09. August 2024
Die Weltmacht USA verliert ihren alleinigen Führungsanspruch, China etabliert sich als neue Großmacht. Doch neben der Gefahr eines neuen Kalten Kriegs eröffnet das vielleicht auch die Chance auf eine Weltpolitik ohne Hegemonie. Worauf wir zusteuern, erklärt Politikwissenschaftler Frank Deppe im Gespräch.
Der chinesische Präsident Xi Jinping empfängt seinen russischen Konterpart Wladimir Putin auf dem Platz vor der Großen Halle des Volkes in Peking, 16. Mai 2024.
Der Kalte Krieg endete Anfang der 1990er, als die krisengeschüttelte Sowjetunion und die von ihr abhängigen Staaten in Mittel- und Ost- beziehungsweise Südosteuropa endgültig zusammenbrachen. Diverse interne Konflikte, die damit in diesen postsozialistischen Ländern aufbrachen, wurden zunächst eingefroren. Inzwischen brechen sie jedoch wieder auf. Der russische Einmarsch in die Ukraine, der in Deutschland und Europa eine sicherheitspolitische »Zeitenwende« ausgelöst hat und eine neue Blockkonfrontation auf dem Kontinent nach sich zieht, ist der prägnanteste, aber bei weitem nicht der einzige dieser Konflikte.
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich ein neuer Kalter Krieg ab, der an den alten anknpüft, sich aber dennoch in vielen Aspekten von ihm unterscheidet. Mit den BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) mischen inzwischen wirtschaftsstarke Länder in der Weltwirtschaft mit, die die bisherigen Hegemoniekonstellationen nicht akzeptieren. Vor allem der Aufstieg Chinas stellt den Führungsanspruch der USA infrage und bietet Entwicklungsländern einen alternativen Pol an, an dem sie sich orientieren können. Die USA, aber auch immer mehr EU-Mitgliedsstaaten, sehen in China zunehmend einen Systemkonkurrenten, den es gilt, mit Strafzöllen und Wirtschaftssanktionen in die Schranken zu weisen.
Haben wir es also mit einem Epochenbruch zu tun? Was bedeutet es, wenn es bei diesem »neuen« Kalten Krieg keinen Sieger gibt? Und was heißt das für die progressiven Kräfte hier und in aller Welt? Über diese und andere Fragen sprach JACOBIN mit dem renommierten Politikwissenschaftler Frank Deppe, Autor des jüngst erschienenen Buches Zeitenwenden?.
Ihr neues Buch, Zeitenwenden?, handelt vom alten Kalten Krieg und dem, was Sie als neuen Kalten Krieg identifizieren, nämlich den Konflikt zwischen den USA beziehungsweise dem Westen auf der einen Seite, und China sowie Russland beziehungsweise den BRICS-Staaten auf der anderen Seite. Wie lassen sich diese Konflikte vergleichen?
Ich bin Jahrgang 1941. Das heißt, ich habe einerseits den Zweiten Weltkrieg und sein Ende miterlebt. Ich bin dann in der Zeit des alten Kalten Kriegs in Frankfurt am Main aufgewachsen und habe mich später in der Friedens- und 1961 erstmals in der Ostermarschbewegung engagiert. Die Proteste richteten sich gegen die Stationierung von Atomwaffen und warben für Abrüstung. In den 1970er Jahren hatten diese Protest- und Friedensbewegungen in der Politik stärkeren Einfluss gewonnen. Davon zeugt die Ostpolitik von Willy Brandt, die Helsinki-Konferenzen in den 1970er Jahren, es war also eine Ära der zumindest leichten Entspannung.
Von daher provoziert der mögliche Rückfall in die Zeit des alten Kalten Kriegs bei mir viele negative Erinnerungen und Ängste. Ich schreibe in dem Buch vom dem einstigen Spruch »Lieber tot als rot«, der damals bei den Massendemonstrationen in unseren Ohren erklang. Vor allem seit dem Ukraine-Krieg, und noch verstärkt seit dem Gaza-Krieg, ist es nun die Angst vor einer herrschenden Tendenz, die zu Aufrüstung, Kriegsgefahr, Konfrontation und realen Kriegen neigt. Darin steckt die Gefahr einer Eskalation, vor allem im Ukraine-Krieg, die auch zu einer atomaren Auseinandersetzung führen könnte.
Als Politikwissenschaftler, der sich viel mit Fragen der internationalen Machtverhältnisse beschäftigt hat, haben mich beim Schreiben des Buches die Übereinstimmungen von damals und heute interessiert. Die gibt es etwa beim Primat der Aufrüstungspolitik und der ideologischen Konfrontation, die nun im Zuge der Blockbildung stattfindet. Ganz exemplarisch steht dafür die NATO-Konferenz Anfang Juli dieses Jahres in Washington, bei der sehr selbstbewusst formuliert wurde, wie geschlossen der Westen in der neuen Konfrontation mit China und Russland steht. Das sind politische Formen der transnationalen und internationalen Politik, die sehr stark an den alten Kalten Krieg erinnern. Es gibt aber nach fünfzig oder sechzig Jahren selbstverständlich auch wesentliche Unterschiede, die ich in dem Buch herausarbeite und politisch bewerte.
Sie beschreiben in Ihrem Buch auch den verheerenden Koreakrieg, der zwischen 1950–1953 ausgefochten wurde und damit relativ am Anfang der Phase des Kalten Krieges stattfand. Kann man den Koreakrieg mit dem heutigen Krieg Russlands gegen die vom Westen unterstützte Ukraine vergleichen?
Es ist wichtig zu erwähnen, dass es vor dem Koreakrieg natürlich schon eine ganze Reihe von Kriegen in der Nachfolge des Zweiten Weltkrieges gab, mit einem Schwerpunkt in Asien. In China ging nach 1945 der Bürgerkrieg zwischen Chiang Kai-shek und Mao Zedong weiter, der 1949 mit dem Sieg der Kommunisten endete, wobei Kai-shek und die Kuomintang-Regierung massiv von den USA unterstützt wurden. Es gab zudem Kriege in Malaysia, in Indonesien und natürlich auch in Vietnam.
»Die Angst vor einem neuen Krieg war ständiger Begleiter, wurde politisch manipuliert – genauso wie auch heute die Angst vor dem Überfall oder der Aggressivität aus Russland politisch manipuliert wird.«
Das waren Kriege, die – bis hin zum Koreakrieg – von den alten kolonialen Verhältnissen in Ostasien geprägt waren. Indochina war eine französische, Korea war seit 1910 eine japanische und Malaysia eine britische Kolonie. In Indonesien waren die Niederländer, doch auch Indonesien war im Zweiten Weltkrieg von Japan besetzt. Und gegen die japanische Besetzung haben sich in fast allen Ländern Widerstands- und Befreiungsbewegungen entwickelt, die in der Regel von Kommunisten, wie etwa Ho Chi Minh in Vietnam, angeführt wurden.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage Japans haben die Bewegungen in diesen Ländern natürlich erwartet, dass sie unabhängig werden. Doch die alten Kolonialmächte kamen zurück: Frankreich wollte wieder Indochina beherrschen, die Niederländer kamen nach Indonesien zurück. Insofern hat ganz Ostasien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine blutige Periode erlebt.
Aber aus westlicher und europäischer Perspektive war der Koreakrieg für die Blockbildung am entscheidendsten?
Der Koreakrieg hat furchtbare Opfer gefordert. Die Amerikaner haben auf Korea mehr Bomben abgeworfen als auf Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Ich habe Nordkorea einmal besucht und war in Pjöngjang in einem Museum. Die Menschen, die in Nordkorea überlebt haben, haben nur unter der Erde gelebt. Da stand kein einziges Haus mehr, es gab schreckliche Verluste an Menschenleben, die Zahl der Kriegstoten wird heute auf 4,5 Millionen beziffert.
Der Auslöser des Koreakrieges war zweifellos, dass nordkoreanische Truppen den 38. Breitengrad, der damals schon als Trennungslinie existierte, überschritten hatten und die Amerikaner mit der Unterstützung der UNO massiv intervenierten. Zuvor hatte sich eine Widerstandsbewegung gegen die japanische Besatzung und Kolonialherrschaft gebildet, die dann 1945 den Anspruch erhob, das ganze Land zu regieren. Dieser Krieg stand in einem Zusammenhang mit der Frage, ob sich die USA und die Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges darüber einigen können, wer in Korea die Führung übernimmt.
Ich kann mich erinnern, wie ich 1950 mit meiner Mutter und einer ihrer Bekannten im Zug saß. Da kam die Rede auf den Koreakrieg, und da sagte meine Mutter voller Schrecken: »Wird es wohl wieder Krieg geben?« Das war die Angst, die uns mit dem Blick auf diesen Krieg erfasste. Genau diese Angst hat während des Kalten Kriegs auch im Westen und vor allem in Europa zu verhärteten Fronten geführt. Diese Angst war ständiger Begleiter, wurde politisch manipuliert – genauso wie auch heute die Angst vor dem Überfall oder der Aggressivität aus Russland politisch manipuliert wird.
Gibt es von den Auswirkungen her Parallelen zwischen dem Koreakrieg und dem Ukraine-Krieg?
Der Koreakrieg gilt vor allem für die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland – neben anderen Faktoren wie dem Marshallplan und der Einführung der D-Mark 1948 – als der Start der langen Phase des Wirtschaftswachstums, also des sogenannten Wirtschaftswunders oder des goldenen Zeitalters des Kapitalismus, wie Eric Hobsbawm es nannte. Diese Phase hielt bis in die 1970er Jahre an.
Der Koreakrieg war insofern wichtig für die deutsche Wirtschaft, weil in dieser Zeit ein ökonomischer Aufschwung deutscher Exportindustrien stattfand. In den USA gab es zeitgleich eine enorme Konzentration auf den Rüstungsbereich. Nachdem dieser zwischenzeitlich abgebaut worden war, wurde er auf einen Umfang wie am Ende des Zweiten Weltkrieges hochgerüstet. Aber jetzt setzte für die USA der »Militär-Keynesianismus« ein. Das bedeutet eine gewaltige Steigerung der Rüstungsausgaben, die gleichzeitig das wirtschaftliche Wachstum vorantreiben – der Rüstungsindustrie über Arbeitsplätze, aber vor allem auch im Wissenschaftssystem, also der Zusammenführung der Forschung mit dem Militär.
Also faktisch etwas, was heute, angesichts massiver Rüstungssteigerungen auch der westlichen Staaten, teilweise wieder zu beobachten ist, vor allem in den USA – siehe etwa den Rüstungs- und den Energiesektor –, auch wenn Deutschland bislang kaum zu den ökonomischen Profiteuren gehört.
Die US-Finanzministerin und ehemalige US-Notenbankchefin Janet Yellen hat bei einer jüngsten Konferenz geäußert, die Unterstützung, aber vor allem der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Ende des Krieges, müsste ein riesiges Investitionsprogramm für die amerikanische Wirtschaft werden. Gemäß dieser Vorstellung werden einerseits über die forcierte Aufrüstung und andererseits über solche zurzeit noch fiktiven Wiederaufbauprogramme neue wirtschaftliche Wachstumskräfte freigesetzt.
Im Hinblick auf wirtschaftliche Entwicklung und Macht befindet sich der Westen seit mehr als zehn Jahren in einem Zustand, den Wissenschaftler als Polykrise oder als Multikrise bezeichnen. Seit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008-2009 fällt das System des globalen Finanzmarktkapitalismus und der neoliberalen Politik von einer Krise in die andere. Die Regierungen der Nationalstaaten, die diesem westlichen Bündnis angehören, sind mit einem permanenten Krisenmanagement befasst, das aber bei wachsenden Teilen der Bevölkerung als erfolglos angesehen wird und insofern zu Instabilitäten im politischen System führt. Die finden ihren Ausdruck vor allem im Anwachsen der neofaschistischen oder rechtspopulistischen politischen Kräfte.
Viele Politologinnen und Politologen, die den Konflikt in der Ukraine analysieren, sagen, es könnte in der Ukraine ähnlich wie in Korea auf ein Einfrieren des Krieges und eine Demarkationslinie hinauslaufen, die irgendwo durch die Ukraine verliefe. Wie sehen Sie das?
Man muss sich die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges anschauen und die sehr ereignis- und konfliktreiche Geschichte der Ukraine und Russlands historisch betrachten. Bereits in den Verhandlungen, die im März 2022 in Istanbul geführt wurden, stand die Frage im Raum, was mit dem Donbass wird, der sich mit massiver russischer Unterstützung nach 2014 unabhängig erklärt hatte, und natürlich auch mit der Krim. Ich würde annehmen, dass die Volksrepublik China, die BRICS-Staaten und der Süden insgesamt hinter einem solchen Kompromisspaket stehen, auch um Druck auf die USA zu erzeugen.
Der Donbass ist eine uralte sowjetische Industrieregion gewesen, die in einem solchen Kompromiss zu Russland kommen könnte. Die Frage der Krim würde für künftige Verhandlungen ausgeklammert. Gleichzeitig würde die Unabhängigkeit der Ukraine und ihre Öffnung zur EU gesichert, während gleichzeitig der NATO-Beitritt ausgeschlossen würde. Ich bin kein Experte, der sich auf der Ebene von Geheimverhandlungen auskennt. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass zwischen Russland, den USA und den europäischen Ländern solche Kompromisse diskutiert werden.
Aber das ist natürlich vor allem im Westen umstritten, und in den USA besteht zwischen Trump und Biden in der Frage offensichtlich eine große Differenz. Ich halte Trump zwar insgesamt für sehr viel gefährlicher als Biden, aber das Interessante ist, dass sich in dem US-amerikanischen Außenministerium unter Anthony Blinken eine Gruppe von Strategen versammelt hat, die noch unter George W. Bush Anfang des 21. Jahrhunderts auch für die Kriege standen, die im Nahen Osten und in Afghanistan geführt wurden – alles mit dem Ziel, die US-amerikanische Vorherrschaft zu sichern. Patricia Nuland ist die bekannteste Vertreterin, die zugleich mit Robert Kagan verheiratet ist, einem Strategen in der Nachfolge von Henry Kissinger oder Zbigniew Brzezinski, wenn auch auf niedrigerem Niveau.
»China rüstet inzwischen auch stark auf und die Taiwan-Frage steht als möglicher Auslöser eines großen Krieges zwischen den USA und China im Raum.«
Innerhalb dieser Gruppe, die im US-Außenministerium auch für die Ukraine-Politik zuständig ist, besteht offenbar das Interesse – wie auch innerhalb der NATO und mit Unterstützung der deutschen Außenpolitik –, den Krieg möglichst lange fortzuführen. Ziel ist es offenbar, Russland an die Grenze einer Niederlage zu bringen oder innenpolitische Entwicklungen in Russland mit beeinflussen zu können. Daher möchte man keinen vorläufigen Kompromiss oder Waffenstillstand. Es gibt in den USA massive Kräfte, die das ebenfalls fordern, auch aus dem Bereich der Politikwissenschaft.
Zwar gibt es in den USA auch die schärfsten Kritiker dieser Politik, die die Osterweiterung der NATO als einen großen Fehler mit fatalen Konsequenzen bezeichnet haben. Doch im Moment gibt es wenig erkennbare Ansatzpunkte, um etwa zu verhindern, dass Orbán mit seiner Initiative so abgestraft wird, wie das im Moment in der EU geschieht. Allerdings versuchen andere in der EU, etwa Frankreichs Präsident Macron, auszuloten, ob es Möglichkeiten gäbe, in der Frage von Waffenstillstand und Kriegskompromiss eine eigenständige europäische Position gegenüber den USA einzubringen. Ich nehme an, dass sich das, falls Trump gewählt wird, verstärken wird. Dann würde auch die deutsche Politik mit einer Reihe von Fragen konfrontiert, die neue Anpassungen erfordern werden.
Die USA haben sich seit 1989 bis heute im sogenannten unipolaren Moment als einzige Weltmacht eingerichtet. Nun tritt mit China ein Akteur auf die Bühne, der schon wegen seiner riesigen Bevölkerungsgröße, seiner technologischen Innovationskraft und seinem autoritären Modell zwangsläufig die USA herausfordert, die ihren Status nicht aufgeben wollen. Ist in dieser Konstellation ein Krieg unvermeidlich oder können sich im Westen und den USA politische Kräfte entwickeln, die die neue Realität der Multipolarität anerkennen?
Der Titel meines Buches heißt ja Zeitenwenden?, ein Begriff, der von Olaf Scholz definiert worden ist. Damit wurde der Angriff Russlands auf die Ukraine als ein Bruch markiert, der einmalig in Europa sei. Das ist natürlich nicht ganz richtig. Dennoch bricht diese Zeitenwende-Perspektive mit der bisherigen Vorstellung, dass man in Europa ein System kollektiver Sicherheit durch Kooperation mit Russland aufbauen könne. Diese schloss die wirtschaftliche Kooperation Russlands mit Deutschland ein, vor allem auch im Energiesektor, aber auch kollektive Vereinbarungen über Sicherheitsfragen.
Diese Zeit ist nun vorbei und die deklarierte Zeitenwende erfordert von Deutschland und den europäischen NATO-Staaten nicht nur Kooperation mit den USA, sondern auch und vor allem in Deutschland verstärkte Aufrüstung. Unser Friedens- beziehungsweise Kriegsminister Boris Pistorius sagt, Deutschland müsse kriegstüchtig werden. Zugleich haben wir mit Annalena Baerbock eine unsägliche Außenministerin von den Grünen und auch andere Kräfte in dieser Partei, die ich als Kriegstreiber, Bellizisten, Liberale und Imperialisten bezeichnen würde. Sie vertreten diese Wende hin zu einer Konfrontationspolitik gegenüber Russland und China und eine Blockbildungspolitik des Westens unter der Führung der USA.
In meinem Buch gehe ich allerdings im dritten Kapitel auch auf die Frage ein, ob wir es mit einer Zeitenwende oder eher einem »Epochenbruch« zu tun haben. Darunter verstehe ich vor allem den Aufstieg Ostasiens, der in den letzten dreißig bis vierzig Jahren stattgefunden hat. Das fing natürlich mit dem Aufstieg der sogenannten Tiger-Staaten an, aber maßgeblich ist ab 1978 der Aufstieg der Volksrepublik China. Diese Veränderung der globalen Machtverhältnisse wurde in den USA natürlich sehr früh registriert. Kissinger schrieb darüber, dass sich die Chinesen in den Weltmarkt hineinbewegen, sich für das Kapital öffnen, und dass dieses dazu führen würde, dass sich China innenpolitisch liberalisiert und außenpolitisch für eine Bündnisbeziehung mit den USA öffnet.
Beide Erwartungen haben sich als unzutreffend erwiesen. US-Präsident Barack Obama war der erste, der eine neue Orientierung für die amerikanische Politik formuliert hat. Diese besagte, dass für die Beherrschung der Welt nicht mehr der atlantische, sondern der pazifische Raum die zentrale Region sein würde, in dem die globalen Machtverhältnisse des 21. Jahrhunderts entschieden würden. Sofern die USA ihre führende Rolle beibehalten wollten, müssten sie sich demnach vor allem auf diesen Bereich konzentrieren.
Haben die USA bei ihrer Hinwendung zum Pazifik die Bedeutung und die Stärke Russlands unterschätzt?
Zu diesem Zeitpunkt hat Russland aus der Sicht der USA noch eine untergeordnete Rolle gespielt. Man ging davon aus, dass Russland infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion wirtschaftlich und sozial immer noch so geschwächt ist, dass es als Weltmacht keine größere Rolle mehr spielen kann, auch wenn es noch über Atomwaffen verfügt. Und so haben die USA gegenüber China bereits in den 2010er Jahren ihre Sanktionspolitik umgesetzt, die Donald Trump dann verstärkt hat, als er versuchte, mit Wirtschaftssanktionen, Zöllen und einer protektionistischen Wirtschaftspolitik den US-Markt zu schützen.
Genau das wird jetzt auch von den Europäern gemacht. Diese Konfrontation hat sich seitdem vor allem im pazifischen Raum zugespitzt. China rüstet inzwischen auch stark auf und die Taiwan-Frage steht als möglicher Auslöser eines großen Krieges zwischen den USA und China im Raum. Die USA provozieren, wo immer sie können, etwa durch den Besuch von führenden Politikern in Taiwan und der Unterstützung von Kräften, die die Unabhängigkeit von Taiwan als eigenen Staat anstreben. Die chinesische Politik um Einflusssphären ist inzwischen sehr viel selbstbewusster geworden, etwa hinsichtlich der Kontrolle von Inseln wie den Spratley-Inseln, um die es mit den Philippinen oder Vietnam Konflikte gibt.
Kann China aber tatsächlich – militärisch wie technologisch – mit den USA konkurrieren?
Der entscheidende Vorgang ist meiner Ansicht nach gar nicht so sehr, dass China in der Taiwan-Frage versuchen wird, militärisch zu intervenieren, sondern, dass die chinesische Politik in den letzten zwanzig Jahren ein eigenes Bündnissystem von Staaten aufgebaut hat, um Prinzipien internationaler Politik zu definieren, die sich von den Prinzipien, die dem Westen zugeschrieben werden, unterscheiden. Die BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, China, Indien und Südafrika – sind offenbar sehr erfolgreich, weil viele weitere Staaten Mitglied dieses Bündnisses werden möchten.
Die BRICS-Staaten haben eine eigene Bank gegründet, die gleichwohl noch sehr vorsichtig agiert. Doch das Bündnis definiert sich durch verschiedene programmatische Punkte. Das oberste Ziel ist es, im Interesse des Globalen Südens ein multilaterales System der Weltwirtschaft und der Weltpolitik zu fordern – also ein System ohne Hegemonie. Dieses geht natürlich gegen die USA und deren unipolaren Anspruch.
»So, wie wir es als Aufgabe demokratischer Bewegungen ansehen, in Krisenperioden den Übergang zum Faschismus und zur Diktatur zu verhindern, sehe ich eine andere zentrale Aufgabe darin, auch innenpolitisch die Kräfteverhältnisse so zu beeinflussen, dass diese Eskalation zu einem Großmachtkrieg verhindert wird.«
Die USA wollen auch für die Weltwirtschaft und die Weltpolitik weiterhin die Vorgaben machen. Dies geschieht bislang durch die Vorherrschaft des US-Dollar und über das von der Wall Street kontrollierte Weltfinanzsystem, die die entscheidende Machtebene innerhalb dieses globalen Wirtschaftssystems darstellen, in das sich auch die EU und andere Regionen in der Welt einfügen. Das Interessante ist, dass innerhalb des BRICS-Systems mit maßgeblichem Einfluss von China gesagt wird, dass es Ziel sei, nicht nur die Hegemonie abzubauen, sondern auch durch die Kooperation zwischen den beteiligten Staaten innerhalb dieses Bündnisses »Win-win«-Situationen herzustellen – ein Lieblingsbegriff der chinesischen Führung. Die Neue Seidenstraße ist ein solches chinesisches Projekt, um wirtschaftliche Entwicklung in den Staaten, die diesem Bündnis angehören, herbeizuführen.
Ich beobachte diese Politik auch, und würde sie vor allem in den afrikanischen Staaten, als Ausbeutung bezeichnen, auch wenn China diesen Staaten bessere Bedingungen anbietet als Staaten des Westens. Könnte dieser Ansatz einer »Win-win«-Situation nicht auch als ein strategisches Instrument verstanden werden, um den Westen auszustechen?
Ich würde schon sagen, dass das strategisch kalkuliert ist. Doch auch wenn man die Eigeninteressen Chinas berücksichtigt, ist es dennoch bemerkenswert.
Die interessantesten Analytiker und Theoretiker des Weltsystems sind aus meiner Sicht jene um den Soziologen und Wirtschaftshistoriker Immanuel Wallerstein, der die moderne Weltsystemtheorie entwickelt hat. Dazu zählen etwa Giovanni Arrighi und weitere Forscher, die in den letzten Jahrzehnten auch immer die Stimme des Globalen Südens mit berücksichtigt haben. Für Wallerstein beginnt die Geschichte des kapitalistischen Weltsystems grob im Jahr 1500, sehr vereinfacht gesagt, mit der sogenannten Entdeckung Amerikas 1492, und sie eröffnet eine lange historische Periode der Formierung eines kapitalistischen Weltsystems. Dieses Weltsystem hat in unterschiedlichen Formationen die Welt beherrscht, bis hin zum British Empire des 18. und 19. Jahrhunderts und des American Empire des 20. Jahrhunderts.
Gemäß der Theoretiker der Weltsystemtheorie leben wir in einem Epochenbruch, in dem dieses Modell der Beherrschung der Welt seinem Ende zugeht. Theoretiker wie Martin Jacques betonen immer diesen nicht-expansiven Charakter chinesischer Politik. Ich selbst bin dem gegenüber relativ kritisch, auch weil ich denke, dass das starke Wachstum des Kapitalismus in China die Projekte oder die Rolle der kommunistischen Partei Chinas mittel- und langfristig beeinflussen wird, und zwar sowohl aufgrund möglicher innenpolitischer Probleme als auch aufgrund von außenpolitischen Konflikten.
Allerdings ist der zentrale Punkt, dass in dem Bündnis oder dem Angebot der BRICS-Staaten nicht große Vereinigungen wie etwa der IWF im Vordergrund stehen, sondern bilaterale Vereinbarungen, von denen beide Seiten etwas haben sollen. Wie Sie schon angemerkt haben, kann das natürlich Herrschaftsverhältnisse implizieren, wie es etwa im Fall von Sri Lanka zu sein scheint, das sich gegenüber China völlig verschuldet hat und gelähmt ist. Dennoch ist dieses Projekt ein Angebot für das 21. Jahrhundert: eine multilaterale Welt ohne Hegemonie und ohne Hegemonialmacht. Das wird natürlich von den Ländern des Südens anders wahrgenommen als in Europa – der Niedergang Europas ist aus ihrer Perspektive natürlich auch der Niedergang der ehemaligen Kolonialmächte, die die Welt beherrscht haben.
Es ist zu erwarten, dass China in wenigen Dekaden die USA wirtschaftlich deutlich übertrumpfen wird. Die große Frage ist daher: Kann das ohne Krieg geschehen?
Der US-Politikwissenschaftler Graham Allison hat vor wenigen Jahren die Frage gestellt, ob die USA und China der Thukydides-Falle entkommen können. Aus einer solchen Betrachtungsweise würde hervorgehen, dass wir in einer Zeit leben, wo es in der Tat eine Art Gesetzmäßigkeit in den Beziehungen zwischen den Großmächten in einer historischen Konstellation gibt, bei der eine alte Großmacht zerfällt und neue Großmächte aufsteigen. Einige Vertreter der internationalen Politik, die sich auf Thukydides und den Peloponnesischen Krieg beziehen, sind der Meinung, dass es in dieser Konstellation unvermeidlich zum Krieg zwischen der zerfallenden und der aufsteigenden Großmacht komme.
»Wir sind gegenwärtig in einer Situation, in der nicht nur in neuen Dimensionen zum Zwecke der Abschreckung hochgerüstet wird, sondern gleichzeitig auch die Bereitschaft wächst, militärische Gewalt anzuwenden.«
Ich hoffe, dass solche Prognosen in der internationalen Politik nach wie vor durch menschliche Intervention und vernünftige Politik verhindert werden können. Aber das ist die große Gefahr, die in den neuen Machtveränderungen des Weltsystems im 21. Jahrhundert steckt. Und so, wie wir es als Aufgabe demokratischer Bewegungen ansehen, in Krisenperioden den Übergang zum Faschismus und zur Diktatur zu verhindern, sehe ich eine andere zentrale Aufgabe darin, auch innenpolitisch die Kräfteverhältnisse so zu beeinflussen, dass diese Eskalation zu einem Großmachtkrieg verhindert wird. Das ist eine der ganz zentralen Aufgaben des 21. Jahrhunderts.
Die aktuellen Entwicklungen, etwa in der Ukraine und in Israel und dem Gaza-Streifen beziehungsweise auch dem Iran, deuten in keine gute Richtung.
Wir sind gegenwärtig in einer Situation, in der nicht nur in neuen Dimensionen zum Zwecke der Abschreckung hochgerüstet wird, sondern gleichzeitig auch die Bereitschaft wächst, militärische Gewalt anzuwenden. Das gilt auch für Russland. Bisher waren das Modell Hegemonie und Blockbildung, oder aber neue multilaterale Weltordnung ohne Hegemonie – also das chinesische Modell, die Pentarchie – wirkmächtig.
Wohin wir derzeit übergehen, bezeichne ich als Epoche imperialer Großmachtpolitik, in der sich relativ deutlich verschiedene Großmachtkonstellationen abzeichnen. Das sind einerseits im Westen die USA, wo der Aufstieg von Trump verdeutlicht, dass sie stärker auf eine Großmachtpolitik der USA setzen, die vor allem auf den Pazifik ausgerichtet wird, und die traditionelle Vorstellung, auch Bündnismacht mit Europa zu sein, schwächer wird. Neben den USA sind China sowie auch Indien eine eigene Großmacht.
Die Frage ist, wie Europa sich positioniert – das ist nach meiner Einschätzung eines der zentralen Probleme auch der deutschen Politik. Die EU ist seit dem Ende des alten Kalten Krieges sehr expansiv und hat mit der Osterweiterung, der Einführung des Euro und der Herstellung des Binnenmarktes drei Großprojekte einigermaßen erfolgreich bewältigt. Gleichzeitig ist Deutschland aufgrund seiner starken wirtschaftlichen Position die Führungsmacht in Europa, was allerdings wieder dazu führt, dass es innerhalb von Europa oder der EU immer auch zu Konflikten kommen muss. Man hat ja am Brexit gesehen, wie schnell Großbritannien rausgegangen ist. Frankreich unter Macron und auch anderen Staatspräsidenten wird immer auch die besondere Rolle Frankreichs hervorheben, womöglich auch in den Beziehungen zu Russland, um die deutsche Vormachtposition in der EU einzuschränken.
Und auch Polen hat zunächst die Unterstützung von den Amerikanern über die NATO gesucht, und ist erst dann in die EU eingetreten. Es wird also immer ein großes Misstrauen gegenüber einer deutschen Führungsrolle in der EU geben. Vor diesem Hintergrund halte ich es für eine Illusion, zu glauben, die EU könnte im 21. Jahrhundert als eigene Großmacht in diesem System der internationalen Politik auftreten. Natürlich spielt dabei auch die Frage der militärischen Macht, über die die Europäer verfügen, eine wichtige Rolle. Es sind zwar mit Frankreich und Großbritannien zwei Atomstaaten in Europa, aber verglichen mit der militärischen Macht Russlands, der USA und auch Chinas liegt Europa weit zurück – Gott sei Dank, würde ich dazu sagen.
Wie werden sich diese Beziehungen zwischen diesen Großmächten, die auch stärker bilateral miteinander umgehen, gestalten? Ich würde sagen, es liegen jenseits der groben Blockkonfrontation Chancen für Ansätze vernünftiger und realistischer Politik. Ungarns Regierungschef Orbán hat schon mal angedeutet, wie so etwas aussehen könnte.