Kaufbeuren, 21. Mai 2024.
Es ist noch nicht einmal ein halbes Jahr her, da waren die Mitglieder der AfD wie im Rausch. In Umfragen stand die Partei bei bis zu 23 Prozent, und man konnte sich berechtigte Hoffnungen machen, bei der Europawahl stärkste Kraft in Deutschland zu werden.
Der Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die AfD sei die spannendste Rechtspartei in Europa. Anders als Giorgia Meloni in Italien oder Marine Le Pen in Frankreich passe man sich inhaltlich nicht der Mitte an, sondern positioniere sich deutlich rechts und gewinne trotzdem in den Umfragen weiter dazu. Man freute sich auf das Wahljahr 2024, auf die Europawahl und auf die drei wichtigen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.
Jetzt, kurz nach der Europawahl, ist von der Euphorie wenig zu spüren. Zwar konnte die AfD mit 15,9 Prozent im Vergleich zur letzten Europawahl um knapp 5 Prozentpunkte zulegen und hinter der Union zweitstärkste Kraft werden, doch gemessen an den Erwartungen ist das Ergebnis enttäuschend.
Es gibt im Wesentlichen vier Gründe für das vergleichsweise schlechte Abschneiden der AfD: Erstens schadeten ihr die Correctiv-Recherchen und die anschließenden bundesweiten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, an denen sich Millionen beteiligten. Die im Zuge der Recherchen öffentlich skandalisierten Überlegungen zu millionenfachen Abschiebungen brachten der AfD und dem rechtsradikalen Projekt insgesamt erheblichen Gegenwind.
Zweitens kamen Korruptions- und Spionagevorwürfe gegen Maximilian Krah und Petr Bystron hinzu. Bystron wird verdächtigt, Geld aus prorussischen Netzwerken erhalten zu haben, um sich im Gegenzug in Deutschland für die russische Führung einzusetzen. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt zudem einen engen Mitarbeiter Krahs, für China spioniert und Informationen aus dem Europaparlament weitergegeben zu haben. Auch Krah wird vorgeworfen, Zahlungen aus Russland und China erhalten zu haben.
Drittens hat eine neue Partei der AfD zugesetzt. Im Januar gründete sich das Bündnis Sahra Wagenknecht, benannt nach der ehemaligen Spitzenpolitikerin der Linken. Migrationspolitisch steht das BSW in der Tradition einer rechten Sozialdemokratie, arbeitsmarkt- und sozialpolitisch erinnert es an die linkssozialdemokratische PDS- und WASG-Tradition. Wirtschaftspolitisch liegt es irgendwo zwischen Ordoliberalismus und Keynesianismus. In der politischen Kommunikation positioniert sich das BSW als Anti-Establishment-Partei und kann außenpolitisch auf das reichlich vorhandene Potenzial derjenigen zurückgreifen, die eine baldige Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg wünschen.
Wahlanalysen und aktuelle Studien zum Wählerpotenzial des BSW zeigen, dass die neue Partei zwar nicht die Kernklientel der AfD anspricht, aber bei jenen erfolgreich ist, die sich in den vergangenen zwei Jahren der AfD zugewandt und so deren Zustimmungswerte verdoppelt haben. Eine Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung kam Anfang Juni zu dem Ergebnis, dass das BSW der AfD vor allem in Ostdeutschland Konkurrenz macht. Soziostrukturell handelt es sich um ein Milieu, bei dem früher die PDS erfolgreich war: Das BSW ist stark in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und Überalterung und spricht besonders jene an, die ein niedriges Einkommen, fehlende finanzielle Rücklagen und wirtschaftliche Sorgen haben und den bestehenden Institutionen misstrauen.
»Stimmen in der AfD, die ihre Partei strategisch stärker zur Mitte hin orientieren und perspektivisch als Juniorpartner regierungsfähig machen wollen, gibt es zwar weiterhin, sie sind in den vergangenen zwei Jahren aber leiser geworden.«
Viertens dürfte der Ausschluss der AfD aus der Fraktion Identität und Demokratie (ID) im Europaparlament die Lage verschlechtert haben. Vor wenigen Wochen beendete zunächst Marine Le Pen die Zusammenarbeit mit der AfD, dann schloss die ID-Fraktion alle Abgeordneten der AfD aus. Hintergrund waren Aussagen von Krah in der italienischen Tageszeitung La Repubblica, wonach »nicht jeder, der eine SS-Uniform getragen hat, automatisch ein Verbrecher« gewesen sei.
Zwischen Le Pens Rassemblement National (RN) und Krah kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Konflikten, etwa als er einen französischen Aktivisten der Identitären Bewegung einstellte, nachdem der RN diesen wegen Antisemitismus rausgeworfen hatte. Teilweise wurde Krah sogar auf Betreiben des RN aus der ID-Fraktion suspendiert, weil er den rechts von Le Pen stehenden Éric Zemmour bei den französischen Präsidentschaftswahlen unterstützte. Auch andere europäische Rechtsparteien wie die italienische Lega und Fratelli d’Italia, Polens PiS und die ungarische Fidesz sind inzwischen auf Distanz zur AfD gegangen. Von den relevanten rechten Kräften hielt zuletzt nur noch die österreichische FPÖ zu ihr.
Dass die AfD selbst den führenden rechtsradikalen Kräften in Europa offenbar zu rechts geworden ist, interessiert vielleicht einen Großteil der AfD-Wählerschaft wenig, hat aber parteiinterne Gräben vertieft. Denn der vollzogene Bruch mit der ID-Fraktion offenbart zwei zentrale Konfliktlinien, die Europas Rechte und die AfD selbst durchziehen.
Zum einen ist da der Widerspruch zwischen rechter Realpolitik und rechtsradikaler Fundamentalopposition, der unmittelbar mit Le Pens Offensive gegen die AfD zusammenhängt. Sie möchte nach Jahrzehnten in der Opposition aus der französischen Präsidentschaftswahl 2027 endlich als Siegerin hervorgehen.
Etablierte Mitte-rechts-Parteien verschwinden, Rechte gewinnen hinzu – so ist es vielerorts in Europa. Die PiS, die Fratelli d’Italia und die Lega sowie die FPÖ und die Partei Die Finnen sind oder waren bereits in Regierungsverantwortung oder werden wie die Schwedendemokraten indirekt beteiligt. Auch Geert Wilders’ Partei wird in den Niederlanden erstmals an der Regierung teilhaben. Marine Le Pen hat vor allem Melonis Weg vor Augen, der zumindest in einigen Themenfeldern in Richtung Mitte führt. Um französische Präsidentin zu werden, braucht sie in einem zweiten Wahlgang eine absolute Mehrheit, wofür sie weit über ihr eigenes Lager hinaus Menschen überzeugen muss. Die Abgrenzung zur AfD ist ein weiteres taktisches Manöver in Le Pens Strategie der »dédiabolisation«, der Entdämonisierung des RN.
In Hinblick auf die EU selbst haben viele der realpolitisch orientierten Rechtsparteien ihre Positionen aus strategischen Gründen gemäßigt: Diejenigen, die jahrelang die EU abgelehnt und einen Austritt befürwortet haben, wollen sie nun reformieren. Spricht der rechte Rand der AfD von »Melonisierung«, so kritisiert er damit die allzu große realpolitische Anpassung in Italien und Frankreich als Opportunismus.
Stimmen in der AfD, die ihre Partei strategisch stärker zur Mitte hin orientieren und perspektivisch als Juniorpartner regierungsfähig machen wollen, gibt es zwar weiterhin, sie sind in den vergangenen zwei Jahren aber leiser geworden. Bis Anfang des Jahres überdeckte der lang anhaltende demoskopische Höhenflug die internen Konflikte. Mit sinkenden Umfragewerten scheinen sie sich jetzt zuzuspitzen.
Das gilt auch für die zweite Konfliktlinie innerhalb der europäischen Rechten und der AfD: die geopolitische Ausrichtung. Bereits die Affären um Krah, die eine Nähe zu Russland und China suggerieren, stießen gerade jenen in der AfD sauer auf, die eher auf ein transatlantisches Bündnis setzen und eurasischen Konzeptionen äußerst skeptisch gegenüberstehen. Auch bei den meisten großen Rechtsparteien in Europa orientiert man sich seit dem Ukraine-Krieg stärker in Richtung der NATO; selbst beim französischen RN hält man sich mit allzu großen Avancen in Richtung Moskau inzwischen zurück.
Der Verleger Götz Kubitschek schrieb im Zuge der Krah-Affären vor einigen Wochen, hinter den aktuellen Verwerfungen im rechten Lager stehe eigentlich der Kampf um die geostrategische Ausrichtung Europas. Im vom RN forcierten Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion sieht Kubitschek eine Entscheidung Le Pens für ein transatlantisches rechtes Europa-Projekt, das sich um Fratelli d’Italia, Lega, PiS, Wilders und inzwischen auch Viktor Orbán gebildet habe. Die AfD spiele bei diesem Projekt, das er als antideutsch klassifiziert, keine Rolle mehr.
Aufschlussreich ist hier die Zusammensetzung einer wichtigen Vernetzungskonferenz. Bereits zum dritten Mal fand Ende April ein europäischer Ableger der US-amerikanischen Conservative Political Action Conference (CPAC) in Budapest statt. Der Ort ist kein Zufall: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gilt auch unter der US-amerikanischen Rechten als Impulsgeber. Bei ihm holt man sich Anregungen für einen rechten Staatsumbau, sollte Donald Trump tatsächlich wieder zum US-Präsidenten gewählt werden. Beim Treffen in Ungarn waren viele Größen der europäischen Rechten anwesend: der frühere polnische Premierminister Mateusz Morawiecki, Geert Wilders aus den Niederlanden, außerdem Vertreter von Fratelli d’Italia, Lega, Vlaams Belang, FPÖ, RN oder auch der spanischen Vox.
»Meloni, Le Pen und Orbán marschieren als die drei wichtigsten rechten Kräfte in Europa bislang getrennt, sind in den vergangenen Monaten aber aufeinander zugegangen und könnten nun erstmals eine gemeinsame Fraktion im Europaparlament bilden.«
Seit Längerem gibt es Versuche, die europäische Rechte stärker zu verbinden, denn bislang ist das Lager gespalten. So gab es bislang im Europäischen Parlament rechts des gemäßigten Mitte-rechts-Lagers zwei große Fraktionen: die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der Giorgia Meloni angehört, und die Fraktion Identität und Demokratie (ID) um den Rassemblement National. Hinzu kommt noch Orbáns Fidesz, die früher der christdemokratischen EVP-Fraktion angehörte, seit 2021 aber fraktionslos ist.
Meloni, Le Pen und Orbán marschieren als die drei wichtigsten rechten Kräfte in Europa bislang getrennt, sind in den vergangenen Monaten aber aufeinander zugegangen und könnten nun erstmals eine gemeinsame Fraktion im Europaparlament bilden. Obwohl Orbán sich russlandfreundlich gibt und der RN sich lange skeptisch bis ablehnend hinsichtlich einer zu starken Westbindung positioniert hat, scheinen die Verschiebungen im Zuge des Ukraine-Kriegs und auch eine mögliche zweite Präsidentschaft Donald Trumps die europäische Rechte gerade geopolitisch durcheinanderzuwirbeln.
Eine AfD, die sich mit Personen wie Krah, Bystron, Höcke und anderen viel mehr in Richtung Russland und teilweise auch China orientiert, stört diesen Formierungsprozess der Granden der europäischen Rechten – sowohl in der Außendarstellung als auch was die innere Einheit angeht. Das weiß auch die Parteispitze der AfD und versucht in diesen Tagen verzweifelt, den Anschluss an die europäische Rechte zu halten. So wurde Maximilian Krah am Morgen nach der Wahl aus der AfD-Delegation für das Europaparlament ausgeschlossen. Dass Le Pen sich noch mal umstimmen lassen würde, war sehr unwahrscheinlich, stärker dürfte hier der Wunsch einiger Europaabgeordneter gewesen sein, Krah als Konkurrenten auszuschalten. Die Hoffnung, durch diesen Schritt vielleicht doch noch Teil der ID-Fraktion werden zu dürfen, hat sich nicht erfüllt. Die Tür bleibt für die AfD auch ohne Krah geschlossen, was wiederum all jenen schaden dürfte, die sich für seinen Ausschluss stark gemacht haben.
Derzeit wird in der AfD hinter den Kulissen an einem Papier gearbeitet, das die außenpolitischen Leitlinien der Partei klarziehen soll. Medienberichten zufolge wird es von einigen Landesvorsitzenden, der Bundessprecherin Alice Weidel und dem neu gekürten AfD-Delegationsleiter im Europaparlament René Aust unterstützt. Inhaltlich soll darin stärker von China und Russland abgerückt werden, ohne sich aber zu sehr auf den Westen und die USA festzulegen.
Der AfD stehen schwere Wochen bevor. Sie wird nach der Absage der ID-Fraktion vor der nicht ganz einfachen Aufgabe stehen, eine Allianz aus kleineren rechtsradikalen Parteien zu schmieden. Um eine Fraktion gründen zu können, muss sie willige Abgeordnete aus sechs weiteren Ländern finden. Eine Restchance auf Wiederaufnahme in die ID-Fraktion gibt es noch, sollte sich der RN in Melonis EKR einfinden. Möglich ist aber auch, dass aus der »spannendsten Rechtspartei in Europa«, von der Krah einst sprach, bald die einsamste werden wird.
Hinzu kommt, dass direkt nach der Wahl wieder Macht- und Richtungskämpfe in der AfD ausgebrochen sind. Der Ausschluss von Krah spielt hier eine besondere Rolle, denn die Entscheidung der AfD-Delegation hat für viel Unmut in der Partei gesorgt. Jörg Urban, AfD-Landeschef in Sachsen, sagte öffentlich, es handle sich um eine falsche und unprofessionelle Entscheidung. Auch der Fraktionschef der AfD im Brandenburger Landtag, Hans-Christoph Berndt, kritisierte die Entscheidung. Götz Kubitschek stärkte bereits mehrmals Krah den Rücken. Insbesondere für René Aust, der sich für den Ausschluss Krahs eingesetzt haben soll, gab es einen regelrechten Shitstorm. Ihm wird nichts weniger als Verrat vorgeworfen.
René Aust kommt aus dem Thüringer Landesverband und steht Björn Höcke personell wie inhaltlich nah. Dass Aust nun gemeinsam mit der Parteispitze um Weidel und Chrupalla, die schon länger mit Krah unzufrieden waren und auch einen potenziellen Konkurrenten in ihm gesehen haben dürften, einen Gegenpol zu diesem bildet, bringt wiederum auch Höcke selbst in Schwierigkeiten. Quer zu seiner Nähe zu Aust ist Höcke auch mit Krah-Freund Götz Kubitschek verbunden.
»Björn Höcke ist geschwächt, Maximilian Krah sowieso, René Aust steht im Wind und auch die beiden Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla werden nach dem desolaten Europawahlkampf immer offener kritisiert.«
Das hielt Höcke aber nicht davon ab, gemeinsam mit seinem Co-Sprecher Stefan Möller am Donnerstag in einer Stellungnahme für Aust Partei zu ergreifen und gegen Krah und dessen Unterstützer zu schießen. Von Falschbehauptungen und Diffamierungen ist die Rede. Andere, die gleichzeitig Krah und auch Höcke verbunden sind, versuchen zu vermitteln. Benedikt Kaiser und Philip Stein appellieren in ihrem Podcast »Lagebesprechung« sowohl an das Lager, das sich um Aust schart, als auch um Krah und Unterstützer für gegenseitige Kompromissbereitschaft. Die Ganzrechten in der Partei sollten stattdessen lieber gemeinsame Sache machen gegen jene, die die AfD stärker in Richtung Westen ausrichten wollen.
Verliefen die früheren parteiinternen Macht- und Richtungskämpfe meistens zwischen ideologischen Lagern, sind die aktuellen Konflikte kaum inhaltlich begründet und viel stärker machtpolitisch geprägt. Die aktuelle Situation verdeutlicht, dass der offiziell 2020 aufgelöste »Flügel« um Höcke nicht nur organisatorisch, sondern auch faktisch Geschichte ist.
Björn Höcke ist geschwächt, Maximilian Krah sowieso, René Aust steht im Wind und auch die beiden Parteichefs Alice Weidel und Tino Chrupalla werden nach dem desolaten Europawahlkampf immer offener kritisiert. Die Parteispitze dürfte allerdings den kommenden Parteitag in Essen Ende Juni überstehen – mangels Alternativen.
Maximilian Krah hat erst einmal angekündigt, in Essen nicht mehr für den Bundesvorstand zu kandidieren. Auch wenn er im Zentrum der aktuellen Auseinandersetzungen steht und voraussichtlich fraktionsloser Abgeordneter in Brüssel sein wird, ist ein Comeback alles andere als ausgeschlossen. Gut möglich, dass er sich mittel- oder langfristig wieder ins Spiel bringen wird – als Stimme der jüngeren, besonders rechten Basis, bei der er sehr beliebt ist; als parteiinterner Anti-Establishment-Kandidat gegen eine sich möglicherweise melonisierende, angepasstere Parteispitze. Kubitschek nannte Krah in seinem jüngsten Artikel nicht zufällig an einer Stelle »Donald Krah«.
Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg.