02. September 2020
Um eine Entlassungswelle während der Corona-Krise zu verhindern, führte die italienische Regierung ein zeitweises Kündigungsverbot und Kurzarbeit ein. Von letzterem profitieren vor allen Dingen die Unternehmen. Zufrieden geben sie sich damit nicht.
Servicekräfte bei der Arbeit in Triest, Norditalien, 18. Mai 2020
Seit Monaten scheint jeder italienische Fernsehsender dieselbe Meldung zu bringen: die Kampagne der Arbeitgeber gegen die »übermäßig verwöhnten« Arbeiterinnen und Arbeiter. Dies zeichnete sich bereits im Frühjahr ab, als Italien als erstes europäisches Land von der COVID-19-Pandemie betroffen war. Selbst auf dem Höhepunkt der Krise lehnte der Arbeitgeberverein Confindustria die Stilllegung der Produktion nicht essentieller Güter ab, und zog es vor, weiterhin Zehntausende Beschäftigte sowie deren Familien in potenziell tödliche Gefahr zu bringen.
In den letzten Wochen hat die italienische Wirtschaftselite ihre Kampagne gegen die staatlichen Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung während der Corona-Krise intensiviert, insbesondere gegen das vorübergehende Verbot von Entlassungen, das erstmals während des Lockdowns verhängt wurde. Mit der Unterstützung von Journalisten, Ökonominnen und Kommentatoren im Rücken bemüht sich die Confindustria bei der kommenden »Umstrukturierung« der Maßnahmen um mehr Spielraum. Kurz gesagt: Die Kosten der Krise sollen auf Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern umgelegt werden.
Eine der wichtigsten Maßnahmen, die von der Regierung von Giuseppe Conte nach dem Ausbruch der Pandemie ergriffen wurden, war das Entlassungsverbot, um eine ansonsten drohende Massenarbeitslosigkeit zu verhindern. Dieser Schritt war wichtig, da Millionen von Italienerinnen und Italienern besorgt darüber waren, ob sie wegen der Begleitumstände der Pandemie in der Lage sein würden, finanziell über die Runden zu kommen. Ursprünglich sollte das Entlassungsverbot nur bis zum 31. August gelten, wurde aber in den letzten Tagen bis Ende Oktober verlängert.
Tatsächlich geht es der italienischen Regierung jedoch nicht nur darum, für die Interessen der Beschäftigten einzustehen. Da die Maßnahme mit einem massiven Ausbau der Lohnausgleichskasse Cassa Integrazioni Guadagni (CIG) verbunden war, ging sie mit einer drastischen Senkung der Arbeitskosten für die Unternehmen einher; in der Tat hat der italienische Staat durch diesen »Fonds zur Lohnintegration« mehrere Milliarden Euro für die Auszahlung der Gehälter der Beschäftigten aufgewendet. So konnte das Beschäftigungsniveau trotz des Produktionsrückgangs aufrechterhalten werden – obwohl in einigen Sektoren noch nicht einmal feststeht, ob sich die Pandemie überhaupt negativ auf den Betrieb der Unternehmen ausgewirkt ha.
Die Unternehmen sind also die ersten, die von diesen staatlichen Mitteln profitieren und darüber Gewinne erzielen. Laut eines Berichts der Banca d'Italia und des Sozialversicherungsträgers Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS), der am 29. Juli veröffentlicht wurde, haben etwa 51 Prozent der italienischen Unternehmen, in denen etwa 40 Prozent der Beschäftigten im Privatsektor angestellt sind, auf die CIG zurückgegriffen. Das zeigt, dass dabei vor allen Dingen die Unternehmen – und nicht etwa die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – subventioniert wurden. Im Schnitt sparten Unternehmen jeden Monat etwa 1.400 Euro pro Arbeitnehmerin.
Während Privatunternehmen durch die staatliche Sozialhilfe Milliarden gespart haben, mussten die Arbeiterinnen und Arbeiter rund 27 Prozent ihres Bruttoeinkommens einbüßen. Die CIG zahlt zwar Lohnentschädigungen in der Höhe von bis zu 80 Prozent, aber die Zahlungen übersteigen oft nicht die gesetzlich vorgeschriebene Mindesthöhe von 1.000 Euro pro Monat. Hinzu kommt, dass etwa ein Viertel der Firmen, die CIG in Anspruch nehmen, bei der Schließung im Frühjahr überhaupt keine Einbußen bei ihren Einnahmen zu verzeichnen hatten. Die Beschäftigten arbeiteten also für niedrigere Löhne wie gewohnt weiter – so auch, als den Firmen staatliche Subventionen in Milliardenhöhe gewährt wurden.
Diese Regelung galt für Arbeiterinnen und Arbeitern mit unbefristeten Verträgen. Diejenigen mit befristeten Verträgen wurden nach Hause geschickt, ohne dass ihre Verträge verlängert wurden. Letztere bilden einen nicht zu vernachlässigenden Teil der »Reservearmee« der italienischen Industrie: Daher verwundert es nicht, dass ihr Schicksal nun zum Schlachtruf derjenigen wird, die ein Ende des Entlassungsverbots fordern, denn damit würde man, so die Behauptung, die krisengeschüttelte Jugend ihrer Perspektiven berauben.
Doch die Logik, aus denen solche Ansprüche erwachsen, ist alles andere als selbsterklärend. Selbst die marktwirtschaftlich orientierte OECD bewertet die verschiedenen Maßnahmen, die die Regierungen in den letzten Monaten ergriffen haben, moderater als die italienischen Neoliberalen. Kürzlich veröffentlichte die OECD einen Bericht zu diesem Thema, in dem zu lesen war, dass die Arbeitsplätze von rund fünfzig Millionen Beschäftigten durch Programme erhalten wurden, die eine drastische Senkung der Arbeitskosten für Unternehmen vorsahen. Ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit konnte somit verhindert und der Einkommensrückgang, der Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern drohte, abgemildert werden.
In diesem OECD-Bericht wird die Idee, dass das Entlassungsverbot auch über die Sperrfrist hinaus verlängert werden könnte, nicht als großes Unglück für die Interessen des Marktes dargestellt. Da staatliche Programme zur Erhaltung von Arbeitsplätzen vor allem den Unternehmen helfen, empfiehlt die OECD, diese Hilfsprogramme lediglich auf die Arbeitsplätze zu beschränken, die die Krise wahrscheinlich auch »überleben« werden. Im Gegensatz zu den Stimmen der italienischen Arbeitgeberverbände und der neoliberalen »Reformer« des Arbeitsmarktes, erscheint einem die Position der OECD wie ein Aufruf zur Vernunft.
Den Typus des neoliberalen Reformers verkörpert besonders Tito Boeri – ein ehemaliger Vorsitzender des INPS und Professor für Arbeitsökonomie an der privaten Wirtschaftsuniversität Luigi Bocconi in Mailand. Ihm zufolge sei das im März verhängte Entlassungsverbot der Grund, weshalb jüngere Menschen in Massen aus Italien emigrieren würden. In einem Leitartikel, der in der wirtschaftsliberalen Tageszeitung La Repubblica veröffentlicht wurde, behauptet Boeri sogar, das Entlassungsverbot würde »jeden verdammen, der heute in den Arbeitsmarkt eintreten will«, und wäre letztlich »eine ermunternde Aufforderung an die jungen Leute, das Land zu verlassen«.
Auch wenn die jüngere Bevölkerung tatsächlich schwer von der Krise betroffen ist, so ist sie nicht erst seit gestern in einer prekären Situation. Seit Ende der 1990er Jahre sind insbesondere junge Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine Reihe von Arbeitsmarktreformen trotz ihrer Erwerbstätigkeiten von Armut betroffen. Die Reformen trugen dazu bei, die Deindustrialisierung voranzutreiben, indem man die Spezialisierung der italienischen Wirtschaftszweige auf die Dienstleistungsbranche (wie etwa den Einzelhandel, die Gastronomie oder den Tourismus) verschob – davon profitierten vor allem die Unternehmen.
Es kommt nicht von ungefähr, dass es sich dabei um Branchen handelt, in denen seit der Wirtschaftskrise von 2008 vermehrt neue Arbeitsplätze geschaffen wurden – es sind dieselben Branchen in denen junge Erwerbstätige am stärksten überrepräsentiert sind. Boeris Verweis auf die Italienerinnen und Italiener, die auswandern, um »wegen des Entlassungsverbots« anderswo Arbeit zu suchen, ist kaum ernst zu nehmen, wenn man bedenkt, dass seit 2002 fast zwei Millionen den italienischen Süden verlassen haben, um auszuwandern. Aber auch der »wohlhabende, produktive« Norden ist von Abwanderung betroffen. Seit den 1950er Jahren ist die Abwanderung nicht mehr so hoch gewesen.
Doch in Boeris Worten spiegelte sich nicht nur eine technokratische Haltung, sondern auch die politische Position eines Teils der Regierungskoalition. Solche Ansichten werden auch von einflussreichen politischen Persönlichkeiten der Demokratischen Partei, wie Tommaso Nannicini (Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Luigi Bocconi und Präsident der Kommission für Arbeit im italienischen Senat) und Wirtschaftsminister Roberto Gualtieri geteilt. Ähnliche Positionen vertritt auch die vom ehemaligen Premierminister Matteo Renzi gegründete Partei Italia Viva und außerhalb der Regierung die rechtsnationale Fratelli d'Italia unter der Führung von Giorgia Meloni.
In der Tat sind Boeris Äußerungen in erster Linie ideologischer Natur, sie stimmen aber auch mit dem derzeitigen Machtgleichgewicht überein, das sich während der Bewältigung der Krise abzeichnete. Dabei wurde den Unternehmen durch Lohnabwertung unbegrenzte Freiheit bei der Umsetzung der anstehenden Prozesse der Umstrukturierung gewährt (so etwa im Angriff auf die Löhne, Arbeitszeiten, Beschäftigungsniveaus oder der Organisation der Arbeitsprozesse selbst).
Folgt man dieser Perspektive, so fällt es schwer, dem Versuch, die Jungen und Arbeitslosen gegen ältere Beschäftige mit stabilen Verträgen gegeneinander auszuspielen, etwas entgegenzusetzen. Die Tatsache, dass Boeri solche Behauptungen wieder aufgreift, fällt in einem Land wie Italien besonders auf, wo seit den 1990ern im Zuge der Liberalisierung des Arbeitsmarktes nicht nur Arbeitsrechte angegriffen und Löhne gekürzt wurden, sondern auch unbezahlte Arbeit institutionalisiert wurde. In den letzten Jahren haben circa dreihunderttausend Menschen – die etwa als Praktikantinnen, Praktikanten und Lehrlinge arbeiteten – die Gier der Arbeitgeber zu spüren bekommen. Entlohnt wird ihre Arbeit, wenn sie »Glück haben«, mit gerade einmal 400 Euro im Monat, ohne dabei rechtlich abgesichert zu sein oder überhaupt als Arbeitskräfte betrachtet zu werden.
Boeri versuchte bereits, diese Offensive in die Vergangenheit zu projizieren – und zwar mit der lächerlichen Behauptung, dass das Entlassungsverbot gegen die italienische Verfassung verstoße. Doch im Gegensatz zu Boeris Behauptung ist eben gerade die »Liberalisierung« des Arbeitsmarktes der letzten drei Jahrzehnte verfassungswidrig. So verkündet etwa Artikel 36 der Verfassung, dass »die Arbeiter das Recht auf eine Vergütung haben, die der Quantität und Qualität ihrer Arbeit entspricht und in jedem Fall so beschaffen ist, dass sie und ihre Familien ein freies und menschenwürdiges Leben führen können«. Dies trifft auf die bereits erwähnten neuen Arbeitsverträge offensichtlich nicht zu.
Artikel 1 erklärt Italien zur »demokratischen Republik, gegründet auf dem Fundament der Arbeit«; Artikel 3 legt fest, es sei die »Pflicht der Republik, diejenigen sozioökonomischen Hindernisse zu beseitigen, die die Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger einschränken und dadurch die volle Entfaltung des menschlichen Subjekts und die wirksame Beteiligung aller Arbeiter an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation des Landes behindern«. Die Verträge – und insbesondere auch die nicht vertraglich geregelten Arbeitsplätze –, die den Beschäftigten das Recht auf Krankengeld und Urlaub verweigern, sowie all die Schritte, die das Kräfteverhältnis zugunsten des Kapitals verschieben und die Löhne kürzen, stehen in klarem Widerspruch dazu.
Die aus dem Widerstand gegen den Faschismus hervorgegangene italienische Verfassung sieht, ganz im Gegensatz zu Boeris Position, sogar vor, dass Privateigentum enteignet werden kann, wenn das dem Interesse der Allgemeinheit dient. Doch die Strategie des politischen Mainstreams – von den Liberaldemokraten ebenso wie von Matteo Salvinis rechtsextremer Lega Nord – bildet einen starken Kontrast dazu. Denn ihr Anliegen ist es, das Verbot der Entlassungen aufzuheben, damit die Unternehmen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit »flexibleren« Verträgen und niedrigeren Löhnen einstellen können. Sie sind sich ebenfalls in der Forderung einig, dass es den Unternehmen erlaubt sein sollte, wiederholt befristete Verträge auszustellen – auch nach mehr als zweijähriger Betriebszugehörigkeit – ohne dafür eine Begründung vorlegen zu müssen.
Das steht im Einklang mit dem sogenannten »Decreto Sacconi« der Berlusconi-Regierung aus dem Jahr 2001. Dieses verringerte die Löhne junger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die unmittelbar nach der Reform in den Arbeitsmarkt eingetreten waren, was zu einem Anstieg der Prekarität führte. Genau das fordert auch der Arbeitgeberverband, der behauptet, dass ein »starrer« Arbeitsmarkt die Investitionen und den wirtschaftlichen Aufschwung bedrohen würde – tatsächlich verbirgt sich hinter dieser Forderung lediglich der Versuch, die Krise zu den eigenen Gunsten zu wenden. Solche Behauptungen sind in Italien, und auch anderswo recht verbreitet, obwohl sie sich faktisch nicht belegen lassen und sowohl durch theoretische als auch durch empirische Forschung diskreditiert wurden.
Seit den 1990ern ist in Italien, wie überall im Westen, der Anteil der Löhne im Verhältnis zu den Gewinnen ähnlich schnell zurückgegangen wie die »Arbeitsreformen« vorangeschritten sind. Zur »Rettung des Landes auf den Märkten« während der Wirtschaftskrise von 1992 konzentrierten sich die Reformen auf Lohnkürzungen: zuerst mit der Abschaffung der sogenannten Scala Mobile (ein Mechanismus, der die Löhne an die Inflationsrate anpasst), dann mit der Massenderegulierung der Arbeitsverträge. Das Mantra, dass »der Abbau von Arbeitsrechten und Arbeitsschutz mehr Beschäftigung schaffen wird« hat sich als unverhohlene Lüge entlarvt. Bis 2019 hat sich die Gesamtzahl der Arbeitsstunden immer noch nicht auf das Niveau von 2008 angeglichen, auch wenn die Gesamtzahl der Erwerbstätigen gestiegen ist.
Dies führt auch die strukturelle Unterbeschäftigung Italiens vor – ein Land, in dem die Rate der unfreiwilligen Teilzeitbeschäftigung im Jahr 2019 stolze 64,1 Prozent erreichte; der europäische Durchschnitt liegt bei 23,4 Prozent. Tatsächlich sind ein rigider Arbeitsmarkt und ein hoher Grad gewerkschaftlicher Organisation gut für die Wirtschaft. Letztlich sind Arbeitskämpfe das einzig wirksame Gegenmittel gegen einen Kapitalismus, der nicht sonderlich an Investitionen und Innovationen interessiert ist und Gewinne vornehmlich durch eine verstärkte Ausbeutung der Arbeitskräfte erzielen kann.
Doch das Narrativ des Arbeitgebervereins Confindustria deckt sich nicht mit der Realität, das ist sogar den Unternehmen selbst bewusst. Die Behauptung, dass Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt ein Antrieb für Investitionen sei und damit zu einer höheren Wettbewerbsfähigkeit führen würde, wird oft von dem Argument flankiert, dass man vor allen Dingen mehr Ressourcen für die Ausbildung der jüngeren Bevölkerungsschichten und die Umschulung der älteren Beschäftigten aufwenden müsse, um den bevorstehenden Veränderungen adäquat begegnen zu können. Schier endlos wird behauptet, dass die jungen italienischen Arbeiterinnen und Arbeitern nicht über die notwendigen Fähigkeiten für »die Herausforderung der Zukunft« verfügen würden, damit sind vor allem neue Jobs gemeint, für die man ein gutes technologisches Verständnis mitbringen sollte.
Diese Thesen sind nicht stichhaltig: Eine kürzlich durchgeführte Studie der Statistikbehörde ISTAT belegt, dass zwischen 2016 und 2018, einer Periode großer monetärer Anreize für die »Industrie 4.0«, nur weniger als 10 Prozent der Unternehmen in Technologien des Internets der Dinge oder der Automatisierung von Produktionsprozessen investiert haben. Ganze 45 Prozent gaben an, sie hätten Investitionen getätigt, um ihren Internetanschluss zu verbessern. Dies sind zweifellos Anzeichen dafür, dass die italienische Produktion rückläufig ist und man noch weit entfernt ist, menschliche Arbeiterinnen und Arbeiter durch die zunehmende Automatisierung zu ersetzen. Aus derselben Studie geht auch hervor, dass sich positive Veränderungen in der Berufsstruktur vor allem auf Arbeitsplätzen mit technisch-operativen und nicht spezialisierten Aufgaben vollzogen haben. Das Gerede von der angeblich dringend notwendigen technischen »Ausbildung« der italienischen Arbeitskräfte erweist sich somit als zweckdienliches Narrativ zur Rechtfertigung der fortschreitenden Lohnsenkungen. Sich dem entgegenzustellen, ist ein Akt demokratischer, politischer und intellektueller Hygiene.
Die Arbeitgeberfront wird währenddessen immer reicher und aggressiver. Man lässt ihr freie Hand bei den internen Umstrukturierungen und einen exklusiven Zugriff auf die von der italienischen Regierung und dem Europäischen Konjunkturfonds eingesetzten Mittel. Die Tatsache, dass das Kapital für seine eigenen Interessen kämpft, und zwar in zunehmend aggressiver Weise, sollte uns nicht überraschen. Doch wir müssen uns fragen, wie man auf der anderen Seite der Barrikade – die die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter verteidigen sollte – darauf reagieren wird.
Im Moment scheinen die Gewerkschaften und die eher schwache radikale Linke Italiens keine Antwort darauf zu wissen – sie gehen einfach fest davon aus, dass das Entlassungsverbot verlängert wird, während sie alles andere über sich ergehen lassen. Doch mit einer solchen Abwehrstrategie wird man der immer gefährlicher werdenden Lage nicht standhalten können, zumal sie auch nur einen Teil der italienischen Arbeiterschaft betrifft und die verwundbarsten unter ihnen ausklammert. Nach den Jahrzehnten des gewerkschaftlichen Rückgangs braucht es eine Vision, die die vielen verschiedenen Fronten der Arbeiterschaft vereinen kann.
Vor allem müssen wir für diejenigen, die aktuell von wirtschaftlicher Unsicherheit betroffen sind, in die Offensive gehen – indem man gegen unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung, Akkordarbeit, befristete Arbeitsverträge, »Ausbildungsverhältnisse«, unbezahlte Arbeit und ungesicherte Arbeitsplätze vorgeht. Ansonsten wird sich eine soziale Lage normalisieren, die den Zusammenbruch der italienischen Gesellschaft und der Demokratie selbst herbeiführt.
Es ist an der Zeit, ein Mindestgehalt einzuführen, dass allen Arbeiterinnen und Arbeitern – unabhängig von Vertragsbedingungen, Alter, Geschlecht oder Nationalität – zusteht. Unter dem Banner des Mindestgehalts ließen sich Forderungen gegen jegliche Art von Akkordarbeit, unbezahlten Jobs und nicht anerkannten Stellen wie Praktika und Ausbildungsverhältnisse vereinen. Auch ein Ende des Subunternehmertums, das letztlich einem Unterbietungswettlauf gleichkommt, ließe sich damit einfordern.
Die Jugendarbeitslosigkeit wird man nicht bekämpfen können, indem man ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einfach ausrangiert. Es müssen attraktive Beschäftigungsangebote geschaffen werden, die sowohl wirtschaftliche Sicherheit als auch Wahlfreiheit bieten. Ein massives staatliches Beschäftigungsprogramm könnte einen Ausweg weisen und würde gleichzeitig der durch jahrzehntelange Sparmaßnahmen personell und materiell ausgehungerten Staatsverwaltung zugutekommen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Angestellte im öffentlichen Dienst in Italien im Durschnitt fünfundfünfzig Jahre alt sind. Dies sollte mit einem Plan zur Wiederverstaatlichung ganzer Produktionssektoren einhergehen, deren Privatisierung im Laufe der Jahre nicht etwa die Effizienz der Wirtschaft, sondern lediglich die Gewinnspannen erhöht hat.
Diese Forderungen mögen nicht revolutionär klingen, doch sie sind bitter nötig. Vor allem aber sind sie realisierbar – und um in einem Land, das einen Anstoß wirklich brauchen könnte, eine gesellschaftliche Mehrheit zu mobilisieren, ist dieses Attribut nicht zu unterschätzen.