09. November 2024
In den Familiengeschichten vieler Menschen in Deutschland gibt es vermutlich mehr ehemalige Nazis, als man wahrhaben möchte. Doch wer verstehen will, wie ganz normale Bürger zu faschistischen Tätern werden, muss sich dieser Vergangenheit stellen.
Es ist der 9. November 2018. Ich stehe mit fast fünfzig Menschen um den Gedenkstein der zerstörten Synagoge in Varel. Die DGB-Jugend aus Friesland hat gemeinsam mit der örtlichen Kirche zum Gedenken eingeladen. Wie es sich für einen Novemberabend gehört, nieselt es und meine Füße frieren. Eine Straßenlaterne wirft ein schwaches Licht auf den Gedenkstein. Der Kranz mit einer beschrifteten Schleife lässt sich nur erahnen. Jemand hält eine kurze Ansprache. Der Sprecher erinnert daran, dass die Synagoge gar nicht dort stand, wo heute der Gedenkstein ist. Sie lag gegenüber. Dort, wo der Schutt der zerstörten Synagoge abgetragen wurde, steht heute ein Einfamilienhaus.
Die Tafel mit dem Stein wurde erst 1988 errichtet. Die Vareler Verwaltung hielt es damals für unzumutbar, die Tafel auf dem Grundstück der ehemaligen Synagoge aufzustellen – schließlich war es nun in Privatbesitz. Im Einfamilienhaus brennt Licht. Ob die Menschen dort wissen, was hier gerade vor sich geht?
Der Sprecher lädt zu einer Schweigeminute ein. Wir stehen leise im Dunkeln. Manche aus der Gruppe senken die Köpfe. Ich beobachte, wie der Nieselregen geräuschlos im Licht der Straßenlaterne niedergeht. Ich frage mich, was mein Urgroßonkel wohl dachte, als er hier vor achtzig Jahren diese Synagoge in Brand steckte. Doch ich komme nicht dazu mich in diesen Gedanken zu vertiefen. Eine Frau nähert sich der Gruppe und ruft in die Stille »Haalloooo! Ich muss hier rausfahren! Können sie mal zur Seite treten?!«
Seit sechs Jahren denke ich an jedem 9. November an diesen Vorfall. War der Frau bewusst, was in der Nacht zum 10. November 1938 geschah? Mit Sicherheit. Ich glaube, dass sie vor Scham im Boden versunken wäre, wenn sie gewusst hätte, welche Veranstaltung sie gerade gestört hatte. Gerade deswegen erscheint sie mir sinnbildlich für die deutsche Erinnerungskultur zu sein. Der verbrecherische Charakter des NS-Regimes wird anerkannt und verstanden. Wenige Menschen in Deutschland würden das offizielle Gedenken am 9. November oder am 27. Januar kritisieren. Doch sobald die bekannte Umgebung oder der eigene Familienkreis in die Nähe der Geschichte der NS-Verbrechen rückt, werden wir ignorant.
Ich habe mit 17 die Entnazifizierungsakten meines Urgroßonkels Kurt angefordert. Anders als in meiner Familie behauptet wurde, erfuhr ich, dass Kurt eine örtliche Größe der NSDAP in Varel war. In meiner Familie wurde lange ein ganz anderes Bild gezeichnet. Zwar hätte es einen Onkel gegeben, der in der NSDAP war, aber waren das nicht acht Millionen Deutsche damals? Obendrein hätte er nicht viel von der NSDAP gehalten und sei auch aus dem Krieg desertiert.
»Als NSDAP-Ortsgruppenleiter wusste Kurt, was in dieser Nacht geschah und wer beteiligt war. Höchstwahrscheinlich machte er selbst mit.«
Die Entnazifizierungsakte zeigte mir damals, dass Kurt Ortsgruppenleiter der NSDAP war. Er wurde außerdem nach dem Weltkrieg von den Alliierten für zwei Jahre als politischer Gefangener interniert. Die Familiengeschichte war offensichtlich falsch. Einige Jahre später recherchierte ich für einen Artikel intensiver. Ich fand heraus, dass Kurt 1949 im Synagogenbrandprozess in Varel als Mittäter verdächtigt wurde. Zu einer Verurteilung kam es nicht. Aber der ermittelnde Kriminalbeamte fasste es so zusammen: »Das der zu der Sache gehörte Kurt Eilers als Ortsgruppenleiter von Varel nicht wissen will, von wem seinerzeit in der Pogromnacht die Verhaftung der jüdischen Bevölkerung vorgenommen wurde, ist m.E. als völlig unglaubwürdig hinzunehmen. Offenbar will er seine alten Parteigenossen nicht preisgeben.«
Die heutige Forschung weiß, dass die Verbrechen am 9. und 10. November koordiniert wurden. NSDAP-Funktionäre erhielten ihre Befehle aus München und setzten sie in die Tat um. In der Nacht zum 10. November 1938 steckten SA-Leute und NSDAP-Mitglieder die Synagoge in Varel in Brand. Es kam zur Plünderung jüdischer Wohn- und Geschäftshäuser. Die männlichen Juden Varels wurden zusammengetrieben und inhaftiert. Als NSDAP-Ortsgruppenleiter wusste Kurt, was in dieser Nacht geschah und wer beteiligt war. Höchstwahrscheinlich machte er selbst mit.
Es gibt keine jüdische Gemeinde mehr in Varel. Meine Familie trägt daran einen Anteil. Heute schaut mich der AfD Politiker Maximilian Krah durch die App TikTok an und erzählt mir in einem Kurzvideo: »Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher. Wir haben allen Grund stolz auf unser Land zu sein.«Hätte ich mich nicht ausgiebig mit der NS-Geschichte meiner Familie beschäftigt, dann würde ich Krah vielleicht sogar glauben. Die AfD – und insbesondere Krah – bedient das Bild der guten Vorfahren. Mit Sätzen wie: »Du bist nicht automatisch Nazi, wenn du in der NSDAP warst.«, stößt er in der rechten Szene aber auch im konservativen Lager der BRD auf wenig Widerspruch. Nach Krahs Meinung ist die Schuldfrage ganz individuell zu stellen: Wenn deinen Verwandten zur NS-Zeit nichts nachgewiesen werden kann, dann tragen sie keine Schuld. NSDAP-, SA- oder SS-Mitgliedschaft? Egal.
Krahs geschichtsrevisionistische Aussagen wirken beinahe banal. Ganz so, als sei es logisch, dass nicht alle Verbrecher gewesen sein konnten. Die AfD und ihr rechtes Umfeld verbreiten dieses Narrativ dank Social Media in immer mehr Kanälen. Dabei begehen sie nicht den Fehler, die Verbrechen in der NS-Zeit zu verleugnen. Offizielle Gedenken werden anerkannt und die öffentliche Aufklärung über die NS-Zeit wenig kritisiert.
»Nach einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2018 berichten lediglich 18 Prozent der befragten Deutschen von Mittäterschaft ihrer Verwandten während der NS-Diktatur. Genauso viele behaupten, dass ihre Verwandten potenziellen Opfern geholfen hätten.«
Warum Krah und die AfD mit ihren Aussagen so erfolgreich sind, beschrieb die Forschungsgruppe »Tradierung von Geschichtsbewusstsein«. Im Jahr 2002 veröffentlichte sie ihre Ergebnisse unter dem Titel »Opa war kein Nazi«. Die Gruppe zeigte auf: Erlernte Wissensbestände aus dem individuellen Geschichtsbewusstsein – also aus dem Bereich der öffentlich-offiziellen Erinnerung an die NS-Zeit – stehen völlig unreflektiert neben privaten und familiären Überlieferungen dieser Zeit.
Sabine Moller, Mitglied der Forschungsgruppe, erklärt, dass sich der Diskurs über die NS-Vergangenheit auf eine umfassende Aufklärung über die Verbrechen des NS-Regimes stütze. Die aus der öffentlichen Erinnerungskultur resultierende Vorstellung des ›Dritten Reichs stehe dabei, scheinbar abgetrennt, neben Familienerinnerungen jener Zeit.
Es fällt uns schwer, bekannte Verwandte und Familienmitglieder mit den Verbrechen der NS-Zeit in Verbindung zu bringen. Erzählungen und Erinnerungen von damals handelten oft vom eigenen Leid der Familie. Wie kann außerdem ein Opa, der mir liebevoll in Erinnerung ist, sich gleichzeitig an Massenerschießungen beteiligt haben? Familiengeschichten aus der NS-Zeit werden beiläufig vermittelt, prägen aber einen Interpretationsrahmen. Und hier setzt die AfD an: »Verbrechen gab es, aber deine Verwandten waren das nicht!«
Das stößt auf fruchtbaren Boden. Nach einer Studie der Universität Bielefeld aus dem Jahr 2018 berichten lediglich 18 Prozent der befragten Deutschen von Mittäterschaft ihrer Verwandten während der NS-Diktatur. Genauso viele behaupten, dass ihre Verwandten potenziellen Opfern geholfen hätten. Gab es also genauso viele Täter wie Opfer? Nein. Historische Schätzungen gehen von 20.000 bis 200.000 potenziellen Helferinnen und Helfern von Opfern aus.
Krah ist nicht der Letzte, der an »das Positive« in der deutschen Geschichte erinnern wird. Menschen wie er wollen einen Schlussstrich unter die deutsche Erinnerung an die NS-Verbrechen setzen. Mit der sogenannten Normalisierung der deutschen Vergangenheit will die AfD und die extreme Rechte sich von politischen Belastungen befreien. Im hessischen Landtag lieferte die AfD-Fraktion 2020 ein Beispiel, wie sie das machen will. Sie forderte aus dem 9. November ein Feier- und Gedenktag zu machen. Denn schließlich sei am 9. November 1989 auch die Mauer gefallen.
»Es ist schmerzhaft sich mit der unmittelbaren Schuld der Familie auseinander zu setzen. Denn die schrecklichen Zahlen von millionenfachen Morden sind dann nicht mehr abstrakt. Sie werden viel nahbarer.«
2020 wurde ein ehemaliger Wachmann des KZ Stutthof verurteilt. Die Richterin Meier-Göring begründete ihr Urteil damals so: »Sie waren einer der Gehilfen dieser von Menschen gemachten Hölle. Der Befehl befreit Sie nicht von Schuld. Wehret den Anfängen! Seid und bleibt wachsam! Achtet die Würde des Menschen um jeden Preis - auch wenn der Preis die eigene Sicherheit ist.«
Die Mehrheit der Menschen in Deutschland hat keinen Migrations-, sondern einen Nazihintergrund. Die Auseinandersetzung mit der Schuld der Familie im Nationalsozialismus macht kritisch. Sie hilft Ausgrenzungen in unserer Gesellschaft zu erkennen und Autoritäten zu hinterfragen. Das sind Fähigkeiten, die Demokratien unbedingt brauchen. Die AfD und ihr Umfeld stört sich daran.
Die Zeit im nationalsozialistischen Deutschland war unmenschlich und entwürdigend, das konnte niemand übersehen. Dazu mussten die Menschen damals nicht einmal in der NSDAP gewesen sein. Auch die Vareler Feuerwehr war am 9. November an der brennenden Synagoge. Die Feuerwehrmänner schauten dem Brand aber tatenlos zu. Sie beschränkten sich – wie an den anderen Tatorten der Synagogenbrandstiftungen in Deutschland – darauf, die in der Umgebung befindlichen Häuser »deutscher Volksgenossen« zu schützen. Auch diese Menschen spielten eine Rolle in der Vernichtung.
Es ist schmerzhaft sich mit der unmittelbaren Schuld der Familie auseinander zu setzen. Denn die schrecklichen Zahlen von millionenfachen Morden sind dann nicht mehr abstrakt. Sie werden viel nahbarer. Die Aufarbeitung muss in das private Umfeld rücken, denn dann wird der Schrecken der NS-Diktatur begreifbarer. Kurt ist ein Negativbeispiel. Durch ihn weiß ich, wie aus einem normalen Bürger ein Täter wurde. Meine Recherche hat damals eine Diskussion in meiner Familie angestoßen. Ich stieß erst auf Ablehnung. Mir wurde vorgehalten, dass ich unsere Familie öffentlich schlecht rede. Aber letztlich setzte sich die Erkenntnis durch. An dem Abend am 9. November 2018 stand ich nicht allein vor dem Gedenkstein. Meine ganze Familie kam mit. .
Martin Wähler ist Gewerkschaftssekretär und beim Aktionsbündnis »widersetzen« aktiv.