21. August 2023
Wenn es nicht gerade um elitäre Prestigeprojekte geht, kürzt der neoliberale Staat besonders gern bei Kultureinrichtungen. Das schränkt vor allem den Zugang zu Kultur für ärmere Menschen ein.
»Kultur(politik) dient als Instrument, um nationale Identität zu stiften. Sozialismus und DDR: Hat’s nie gegeben. Preußen, Kaiserzeit und koloniale Raubkunst: Nice, braucht ein Comeback.«
Eine Krone – eine riesige, vergoldete Krone. Zwei mal zwei Meter groß thront sie auf einer acht mal acht Meter großen Kartusche vor einer barocken Schlossfassade. In den Fernsehnachrichten beobachte ich, wie die Kartusche mit ihrem vergoldeten Wappen vor grau-blauem Himmel an einem Kran emporgezogen wird. Gold über Gold, so glänzt es nun am Eingang des Humboldt-Forums in Berlin, damit auch die letzte Schlossbesucherin versteht: Reaktionäre Kulturpolitik scheut keinen Kitsch. Und keine Kosten.
Das Humboldt-Forum mit seinen unterschiedlichen ethnologischen Museen befindet sich nicht in irgendeinem Schloss: Es ist die Rekonstruktion der Fassaden, der Kuppel und zweier Höfe des kaiserlichen Originals aus dem 15. Jahrhundert – und zwar dort, wo vor fünfzehn Jahren unter Protest der Palast der Republik, ein DDR-Prachtbau und Kulturzentrum, abgerissen wurde. Die Architektur des Berliner Stadtzentrums soll das neue bundesdeutsche Selbstverständnis widerspiegeln, auch im Umgang mit der eigenen Geschichte – Kultur(politik) dient als Instrument, um nationale Identität zu stiften. Sozialismus und DDR: Hat’s nie gegeben. Preußen, Kaiserzeit und koloniale Raubkunst: Nice, braucht ein Comeback. Das ist ein Kulturkampf von rechts, der seit Jahren von Dresden über Potsdam bis nach Berlin mit allen Mitteln geführt wird – vor allem mit viel Geld.
Die zwei Millionen Euro teure Kartusche sei aus privaten Spenden finanziert worden, lese ich später, und 30.000 Stunden Arbeit steckten darin. Ich will 30.000 Stunden lang schreien. Ich erinnere mich daran, wie ich schon einmal mit Blick auf diese berüchtigte Schlossfassade vor Wut schreien wollte. Damals, im Dezember 2020, feierte das Humboldt-Forum in der Pandemie seine (digitale) Eröffnung. Die notwendigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen für die planmäßige Fortführung der Baumaßnahmen ließen laut Bundesinnenministerium die Gesamtkalkulation von 644 Millionen auf 677 Millionen Euro steigen. Ich schrieb daraufhin ein Essay, in dem ich mich fragte, mit welcher Rechtfertigung die politisch Zuständigen weitere 33 Millionen Euro für die Eröffnung eines sowieso umstrittenen Bauprojektes aus dem Ärmel schüttelten – in einer Zeit, in der Kunstschaffende ihre Existenzgrundlage verloren und mit halbgaren staatlichen Hilfen abgespeist wurden.
Heute, im April 2023, thront eine vergoldete Krone auf diesem Schloss. In einer Zeit, in der sich immer weniger Menschen überhaupt einen Museumsbesuch leisten können. Und, was mir noch ungeheuerlicher scheint: Es gibt Menschen, die so viel Geld besitzen, dass sie 2 Millionen Euro für ihre vergoldete Preußenromantik mit Zacken locker haben. Das Humboldt-Forum ist der (leider wieder) lebende und funkelnde Beweis dafür, dass auch in der deutschen Kultur, die seit Jahrzehnten mit Kürzungen und Krisen Schlagzeilen macht, nicht das Fehlen finanzieller Mittel das Problem ist – sondern in wessen Händen sie liegen und wer mit welchen Prioritäten über ihren Einsatz entscheidet.
»Umverteilung alleine reicht nicht, um soziale Ungleichheit auszuhebeln – und schon gar nicht freiwillige Umverteilung.«
Das erinnert mich an eine weitere Geschichte, die die Autorin und geschätzte Kollegin Mareice Kaiser kürzlich auf Instagram teilte: Im Oktober veröffentlichte sie ihr Buch Wie viel, in dem sie von der Bedeutung, dem Fehlen und der ungleichen Verteilung von Geld erzählt. Ganz in diesem Sinne stellt sie bei ihren Lesungen einen Umverteilungstopf auf. Das Publikum wird gebeten, dort Spenden zu hinterlassen, um anderen Menschen mit weniger Geld ein kostenloses Exemplar von Wie viel zu ermöglichen – eine schöne Geste praktischer Solidarität.
Und doch löst die Idee bei mir Unbehagen aus. Denn hier wird im Grunde das bestätigt und als ausweglos betrachtet, was doch eigentlich kritisiert wird: die ungleiche Verteilung von Ressourcen, die Zugang zu kulturellen Gütern verschaffen. Daher muss der gute Wille einzelner Menschen herhalten – und dieser ist ebenfalls alles andere als gleich verteilt: Auf Instagram berichtete Mareice Kaiser, dass bei einer ihrer Lesungen ein Multimillionär anwesend gewesen sei. Und der Umverteilungstopf hinterher war so leer wie zuvor. Das Beispiel zeigt: Umverteilung alleine reicht nicht, um soziale Ungleichheit auszuhebeln – und schon gar nicht freiwillige Umverteilung.
Geld für Bücher umzuverteilen, scheint kein abwegiger Gedanke, schaut man sich die aktuellen Entwicklungen auf dem Büchermarkt an. Denn im Inflationsjahr 2022 sind die Umsätze durch Bücherkäufe um 2,1 Prozent zurückgegangen. Auch der Buchhandel steckt in der Krise. Die Kundschaft würde auch beim Buch »jeden Euro zweimal umdrehen«, erklärte Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Januar 2023.
Der Preis für ein Buch kann je nach Art und Verlag variieren. Im Allgemeinen liegen die Preise für Taschenbücher zwischen 8 und 15 Euro, während gebundene Bücher in der Regel zwischen 20 und 30 Euro kosten. Fach- oder Lehrbücher können jedoch deutlich teurer sein. Bücher zu kaufen, ist bereits für Menschen mit mittlerem Einkommen eine kostspielige Angelegenheit – für Menschen, die Hartz IV beziehungsweise das sogenannte Bürgergeld beziehen, hingegen ein Luxus. Der Regelsatz für Freizeit, Unterhaltung und Kultur liegt hier nämlich bei monatlich 48,98 Euro. Das reicht, wenn überhaupt, für zwei Bücher. Und wer will schon sein ganzes Geld für Bücher ausgeben?
Wenn die Grundbedürfnisse des Überlebens – Essen, Heizen oder Wohnen – mit kulturellen Bedürfnissen konkurrieren müssen, ziehen letztere nachvollziehbarerweise den Kürzeren. Ohne den Theaterbesuch lässt es sich besser aushalten als mit einem knurrenden Magen. Und das war schon vor den explodierenden Preisen für viele arme Menschen in diesem Land Realität, insbesondere für Kinder und Jugendliche: In repräsentativen Umfragen geben bis zu 90 Prozent armer Familien an, aus Kostengründen nicht mit ihren Kindern an kulturellen Angeboten teilnehmen zu können. Eine Bertelsmann-Studie aus 2018 kommt zu folgenden Ergebnissen:
Arme Kinder und Jugendliche haben weniger Zugang zu kulturellen Angeboten als Gleichaltrige aus nicht-armen Familien. So besuchen beispielsweise nur 30 Prozent der ersteren kulturelle Einrichtungen wie Museen oder Theater, während es bei den letzteren 60 Prozent sind. Auch beim Musik- und Kunstunterricht gibt es Unterschiede. Während 48 Prozent der nicht-armen Kinder und Jugendlichen Musik- oder Kunstunterricht besuchen, sind es bei den armen nur 20 Prozent. Arme Kinder und Jugendliche haben seltener ein eigenes Zimmer und weniger Platz zum Lernen und Spielen. Auch das kann sich negativ auf ihre kulturelle Teilhabe auswirken. Die Kosten sind ein wichtiger Faktor für den Zugang zu kulturellen Angeboten. Viele arme Familien können sich keine teuren Konzert- oder Theaterkarten leisten und haben oft auch kein Geld für Anfahrts- oder Verpflegungskosten.
Zurück zu den Büchern: Denn während ich diesen Text schreibe, höre ich die Stimme einer Freundin in meinem Kopf, die einwenden würde: Wozu überhaupt Bücher kaufen? Insbesondere meine Bekannten aus dem Ausland schwärmen von den vielen öffentlichen Bibliotheken in Deutschland und den geringen Nutzungsgebühren. Laut dem Deutschen Bibliotheksverband gibt es insgesamt rund 9.800 öffentliche Bibliotheken. 59 Prozent der Bevölkerung ab vierzehn Jahren haben im Jahr 2017 eine Bibliothek besucht. Die Bibliotheken müssen oftmals als Argument herhalten, wenn es darum geht, die Ehre deutscher Kulturpolitik zu retten.
Der Haken: Bibliotheken sind auf kommunaler Ebene organisiert und werden in der Regel von den Städten und Gemeinden finanziert, aber auch zum Teil durch Fördermittel des Bundes sowie private Spenden. Das bedeutet, dass die Finanzierung öffentlicher Bibliotheken je nach Region und Träger unterschiedlich ausfällt. Gerade auf dem Land stehen Menschen nicht selten vor verschlossenen Bibliothekstüren.
Und auch Bibliotheken sind in den vergangenen Jahren von den Kürzungen in den Kulturetats der Länder und Kommunen betroffen: In einer aktuellen Mitgliederumfrage des Deutschen Bibliotheksverbands berichtet mehr als jede zehnte Bibliothek von Kürzungen. Mehr als 5 Prozent geben an, dass sie unter Druck stehen, ihre Einnahmen zu steigern.
»Wenn der Handel in der Krise ist, werden die Inhalte homogener. Die in Parlamentsreden und bei Museumseröffnungen symbolisch beschworene kulturelle Vielfalt im Land wird dann zu einem Störfaktor, der dem stabilen Profit auf einem umkämpften Literaturmarkt im Wege steht.«
Abgesehen davon: Was würde tatsächlich passieren, wenn nun alle Menschen ihre Bücher in Bibliotheken ausleihen würden? Wenn niemand mehr Bücher kaufen würde? Wäre die Krise dann abgewendet? Ich wünsche mir wirklich eine Welt, in der niemand mehr Bücher kaufen müsste, sondern alle Menschen freien Zugang zu ihnen hätten. In der Gegenwart hieße das jedoch leider, dass schlicht keine Bücher mehr geschrieben würden. Zumindest für den größten Teil der Bücher auf dem Markt wäre das so. Denn Bücher werden nicht nur gelesen, sondern zuallererst geschrieben. Und die, die schreiben, arbeiten nicht selten prekär und in finanzieller Abhängigkeit von Verlagen, die gute Verkaufszahlen auf einem brutalen Büchermarkt zur Bedingung machen.
In Zeiten von knappen Budgets, Papierkrise und Konsumflaute würden auch die Verlage eher auf sichere Titel setzen, so Schmidt-Friderichs vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Das Abseitige, Mutige, Innovative komme dann manchmal zu kurz. Dabei haben es linke, feministische, anti-rassistische Inhalte auf dem elitären Buchmarkt sowieso schwer. In der Konsequenz bedeutet das: Wenn der Handel in der Krise ist, werden die Inhalte homogener. Die in Parlamentsreden und bei Museumseröffnungen symbolisch beschworene kulturelle Vielfalt im Land wird dann zu einem Störfaktor, der dem stabilen Profit auf einem umkämpften Literaturmarkt im Wege steht.
Davon sind die öffentlichen Bibliotheken nicht ausgenommen. Auch hier ist der Neoliberalismus zu spüren. So setzt die Politik in den vergangenen Jahren verstärkt auf Privatisierung und den Anschluss an den freien Markt. Kritische Stimmen befürchten, dass sich diese Entwicklung auf die Inhalte auswirken könnte. 2016 begann die Berliner Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) etwa damit, ihre eigene Medienbeschaffung outzusourcen. Für den Bestandsaufbau waren zuvor fast ausschließlich Fachkräfte der ZLB zuständig. 2018 übernahm ein Tochterunternehmen der Buchhandelskette Hugendubel einen Großteil der Arbeit. Die Gewerkschaft Verdi wie auch unterschiedliche betroffene Berufsverbände schlugen Alarm: Sie befürchten einen unangemessenen Einfluss auf die Medienauswahl, der mehr dem Unternehmen dient als dem öffentlichen Bildungsauftrag.
Die teilweise Privatisierung der öffentlichen Bibliotheken fügt sich nahtlos in die Neoliberalisierungs- und Sparpolitiken im Kulturbetrieb seit den 1990er Jahren. Kulturpolitik wird immer mehr zu Elitenverwaltung. In Berlin wurde seit den 1990er Jahren bis heute bei den meisten Theatern massiv gekürzt, während die Mittel an anderen Stellen konzentriert wurden: bei den drei Opernhäusern, dem Deutschen Theater und der Volksbühne – die »Prestige-Objekte« der jungen Kulturhauptstadt. 1993 entfielen noch gut die Hälfte der Zuschüsse auf diese Häuser, rund zehn Jahre später waren es bereits zwei Drittel. Das »Hoch« in Hochkultur steht bekanntermaßen nicht nur für hoch angesehen – sondern vor allem für hoch subventioniert.
Gleichzeitig beschloss der Berliner Senat im September 2002 den Verkauf des Theaters des Westens an einen niederländischen Musical-Konzern. Werden öffentliche Einrichtungen privatisiert und staatliche Ausgaben reduziert, wird in der Regel als nächstes der Zugang zu kulturellen Angeboten eingeschränkt, vor allem für Arme. Denn die öffentliche Kontrolle über die kulturellen Einrichtungen nimmt ab und private Interessen rücken in den Vordergrund. Und diese können, wie im Falle des Humboldt-Forums, goldene Kronen für wichtiger erachten als bezahlbare Eintrittspreise. Es folgt eine Vermarktlichung von Kultur, denn die Frage nach der Profitabilität macht Menschen, die Kultur nutzen, zu Konsumierenden. Und diese können wirtschaftlich gesehen attraktive Zielgruppen sein oder eben nicht. Kulturelle Teilhabe und Mitgestaltung für alle – das schreibt sich die bundesdeutsche Kulturpolitik seit den 1970er Jahren auf die Fahne – bleibt dann zweitrangig.
Die Zahl der Kunst- und Kulturschaffenden in Deutschland hat sich zwischen 1993 und 2011 verdoppelt. Heute umfasst der Kultur- und Kreativsektor rund 1,8 Millionen Erwerbstätige, davon über 258.000 Menschen, die freiberuflich und selbstständig arbeiten. Hinzu kommen 260.000 Unternehmen.
Seit dem Jahr 2000 ist in diesem Zusammenhang zunehmend von »Kreativwirtschaft« die Rede. Und mit ihr steigt schon damals ein anderer Begriff in den Ring: das »kreative Prekariat«, das nun mit einem Maximum an Selbstausbeutung und Flexibilität um sein Überleben auf dem Kulturmarkt kämpft – Menschen, die Kunstwerke schaffen, Musik produzieren, Bücher schreiben, Designs erstellen oder die Seiten der Zeitungen und Zeitschriften füllen.
Deren Prekarität wird gerade in urbanen Räumen wie Berlin zu einem hippen Markenzeichen. »Der Distinktionsgewinn der Teilhabe am symbolischen Kapital der Stadt als ›aufregendste Kulturmetropole‹ bildet die soziale Legitimation für die ökonomische Ausbeutung«, so Marc Grandmontagne, ehemaliger Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft. Der US-amerikanische Ökonom Richard Florida argumentiert in seinem Buch The Rise of The Creative Class, dass diese neue kreative Klasse eine wichtige Rolle bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Städten und Regionen spielt: Ihre Mitglieder schaffen sich ihre eigenen Arbeitsplätze, ziehen andere Kreative und Unternehmen an. Profitabel ist das vor allem für Großstädte, die mit der Selbstvermarktung als angesagte, kreative, tolerante Stadt Kapital anlocken.
In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder eine Frage diskutiert – meist nach ein, zwei Gläsern Schnaps: Sind wir Kreativen eigentlich Teil der arbeitenden Klasse? Irgendwie lebe er ja schon prekär, antwortete mir ein Freund im Sommer auf einer Kneipenbank. Er ist Videojournalist und in der Redaktion einer Produktionsfirma angestellt, nach langen Jahren der Unsicherheit und Selbstständigkeit. Sein Gehalt sei nicht hoch, von dem Lebensstandard seiner Eltern könne er nur träumen. Aber eigentlich sei er doch eher ein Kapitalist, fügte er verschämt hinzu, immerhin verfüge er durch seinen Job über ein großes kulturelles Kapital, anders als seine klassisch arbeitsmigrantischen Eltern. »Junge, Kreativität und kulturelles Kapital hin oder her – du hast einen Chef, der dich ausbeutet. Du bist ganz bestimmt kein Kapitalist«, entgegnete ich und verfluchte innerlich Pierre Bourdieu, der als Soziologe den Begriff des kulturellen Kapitals prägte. Mein Freund schien nicht wirklich überzeugt.
Ja, vermutlich schmeichelt eher das Selbstbild, ein kultureller Kapitalist zu sein anstatt eines prekären, kreativen Arbeiters der im Namen des großen Berliner Lifestyle-Versprechens ausgesaugt wird. Dabei müsste spätestens die Corona-Pandemie den letzten Beweis erbracht haben, dass man gerade in Krisenzeiten dieses kulturelle Kapital weder investieren, noch sich davon etwas kaufen kann – geschweige denn die Miete zahlen.
Gerade für viele freie Kulturschaffende, die oftmals sowieso am Existenzminimum arbeiten und leben, war die Pandemie eine existenzielle Bedrohung. Viele sind in den letzten Jahren als günstige Arbeitskräfte auf den freien Markt ausgewichen, um das Geld für die Miete reinzuholen, weil sie weder Rücklagen hatten, noch von den Soforthilfen des Bundes überleben konnten. Und mehrfachmarginalisierte Kulturschaffende waren auch in der Corona-Krise mehrfachbelastet. Geflüchtete oder behinderte Menschen unter ihnen fielen ebenso häufig aus dem Raster solcher Zuschüsse und Soforthilfen heraus, wie ihre Arbeit bereits von der Künstlersozialkasse nicht anerkannt wird.
Die Soforthilfen wurden einigen Kunstschaffenden im Nachhinein sogar zum Verhängnis: Statt Geld gab es Anzeigen. Weil die Soforthilfen für Selbstständige aus Mitteln des Bundes und des Landes nicht für private Lebenshaltungskosten vorgesehen waren – wo sie jedoch dringend gebraucht wurden –, sondern nur für betriebliche Zahlungsverpflichtungen, bekamen Dutzende von ihnen Vorladungen zur Polizei. Der Vorwurf: Subventionsbetrug. Selbst in der Pandemie hing die deutsche Bürokratie den Prekären an der Gurgel. Von kulturellem Kapital lässt sich leider auch keine Anwältin bezahlen.
Gleichzeitig explodierten Teile des globalen Kunstmarkts: Start-ups wie Singulart, die als Online-Galerien Kunstwerke anbieten, verdreifachten in den Monaten des ersten Lockdowns ihre Verkäufe. Und in Deutschland freuten sich viele Institutionen zumindest in den ersten Pandemiemonaten über einen nie dagewesenen Geldregen aus den Fördertöpfen: Digitalisierung, hybride Konzepte, experimentelle Formate – dank Neustart Kultur, dem Kultur-Rettungsprogramm des Bundes, gab es plötzlich Geld für alles.
»Kunstschaffende, die etwa in großen Städten wie in Berlin keine Ateliers finden, weil das eine Prozent die Städte aufkauft, können keine Kunst schaffen.«
»In der Pandemie geht es uns gut«, erzählte mir 2021 ein befreundeter Filmfestivalleiter, »wir haben Angst vor dem Danach«. Dieses Danach bahnte sich schon damals an: Wöchentlich war von geplanten Kürzungen in Kulturetats zu lesen. Im Frühjahr 2022 kündigten die Frankfurter Museen etwa drastische Verkürzungen der Öffnungszeiten an – bis zu neun Stunden in der Woche. Grund sei, so Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD), das Loch, das die Corona-Pandemie in den städtischen Haushalt gerissen habe.
Im Juli 2022 kündigte die Haushaltsaufstellung des Bundeskabinetts an, Fördermittel für die Freien Darstellenden Künste zu streichen. Der Fonds Darstellender Künste kommentierte, dies bedeute perspektivisch, wichtige Förderprogramme einzustellen und im Vergleich zu den Jahren 2020 bis 2022 95 Prozent einzusparen. »Die angesichts der Corona-Pandemie und im Rahmen des Förderprogramms NEUSTART KULTUR angestoßenen reformierten Programmlinien können mit den vorgesehenen Mitteln nicht im Ansatz fortgeführt werden.«
Also wieder zurück zur prekären Normalität: Theater, insbesondere der freien Szene, und Kunstschaffende hangeln sich nun wieder von Förderantrag zu Förderantrag durch – ohne stabile Existenzgrundlage, ohne Planungssicherheit. Die staatliche Kulturförderung, die ihnen eigentlich eine Existenzalternative jenseits des freien Marktes bieten soll, funktioniert selbst nach eben jenen Mechanismen der (ideologischen) Aussortierung und des Wettbewerbs. Wer keine Förderung bekommt, kann auf dem Markt nicht überleben. Ich denke an ein Werk des rumänischen Künstlers Vlad Brăteanu. Auf einem rechteckigen, rosafarbenen gespannten Stoff steht in Großbuchstaben geschrieben: »An artist who gets no funding is no artist«.
Die Corona-Krise hätte tatsächlich der Moment eines radikalen Umdenkens in der Kulturpolitik sein müssen – mehr noch: Sie war der Beweis dafür, dass Kulturpolitik immer auch Sozial-, Arbeits- und Wohnpolitik bedeutet. Kulturschaffende, die nicht wissen, wie sie ihre Heizkosten bezahlen sollen, können keine Kultur schaffen. Kunstschaffende, die etwa in großen Städten wie in Berlin keine Ateliers finden, weil das eine Prozent die Städte aufkauft, können keine Kunst schaffen.
Die Prekarität der Arbeitenden im Kulturbetrieb und die kulturelle Armut der Menschen in dieser Gesellschaft sind zwei Seiten derselben Medaille: eines Systems in ständiger Krise, in der Kultur und Kreativität nur ein weiterer Absatzmarkt von vielen sind. In der Pandemie regte sich unter Kulturschaffenden Widerstand – der Tenor lautete: Wir wollen in der nächsten Krise nicht wieder um unsere Existenz bangen. Plötzlich diskutierten Leute, die sich zuvor nie mit Wirtschaftsfragen beschäftigt hatten, über Mindest- und Ausfalllöhne in der Kultur, über Gewerkschaften und bedingungslose Grundeinkommen, über demokratische Förderverfahren und die Unverzichtbarkeit einer freien Kulturszene, die nicht von den Spenden und Investitionen der Reichen abhängig und damit ihren Launen ausgeliefert ist.
Und die bundesdeutsche Kulturpolitik? Die hatte damals schon andere Prioritäten. Das Kompetenzzentrum der Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes schwärmte bereits 2021, Corona könnte neue »Wachstumsmärkte« ermöglichen – in der Kultur, im Bildungs- und im Gesundheitssektor. Die verheerenden Ergebnisse der Spar- und Privatisierungsmaßnahmen der vergangenen Jahre in diesen Bereichen sind allgemein bekannt.
Die beschworenen »Wachstumsmärkte« wollen keine Demokratie. Märkte wollen keinen breiten, gesellschaftlichen Diskurs über die Fragen: Wofür eigentlich Kultur? Von wem für wen? Und was gilt überhaupt als Kultur? Märkten sind alternative Kulturformen der freien Szene egal, die die herrschende Normalität, gesellschaftliche Hierarchien und nationale Selbstverständnisse angreifen. Märkte ersetzen keine Kulturpolitik, die eine breite Palette kultureller Praktiken und Initiativen fördert und unterstützt, die die Bedürfnisse und Interessen der breiten Bevölkerung widerspiegeln – und nicht die des einen Prozents in den hoch subventionierten Opernhäusern.
»Die Kulturschaffenden selbst müssen über die Infrastrukturen, Zugänge und Gelder für Kultur entscheiden – sowohl die, die mit dem Kopf arbeiten, als auch die, die mit den Händen arbeiten.«
Nicht zuletzt bedeutet Kultur mehr, als ein Theater besuchen oder ein Buch lesen zu können. Kultur ist mehr als privater Konsum. Kultur benötigt materielle wie ideelle Orte und Zeiten, in denen Menschen Wissen und Erfahrungen teilen, eine Verbindung zur eigenen Geschichte und der anderer Menschen herstellen, zu ihrem Schaffen, ihrer Arbeit, ihrer Bewegung. Orte und Zeiten, in denen sie aus der Isolation, Vereinzelung und Ohnmacht heraustreten, die viele Menschen im Alltag plagt. Orte, an denen Menschen sich als handlungsfähig und schöpferisch erfahren. Gemeinsam.
Das braucht Ressourcen, Mobilität, ökonomische Sicherheit und viel Zeit. Dieses Kulturverständnis setzt bei den materiellen Grundbedürfnissen aller Menschen an: Seien es höhere Löhne oder die Einführung des 9-Euro-Tickets, das in den drei Monaten seiner kurzen Existenz die kulturelle und soziale Teilhabe der Menschen nachweislich erhöhte.
Zugleich braucht es eine Kulturpolitik, die den unsäglichen Begriff der Teilhabe hinter sich lässt. Kultur darf und sollte nicht etwas sein, woran Menschen teilhaben können, sondern ein Bindeglied unseres sozialen Miteinanders. Kultur darf kein Kapital sein und keine Ausrede für Selbstausbeutung. Kultur darf kein Eigentum, kein Prestige und kein Absatzmarkt sein. Die Kulturschaffenden selbst müssen über die Infrastrukturen, Zugänge und Gelder für Kultur entscheiden – sowohl die, die mit dem Kopf arbeiten, als auch die, die mit den Händen arbeiten. Das hieße eine Kultur für alle, von allen gemacht und für alle.
Dafür müssen sich diejenigen, die in der Kultur arbeiten, organisieren. Einige von ihnen sind bereits organisiert und tragen die Arbeitskämpfe in die Kultur: Seien es die Bühnengewerkschaft GDBA oder auch die Menschen, die solidarisch für die öffentlichen Theater und Bibliotheken in ihren Städten und Kommunen sowie gegen Verdrängung, steigende Preise und niedrige Löhne kämpfen. Das sind Menschen, die wissen, dass für eine vielfältige, visionäre Kultur noch einige Throne zu stürzen sind – und einige vergoldete Kronen.
Dies ist ein Kapitel aus dem Sammelband GENUG! – Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen.
Şeyda Kurt ist Journalist*in und Sachbuchautor*in. Zuletzt ist das Buch HASS: Von der Macht eines widerständigen Gefühls bei Harper Collins erschienen.