04. Mai 2022
Hundert Tage lang reagierten Arbeitgeber und die nordrhein-westfälische Landesregierung nicht auf die Forderung nach Entlastung. Die Beschäftigten von sechs Unikliniken sind daher seit heute morgen in den Streik getreten. Ihr Vorbild: die Berliner Krankenhausbewegung.
Die Pflegekräfte fordern nicht nur bessere Bedingungen, sondern ein anderes Gesundheitssystem.
Heute geht an Nordrhein-Westfalens Unikliniken der bislang größte Arbeitskampf im Gesundheitssektor in seine entscheidende Phase. Die Beschäftigten der Unikliniken in Köln, Essen, Münster, Düsseldorf und Aachen treten in den Erzwingungsstreik für mehr Personal, für eine menschenwürdige Versorgung von Patientinnen und Patienten – für eine Kehrtwende in der Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte.
»Klatschen war gestern«, heißt es auf einigen Schildern, die die Streikenden mitgebracht haben. Sie verdeutlichen: Die Beschäftigten in den Krankenhäusern haben es satt, weiter mit leeren Versprechen abgespeist zu werden. In den Pandemie-Jahren wurde die katastrophale Arbeitsbelastung und die dadurch verschärfte Personalflucht in der breiten Öffentlichkeit zwar diskutiert, geändert hat sich dadurch jedoch nichts.
Eine Gruppe streikender Beschäftigter äußert sich dazu folgendermaßen: »Die Bedingungen unter denen die Menschen im Gesundheitswesen arbeiten, haben sich in den letzten Jahrzehnten massiv verschlechtert. Einsparungen, Fallpauschalen und Privatisierungen haben dazu geführt, dass Gesundheit zur Ware geworden ist. Die Politik unterstützt die wirtschaftlichen Interessen derer, die an dem System verdienen und interessiert sich selbst nur für die Belange der Beschäftigten, wenn gerade ein Wahlkampf ansteht. Damit ist nun Schluss. Wir nehmen unser Schicksal selbst in die Hand und kämpfen für wirkliche Verbesserungen.«
Konkret geht es um einen Tarifvertrag Entlastung, den im vergangenen Jahr auch die Gesundheitsarbeiterinnen und -arbeiter der Berliner Krankenhausbewegung in einem spektakulären Streik erkämpft haben. Die Bedingungen, unter denen Beschäftigte im Gesundheitssektor ihre Arbeit verrichten, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verschlechtert. Die Beschäftigten haben im Zuge des Tarifvertrags Personalregelungen durchgesetzt, die eine adäquate Versorgung von Patientinnen und Patienten sowie gute Arbeitsbedingungen ermöglichen. Die Krankenhausbewegung hat damit gezeigt, was sich mit kämpferischer Gewerkschaftsarbeit gewinnen lässt.
In der aktuellen Auseinandersetzung geht es nicht um ein paar Euro mehr Lohn oder kleine Veränderungen. Es geht um weitreichende Reformen, die den Kern des ökonomisierten Gesundheitssystems angreifen. Mit diesem Tarifvertrag eignen sich die Beschäftigten einen Bereich an, der sonst fest der Arbeitgeberseite zugewiesen ist: die Entscheidung darüber, wer wann wie arbeiten soll. Es geht aber auch darum, wie eine gute gesundheitliche Versorgung der Gesellschaft eigentlich aussieht.
Durch beispiellose Organisierung und Streiks ist es den Beschäftigten der Berliner Krankenhäuser gelungen, dreißig Jahre Ökonomisierung und Sparpolitik im Gesundheitswesen umzukehren. Vor allem aber haben sie in den Betrieben eine Mehrheitsbewegung aufgebaut und alle Prozesse – angefangen bei der Formulierung von Forderungen bis hin zur Verhandlung – kollektiviert und demokratisiert. Das Resultat: Die Bewegung war in der Lage, einen länger als dreißig Tage andauernden Streik aufrechtzuerhalten und konnte schließlich gewinnen. So wurde sie für Arbeitskämpfe weltweit zu einem ermutigenden Beispiel – auch für die Krankenhausbeschäftigten in Nordrhein-Westfalen.
Im Januar stellten sie zunächst ein 100-Tage-Ultimatum an Klinikleitungen und politische Verantwortliche, die dazu aufgerufen waren, sich in diesem Zeitraum mit den Beschäftigten auf einen Tarifvertrag zu einigen. Am 01. Mai ist dieses Ultimatum abgelaufen. Sechs nordrhein-westfälische Unikliniken treten deshalb heute in den Erzwingungsstreik. Denn von den Verantwortlichen aus der Politik, allen voran der Landesregierung, erhalten sie bis jetzt nur die Zusicherung, es werde einen Tarifvertrag geben. Doch verhandlungsbereit zeigt sich die Gegenseite nicht.
Die Krankenhausbeschäftigten, deren Arbeitskampf unter dem Motto »Notruf NRW« läuft, haben die hundert Tage genutzt und innerhalb weniger Monate mit Methoden des strukturbasierten Organizing eine Mehrheitsbewegung in den Kliniken aufgebaut. Fast 12.000 Beschäftigte stellten sich in einem ersten Schritt hinter die Forderung nach Entlastung und mehr Personal. Im nächsten Schritt formulierte jedes Team eigene Forderungen und nominierte Teamdelegierte. Diese vertreten nicht nur ihre Teams, sondern entscheiden auch in den Verhandlungen. Dadurch werden bis zu 1.000 Beschäftigte in die Verhandlungen einbezogen. Die Bewegung zeigt damit, wie Arbeitskämpfe, insbesondere im Care-Sektor, in Zukunft aussehen können und wie man eine Struktur aufbaut, die alle Beschäftigten, die vom Tarifvertrag betroffen wären, beteiligt – egal ob sie nun in der Pflege, im Patientenservice oder im Labor arbeiten.
Dabei ist sie getragen von der alltäglichen Wut und Frustration der Arbeitenden: »Wir erleben die gegenwärtigen Bedingungen täglich am eigenen Leib. Wir wissen, wie sie sich ändern müssen, und wir wollen den Status quo nicht einfach weiter hinnehmen. Vor allem aber sind wir diejenigen, die die Hebel zur Veränderung in der Hand haben – und wir nutzen sie jetzt.«
Die Beschäftigten sind, falls nötig, auch für einen längeren Streik gewappnet. Schließlich mussten ihre Kolleginnen und Kollegen in Berlin für den eigenen Tarifvertrag Entlastung länger als dreißig Tage streiken. Es ist entscheidend, das Zeitfenster vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen Mitte Mai zu nutzen. Durch den Druck, den die Arbeitenden bereits ausgeübt haben, sind die Aussichten vielversprechend. Die Beschäftigten sind sich an diesem ersten Streiktag jedenfalls sicher: »Wir sind hier, wir sind viele – und wir werden gewinnen.«
Franziska Heinisch ist Kolumnistin bei JACOBIN.