15. April 2024
Der heiße Krieg in der Ukraine ist mittlerweile für viele deutsche Beobachter zur Normalität geworden. Den Gedanken an ein »Einfrieren« des Konflikts hingegen empfinden sie als »Katastrophe«. Diese verkehrte Sichtweise darf sich nicht festsetzen.
Wer über den Krieg spricht, muss sich stets vor Augen führen, wie er aus der Nähe aussieht. Aufnahme aus einem Lazarett in der Region Saporischschja, vom 27. Juli 2023.
Ja, Olaf Scholz ist ein schwacher Kanzler – vielleicht der (führungs)schwächste, den die Bundesrepublik Deutschland je hatte. Doch in einer Frage zeigt der SPD-Mann relativ klare Kante: bei seiner strikten Ablehnung, der Ukraine die deutschen Taurus-Marschflugkörper zu liefern. »Ich bin der Kanzler, und deshalb gilt das«, sagte er Anfang März, um sein Nein zu untermauern. Viele Abgeordnete und Regierungsmitglieder der Grünen und der FDP sind in dieser Frage anderer Meinung – dennoch folgten sie Scholz’ Diktum und lehnten bei der Abstimmung am 14. März im Bundestag die von der CDU beantragte Lieferung der Waffensysteme an Kiew klar ab.
An jenem Tag indes setzte ein anderer SPD-Mann den Punkt – oder vielmehr ein Fragezeichen hinter den sich ausbreitenden bellizistischen Zeitgeist: Fraktionschef Ralf Mützenich. Er sagte vor dem Bundestag: »Zeitenwenden sind nichts für politische Spielernaturen. Gebraucht wird Verstand, Besonnenheit und Klarheit.«
Dann fügte er etwas hinzu, das nach wie vor viele in Rage bringt: »Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?« Später erläuterte er: »Ich bin in den Sozial- und Friedenswissenschaften ausgebildet. Dort wird das Einfrieren als Begrifflichkeit genutzt, um in einer besonderen Situation zeitlich befristete lokale Waffenruhen und humanitäre Feuerpausen zu ermöglichen, die überführt werden können in eine beständige Abwesenheit militärischer Gewalt.«
»Es ist längst ein ›Abnutzungskrieg‹, eine ›Materialschlacht‹ – auch wenn der Begriff in die Irre führt, denn es werden in erster Linie Menschenleben zerstört.«
Ähnlich sieht es offenbar das Oberhaupt der katholischen Kirche. Papst Franziskus wurde Mitte März wegen seiner Äußerung zur »weißen Flagge« scharf kritisiert. Dabei hat er im selben Interview etwas Kluges gesagt, das in der schrillen Schelte über den in der Tat unglücklich verwendeten Begriff untergegangen ist: »Wenn man sieht, dass man besiegt wird, dass die Dinge nicht gut laufen, muss man den Mut haben zu verhandeln.«
Diese Aussage ist natürlich unterkomplex, allgemein und bietet daher viel Angriffsfläche. Doch der Pontifex, das kann man ihm durchaus glauben, dachte dabei wohl vor allem an all die Toten von gestern und heute sowie jene möglichen Toten von morgen. Sie zu schützen, und ihren Schutz an vorderste Stelle zu setzen – dies erfordert heute Mut.
Doch Papst Franziskus, Rolf Mützenich und andere ähnlich Denkende sind offenbar aus der Zeit gefallen. Sie erkennen aus der Sicht vieler, allzu vieler, nicht die neuen Gegebenheiten. Die Zeichen stünden nicht auf »Waffenruhe-Waffenstillstand-Kompromiss«, sondern auf Sieg. Fünf Historikerinnen und Historiker um Heinrich August Winkler etwa, allesamt Sozialdemokraten, sahen sich veranlasst, Scholz und Mützenich ins Gebet zu nehmen.
Sie werfen der SPD »Realitätsverweigerung« vor, es müsse »endlich eine klare Strategie für einen Sieg der Ukraine« her. Sie schreiben: »Die Vorstellung, Risiken würden allein durch Zurückhaltung minimiert, ignoriert die Eskalationsgefahr, die entsteht, wenn Putin keine Grenzen gesetzt werden.« Das »Einfrieren« des Kriegs in der Ukraine – laut dem Brandbrief ein »fataler« Begriff – wäre gleichbedeutend mit einer »Beendigung zugunsten des Angreifers«.
In diesem Sinne schreibt auch René Pfister, Leiter des Washington-Büros des Wochenmagazins Spiegel. Wer den neuen Zeitgeist wie unter einem Brennglas studieren will, der lese in aller Ruhe seinen Beitrag »Wie ›Friedenspolitik‹ den Weg in die Katastrophe bahnt«. Er führt mustergültig die gesellschaftliche Stimmung vor, in der es inzwischen normal ist, wenn sich etwa die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann im Zeichen ihrer offensiven Waffenlieferrhetorik auf Wahlplakaten ungeniert als »Oma Courage« bezeichnet.
Politikerinnen und Publizisten propagieren regelmäßig um (fast) jeden Preis den ukrainischen Sieg als einziges legitimes Ziel, ohne zu erläutern, wie dieser konkret aussehen und was nach ihm (in der Ukraine und in Russland) realistischerweise folgen soll und kann. Und die ständigen Vergleiche Putins mit Adolf Hitler ersetzen die genaue Analyse, weil Wiederholung offenbar Wahrheit schafft.
In die Putin-Hitler-Kerbe schlägt auch Pfister. Er beschreibt Mützenichs Haltung zum Ukraine-Krieg als analog zur Appeasement-Politik Großbritanniens und ihres damaligen Premierministers Neville Chamberlain im Jahr 1938 gegenüber Hitler, die sich schon ein Jahr später als wirkungslos zeigen sollte. Mützenichs Rede vom »Einfrieren« sei »der Ersatz von Politik durch eine Illusion [...]. Wie gefährlich das sein kann, zeigt die Geschichte. Der Gipfel von München garantiere ›Frieden für unsere Zeit‹, verkündete Chamberlain [...]. Elf Monate später fiel die Wehrmacht in Polen ein.« Pfister schreibt weiter, in der »mit viel Pomp inszenierten Weigerung« von Scholz in der Taurus-Frage stecke »immer noch das giftige Erbe der ›Entspannungspolitik‹.«
»Die Bilder, die wir in den Fernsehnachrichten sehen, zeigen nicht hautnah jenen Moment und die ewigen Sekunden danach, in denen ein ukrainischer Soldat von einer russischen Bombe zerfetzt wird.«
Das Problem an dieser Argumentation ist: Wenn es wirklich so wäre, dass Putin ein neuer Hitler auf Beutefeldzug gen Westen und ein »Einfrieren« des Krieges in der Ukraine analog zum Münchner Abkommen von 1938 sei, dann müsste die Konsequenz eigentlich sein, dass die Staaten des Westens in den Krieg eintreten – und zwar jetzt, mit Soldaten, mit gepanzerten Divisionen, mit Kampfflugzeugen. Denn andernfalls würde diese Argumentation vor allem Inkonsequenz bedeuten, gepaart mit Feigheit. Es hieße, dass wir, die NATO-Staaten der EU, aktuell zwar in dem Bewusstsein handeln, dass wir das kommende Kriegsziel Russlands sind, und trotzdem »nur« die Ukrainer kämpfen und sterben lassen, damit sie uns Russland vom Halse halten.
Inzwischen dauert dieser Krieg über zwei Jahre, die Zahl der getöteten ukrainischen Zivilistinnen und Zivilisten beträgt mehr als 10.500, nach Angaben der ukrainischen Regierung sind zudem mehr als 31.000 ukrainische Soldaten gefallen. In Wahrheit dürfte die letztere Zahl weit höher liegen – bereits im August 2023 sprachen US-Regierungsvertreter von fast 70.000 toten ukrainischen Militärangehörigen, auf der russischen Seite sollen es damals bereits 120.000 gewesen sein, von den körperlich Verstümmelten und psychisch Geschädigten nicht zu reden.
Es ist längst ein »Abnutzungskrieg«, eine »Materialschlacht« – auch wenn der Begriff in die Irre führt, denn es werden in erster Linie Menschenleben zerstört. Die Schützengräben und die insgesamt eher kleinen Frontverschiebungen deuten weniger auf das Jahr 1938, als vielmehr auf eine Analogie zum Ersten Weltkrieg hin. Letzterer zeitigte nach vier Jahren und Millionen von Toten kaum Grenzverschiebungen – dafür aber hatte er die Saat für einen noch verheerenderen Krieg ausgebracht.
Vor diesem Hintergrund offenbaren Positionen, die das Denken über ein »Einfrieren« des Krieges in der Ukraine oder eine Waffenruhe per se als Katastrophe und Gift bezeichnen, vor allem eines: Verantwortungslosigkeit angesichts der geschehenen wie der möglichen Verheerungen. Es ist eine Verantwortungslosigkeit, geäußert aus sicherer Entfernung.
Nein, wir im Westen sehen und fühlen nicht, was Krieg bedeutet. Die Bilder, die wir in den Fernsehnachrichten sehen, zeigen nicht hautnah jenen Moment und die ewigen Sekunden danach, in denen ein ukrainischer Soldat von einer russischen Bombe zerfetzt wird; dafür zeigen sie regelmäßig, wie ein ukrainischer Soldat gerade eine Bodenrakete zündet, deren Ziel und Explosionsopfer unbestimmt bleibt.
Wir sehen nicht, wie der ukrainische Soldat, dessen Beine gerade weggesprengt wurden, ausblutet, noch bei Bewusstsein, verzweifelt schreiend und verloren; wir sehen nur den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der einen »Friedensplan« präsentiert – vollständiger Abzug russischer Truppen aus der Ukraine, Reparationen für Kriegsschäden, Auslieferung von Kriegsverbrechern –, der zwar wünschenswert wäre, aber um Galaxien entfernt ist von der brutalen Realität.
Der US-Journalist Chris Hedges, der jahrzehntelang aus Kriegsgebieten berichtete, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben: The Greatest Evil is War. Im Schlusskapitel schreibt er: »Ich trage den Tod in mir. Den Geruch von verwesten und aufgedunsenen Leichen. Die Schreie der Verwundeten. Die Schreie der Kinder. Den Klang der Schüsse. Die ohrenbetäubenden Explosionen. Die Angst. Den Gestank von Kordit. Die Demütigung, die entsteht, wenn man sich dem Terror ergibt und um sein Leben bettelt. Den Verlust von Kameraden und Freunden. Und dann die Nachwirkungen. Die lange Entfremdung. Die Gefühllosigkeit. Die Albträume. Den Schlafmangel. Die Unfähigkeit, sich mit allen Lebewesen zu verbinden, selbst mit denen, die wir am meisten lieben. Das Bedauern. Die Absurdität. Die Verschwendung. Die Sinnlosigkeit. Nur die Gebrochenen und Verstümmelten kennen den Krieg. Wir bitten um Vergebung. Wir suchen Erlösung. Wir tragen dieses schreckliche Kreuz des Todes auf dem Rücken, denn das Wesen des Krieges ist der Tod, und die Last des Krieges gräbt sich in unsere Schultern ein und frisst unsere Seelen auf. [...] Er verlässt uns nie.«
Viele der »Sieg-um-fast-jeden-Preis«-Befürworter im Westen kennen den Gestank, den Lärm, die Sinnlosigkeit des Krieges nicht. Was unser politisches und Teile des medialen Establishments westlich der Ukraine gut können, ist zählen. Eine Million Artilleriegeschütze, 500 Panzer, 50 Milliarden Euro an Zusagen der EU und so weiter. Doch »Verhandlungen« lassen sich nicht zählen, ebenso wenig wie der vielbeschworene »Sieg«, dessen halbwegs realitätsnahe Konturen, Form und Folgen nirgendwo erläutert werden. Stattdessen ertränken wir die unausgesprochene, weil in ihrer Komplexität kaum zu fassende Realität in einer Art Computerspiel-Sprache: Einer muss gewinnen und einer muss verlieren.
Allzu viele von uns wollen nicht zur Kenntnis nehmen: Selbst, wenn es der Ukraine gelingen sollte, die russischen Truppen in diesem Jahr oder 2025 aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen – was nach derzeitigem Stand und laut Einschätzung auch westlicher Militärstrategen kaum möglich ist, und wenn, dann nur unter einem noch deutlich höheren Blutzoll –, wäre das dann der Sieg? »Game Over«, Russland gibt auf, zieht seine Truppen in die Kasernen ab?
»Warum bilden die Menschen, die lautstark die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern fordern, nicht stattdessen internationale Brigaden?«
Es scheint, als würden immer mehr ernsthafte Menschen, Politikerinnen und Journalisten, in diesen Kategorien denken; zumindest kommunizieren sie in dieser Weise. Putin könnte dann stürzen, lautet die Antwort auf den Vorwurf, die siegbringende Strategie sei allzu vage. Doch ist das, was gefühlsmäßig und menschlich nachvollziehbar ist, auch politisch wünschenswert? Kämen nach Putin in Moskau die Friedenstauben an die Macht, die dem nationalistisch aufgeputschten Land und seinen Menschen erklären, dass man nun klein beigeben müsse? Hat es sich noch nicht herumgesprochen, dass hinter Putin eine ganze Reihe nationalistischer Hardliner steht, und der engste Machtzirkel sich aus dem gefürchteten Geheimdienst FSB rekrutiert? Würde der Westen, würde die Ukraine mit ihnen eine Verhandlungslösung suchen? Lauter unbeantwortete Fragen.
Russland ist ein autokratisch regiertes Land, dessen Führung politische Feinde töten lässt, die Opposition und die Meinungsfreiheit unterdrückt und die eigenen Soldaten ohne mit der Wimper zu zucken in den Tod schickt, um die eigenen Staatsziele und Einflusszonen zu sichern. Die russische Regierung hat kein Recht dazu, ihre Interessen gewaltsam durchzusetzen. Doch wenn ihm dieses gerade von Washington in höchst moralischen Tönen vorgehalten wird, dann kann man sich darüber entweder nur empören oder zynisch lachen.
Haben die USA keine Einflusszonen, die sie mit Gewalt, Krieg und Putschen gesichert haben und weiterhin sichern? Der kürzlich verstorbene Friedensforscher Johan Galtung bezifferte die Todesopfer amerikanischer Streitkräfte und der CIA bei kriegerischen Interventionen und Staatsstreichen in den Jahren 1945–2010 auf 13 bis 14 Millionen.
Warum bilden die Menschen, die lautstark die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern fordern, nicht stattdessen internationale Brigaden? Das ist natürlich eine rhetorische Frage – doch sie hilft, sich klarzumachen, wie einfach es ist, die Fortführung des Krieges aus sicherer Entfernung von anderen zu fordern.
Im Spanischen Bürgerkrieg 1936–39 kamen solche internationalen Brigaden gegen Francos Faschisten zum Einsatz. In verschiedenen Einheiten, die meist von kommunistischen Parteien europäischer Staaten organisiert wurden, kämpften damals Freiwillige für die Republik, einige auch für den Sozialismus. Unter ihnen waren etwa der deutsche Kunsthistoriker und Schriftsteller Carl Einstein, der deutsche Politiker Gustav Flohr, die französische Philosophin Simone Weil und der britische Schriftsteller George Orwell. Wenn unsere Balkon-Bellizisten von heute es ihnen gleichtäten, könnte man ihnen jedenfalls nicht mehr vorwerfen, dass sie nur fremdes Blut für auch unsere, mutmaßlich bedrohte Freiheit zu vergießen bereit sind.
Jan Opielka ist freier Journalist und arbeitet vorwiegend für deutschsprachige Print- und Radiomedien in Deutschland, Österreich und der Schweiz (Freitag, Frankfurter Rundschau, WOZ, Deutschlandfunk, ORF Ö 1).