17. Dezember 2025
Menschen ohne Krankenversicherung sollte es in Deutschland gar nicht geben. Doch es gibt sie – und sie fürchten den Gang zum Arzt nicht nur aus Kostengründen. Strafende Behörden und Krankenhäuser auf Sparkurs können ihnen das Leben zur Hölle machen.

Oftmals meiden Unversicherte den Arzt, bis es nicht mehr anders geht.
In diesen Wochen beginnt für Obdachlose auf den Straßen Deutschlands wieder die gefährlichste Zeit des Jahres. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt wird das Leben auf der Straße zu einem Überlebenskampf. Ziemlich genau zu dieser Zeit vor einem Jahr fing ich an, in der medizinischen Versorgung von Obdachlosen ohne Krankenversicherung in Berlin zu arbeiten.
Was ich dort sah, wurde über den Winter immer schlimmer: Chronische Wunden, die in der Kälte nicht heilen konnten. Bis auf die Knochen ausgemergelte HIV-Kranke. Junge Männer, denen auf der Straße Teile der Gliedmaßen erfroren waren. Doch als wäre der Winter auf der Straße nicht schon hart genug, kämpften die meisten unserer Patientinnen und Patienten nicht nur mit der Kälte – sondern auch noch darum, überhaupt behandelt zu werden. Der Grund: Sie gehören zu einer Gruppe, die es in Deutschland eigentlich gar nicht geben sollte – Menschen ohne Krankenversicherung.
Wie groß diese Gruppe ist, ist weitgehend unklar. 2023 zählte das Statistische Bundesamt 72.000 Menschen ohne Krankenversicherung. In Wirklichkeit dürften es noch weitaus mehr sein, denn bei den offiziellen Zahlen werden Wohnungslose und Arbeitsmigranten nur teilweise und Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus überhaupt nicht erfasst. Experten, etwa der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem oder der Sozialmediziner Gerhard Trabert schätzen, dass tatsächlich zwischen einer halben und einer Million Menschen in Deutschland keine Krankenversicherung haben.
Diese Menschen bekommen es im Krankheitsfall nicht nur mit der Angst vor hohen Behandlungskosten zu tun, sondern auch mit feindlichen Behörden. Und ihre Lage droht – wenig überraschend bei der allgemein armen- und ausländerfeindlichen Politik der Merz-Regierung – in den nächsten Jahren noch schlechter zu werden.
Eigentlich gilt in Deutschland seit 2009 eine Versicherungspflicht. Die Gründe, aus denen trotzdem so viele Menschen nicht versichert sind, sind vielfältig. Die meisten der Obdachlosen, die ich kennengelernt habe, kamen aus dem osteuropäischen EU-Ausland, hatten dort ihren Versicherungsschutz verloren und in Deutschland nie einen erhalten. Einige von ihnen hatten in Deutschland schwarzgearbeitet und waren deshalb nie in einer Krankenversicherung angemeldet worden. Andere lebten zwar seit Jahren in Deutschland, waren hier aber nie gemeldet und hatten daher keinen Anspruch auf Sozialleistungen.
Dass so viele in Deutschland lebende EU-Bürgerinnen ohne Versicherung bleiben, war nicht immer so. 2016 schränkte die Bundesregierung den Zugang von EU-Ausländern zu deutschen Sozialleistungen drastisch ein. Davon, dass es sich um eine unbeabsichtigte Lücke im Versorgungssystem handelt, kann also keine Rede sein: Es war politisch gewollt, arme EU-Ausländer aus Deutschland fernzuhalten. In der Realität bleiben die meisten natürlich trotzdem in Deutschland. Einige suchtkranke Obdachlose erzählten mir, dass sie nach Deutschland kamen, nachdem sie im Ausland obdachlos geworden waren, weil das Leben auf der Straße in ihrer Heimat schlicht unmöglich sei. Sie berichteten von Räumungen, Polizeigewalt – und fehlender Suchthilfe.
»Werden die Beiträge nicht gezahlt, entstehen zunächst Versicherungsschulden. Werden diese sechs Monate oder länger nicht beglichen, besteht kein vollständiger Versicherungsschutz mehr.«
Obdachlosigkeit ist aber nicht der einzige Grund, aus dem Menschen ihren Versicherungsschutz verlieren. Wer plötzlich arbeitslos wird und – aus welchem Grund auch immer – kein Arbeitslosengeld erhält, wird nicht über das Jobcenter versichert. Die Krankenkasse verlangt dann den gesetzlichen Mindestbeitrag von etwa 260 Euro im Monat – für viele, die gerade arbeitslos geworden sind, ist das kaum zu stemmen. Das gilt auch für Menschen, die es aufgrund von Krankheit oder Abhängigkeit nicht schaffen, Sozialleistungen zu beantragen. Und auch Selbstständige sind überdurchschnittlich häufig nicht versichert, da sie den Mindestbeitrag von 260 Euro für Kranken- und Pflegeversicherung auch dann zahlen müssen, wenn sie über Monate keinerlei Einnahmen haben.
Werden die Beiträge nicht gezahlt, entstehen zunächst Versicherungsschulden. Werden diese sechs Monate oder länger nicht beglichen, besteht kein vollständiger Versicherungsschutz mehr. Zwar müsste die Krankenkasse, bei der man zuletzt versichert war, für dringend notwendige Eingriffe einen Behandlungsschein ausstellen. In der Praxis aber behaupten die Kassen oft, dass gar kein Versicherungsschutz mehr bestehe. Nur wer sich wirklich gut auskennt, kann Leistungen bei seiner Kasse einfordern – und selbst dann werden nur dringend notwendige Behandlungen finanziert.
Und so bleiben Menschen ohne Krankenversicherung oft nur die Anlaufstellen von Wohltätigkeitsorganisationen – so auch die Einrichtung, in der ich gearbeitet habe. Diese Anlaufstellen behandeln kostenlos, können manchmal sogar einen Kostenübernahmeschein ausstellen. Da sie sich jedoch in der Regel nur über Spenden und teilweise über kommunale Zuschüsse finanzieren, kommen sie schnell an ihre Grenzen – insbesondere bei komplizierten und teuren Behandlungen wie Operationen.
Ich erinnere mich noch gut an einen Patienten aus Polen, keine zehn Jahre älter als ich. Seit Jahren litt er an einer sehr schmerzhaften Entzündung der Wirbelsäule. Er benötigte dringend eine Operation, die verhindern würde, dass ständig ein Teil seines Wirbelkörpers auf den empfindlichen Spinalnerv drückt. Nach monatelangem Hin und Her zwischen verschiedenen ehrenamtlichen Ärzten und einem Krankenhaus hatte er endlich einen OP-Termin.
»Wenige Tage vor der OP kam die niederschmetternde Nachricht: Er müsse drei Kostenvoranschläge einholen, erst dann könne über den Antrag entschieden werden. Die OP musste abgesagt werden. Diese Nachricht war zu viel für den schmerzgeplagten Mann.«
Eine bemühte Assistenzärztin erzählte mir am Telefon, dass sie schon alles Notwendige für die OP bestellt hätten. Sie wollte ihm unbedingt helfen. Umso mehr bemühte sich der Patient, sich die Dringlichkeit des Eingriffs bescheinigen zu lassen. Da er keine Krankenversicherung hatte, hoffte er auf eine Kostenübernahme durch die Clearingstelle einer kirchlichen Hilfsorganisation.
Wenige Tage vor der OP kam die niederschmetternde Nachricht: Er müsse drei Kostenvoranschläge für die OP einholen, erst dann könne über den Antrag entschieden werden. Die OP musste abgesagt werden. Diese Nachricht war zu viel für den schmerzgeplagten Mann. Wenige Wochen später bekamen wir Post aus dem Justizvollzugskrankenhaus, wo der Mann nun behandelt wurde. Eine Kollegin mutmaße, dass er sich absichtlich hatte festnehmen lassen, weil er Hoffnung hatte, im Haftkrankenhaus endlich behandelt zu werden. Ob es wirklich so war, wissen wir nicht. Aber es lässt sich erahnen, wie groß seine Not gewesen sein muss.
Besonders schlecht ist die Versorgungssituation für Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus: Zwar müssten auch sie nach dem Gesetz Anspruch auf eine grundlegende Gesundheitsversorgung haben. Doch die Übernahme der Kosten muss beim Sozialamt beantragt werden – und das Sozialamt ist laut Aufenthaltsgesetz verpflichtet, Namen und Adresse der Person an die Ausländerbehörde zu übermitteln. Damit droht den Betroffenen die Abschiebung.
Die Folge dieses Denunziationsparagrafen ist, dass der Gang zum Arzt um jeden Preis vermieden wird. Er gilt sogar für Schwangere: Frauen, die sich die mehrere tausend Euro teure Geburt im Krankenhaus nicht leisten können, müssen sich an das Sozialamt wenden. Dieses ist dann verpflichtet, Name und Adresse der Person an die Ausländerbehörde weiterzuleiten. Und auch wenn Frauen während des Mutterschutzes noch eine Duldung erhalten, droht Mutter und Kind unmittelbar nach Ende des Mutterschutzes dann die Abschiebung.
»Manche Krankenhäuser behandeln Menschen ohne Krankenversicherung erst dann, wenn sie eine Kostenübernahme unterzeichnen oder eine gewisse Geldsumme vorstrecken.«
Etwas anders sieht es theoretisch aus, wenn die Betroffenen mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung ins Krankenhaus kommen: Dort müssen sie grundsätzlich behandelt werden, auch ohne Krankenversicherungskarte oder Kostenübernahmeschein. In einigen Fällen können sich die Krankenhäuser die Kosten für die Behandlung dann vom Sozialamt erstatten lassen. Doch faktisch ist dieser Prozess für die Krankenhäuser so bürokratisch, dass sie es oft gar nicht erst versuchen. Bleiben Behandlungen unbezahlt, müssen die Kliniken die Verluste selbst tragen und dann mit Sparmaßnahmen an anderer Stelle ausgleichen. Um das zu vermeiden, greifen manche Krankenhäuser zu einer drastischen Maßnahme: Sie behandeln Menschen ohne Krankenversicherung erst dann, wenn sie eine Kostenübernahme unterzeichnen oder eine gewisse Geldsumme vorstrecken.
Selbst in medizinischen Notfällen müssen Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus fürchten, dass ihre Daten an die Ausländerbehörde weitergegeben werden. Die Organisation Ärzte der Welt dokumentierte etwa den Fall einer schwangeren Vietnamesin, die mit einer drohenden Fehlgeburt ins Krankenhaus kam. Als das Personal im Krankenhaus erfuhr, dass sie keinen legalen Aufenthaltstitel hatte, informierten sie die Polizei. Auch wenn das Krankenhauspersonal in diesem Fall rechtswidrig handelte – anders als das Sozialamt unterliegt medizinisches Personal der Schweigepflicht und darf gegen den Willen der Kranken keine Daten weitergeben –, machen solche Fälle Angst. Viele suchen deshalb erst dann medizinische Hilfe, wenn sie sich bereits in akuter Lebensgefahr befinden.
Auch in Reaktion auf den Druck zahlreicher zivilgesellschaftlicher Organisationen, die mit ihrer Kampagne »Gleichbehandeln« auf diesen enormen Missstand aufmerksam machten, versprach die Ampelkoalition, diese sogenannte Übermittlungspflicht abzuschaffen. Umgesetzt wurde nichts. »Zu komplex«, hieß es aus dem SPD-geführten Innenministerium. Das erscheint wenig glaubhaft. Vielmehr dürfte das Vorhaben nicht mehr in die zunehmend migrationsfeindliche Agenda der Koalition gepasst haben.
Unter Kanzler Friedrich Merz ist von einer Abschaffung der Übermittlungspflicht keine Rede mehr. Im Gegenteil: Der neue Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD sieht sogar einen stärkeren Datenaustausch zwischen Sicherheits- und Zivilbehörden vor. Das könnte die Weitergabe sensibler Gesundheitsdaten an Ausländerbehörde und Polizei noch weiter ausweiten. Sich als Mensch ohne Papiere medizinische Hilfe zu suchen, würde damit noch riskanter.
»Es steht zu befürchten, dass sich andere Länder ein Vorbild an Deutschland nehmen und ebenfalls dazu übergehen, Menschen, die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, an die zuständigen Ausländerbehörden zu melden.«
Noch ist Deutschland das einzige Land in der EU mit einer solchen Regelung. Bereits mehrfach wurde es von internationalen Organisationen dazu aufgefordert, sie abzuschaffen. Doch was aktuell droht, ist eine andere Entwicklung: Im Zuge der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems wollen die EU-Staaten die Mechanismen zum Aufspüren von Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus verschärfen. Laut Dr. Johanna Offe von Ärzte der Welt steht zu befürchten, dass sich andere Länder ein Vorbild an Deutschland nehmen und ebenfalls dazu übergehen, Menschen, die medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, an die zuständigen Ausländerbehörden zu melden.
Und so dürften sie weiterhin ungesehen bleiben, die Schicksale von Menschen ohne Krankenversicherung. Die Betroffenen selbst haben selten ein Interesse daran, ihre Schicksale öffentlich zu machen. Weil sie keinen legalen Aufenthaltstitel haben und unerkannt bleiben wollen, weil sie chronisch körperlich oder psychisch krank sind, weil sie obdachlos sind – oder einfach, weil sie sich schämen. Und so werden sie auch diesen Winter wieder lang sein: die Warteschlangen vor prekär finanzierten Hilfseinrichtungen. Voll mit Menschen, die viel zu lange nicht behandelt wurden. Mit chronisch Kranken, die nicht mehr wissen, wie sie die Kälte überleben sollen. Oder mit Hochschwangeren, die Angst davor haben, mit ihrem Neugeborenen abgeschoben zu werden.
Svenja Appuhn ist Vorstandsmitglied im Institut solidarische Moderne. 2023-2024 war sie Bundessprecherin der Grünen Jugend, bevor sie gemeinsam mit dem damaligen GJ-Bundesvorstand bei den Grünen austrat und die Junge Linke gründete. Sie studiert Medizin in Hannover und macht aktuell ihr praktisches Jahr.