06. April 2020
Als Jeremy Corbyn 2015 zum Vorsitzenden der Labour Party gewählt wurde, brachte er eine sozialistische Agenda in den politischen Mainstream. Doch Labour verpasste die Chance, der arbeitenden Klasse die politische Führung zurückzugeben. Mit Keir Starmer an der Spitze bekommen sie nun die Rechnung.
Mit den Wahlen vom Dezember behauptete sich die Labour Party erneut als die populärste sozialdemokratische Partei Europas. Das zeigt allerdings nur, wie schlecht es um die politische Lage auf dem Kontinent steht – denn für sich genommen war das Ergebnis für Labour eine Katastrophe. Die Partei musste einen Absturz von 40 auf 31 Prozent hinnehmen und mehr als 50 Parlamentssitze aufgeben. Im Vergleich zur letzten Wahl im Juni 2017 hatte sie 2,5 Millionen Stimmen verloren. Dieser Verlust wog besonders schwer, da die Tories massive Zugewinne in den ehemaligen Industriegegenden in den Midlands und Nordengland verzeichneten. Diese Gebiete galten gemeinhin als undurchdringliche »Red Wall« – also als eine Kette von Wahlkreisen, die seit Generationen Labour unterstützen. Gleichzeitig konnte Labour eine höhere Stimmenzahl für sich verbuchen als noch in den Jahren 2010 oder 2015. Die Partei ist doppelt so stark wie die SPD und sogar beliebter als die spanische Regierungspartei PSOE, die bei den Neuwahlen im November letzten Jahres 28 % der Stimmen errang. Labour ist die mitgliederstärkste Partei in Europa. Im Januar 2020 konnte sie die 600.000-Marke knacken und zählt damit fast dreimal so viele Mitglieder wie zum Beginn von Corbyns Aufstieg.
Wieso konnte Labour trotz der angestiegenen Mitgliederzahlen keine neuen Wählerinnen und Wähler mobilisieren? Zunächst lässt sich festhalten, dass der Partei tatsächlich genau das gelungen ist. In der Wahl vom Juni 2017 – der ersten unter der Führung Corbyns – stieg Labours Unterstützung um 10 Prozent (3,5 Millionen mehr Wählerinnen und Wähler, der beste Zugewinn seit 1945). Dies ist zum einen auf den Haustürwahlkampf und den Einfluss sozialer Medien zurückzuführen. Doch auch wenn Labour ganz klar die zweitstärkste Partei des Landes bleibt, lässt sich dieser Umstand vor allen Dingen aus dem Mehrheitswahlrecht ableiten. Dort, wo das Mehrheitswahlrecht keine Anwendung findet (wie in Schottland) oder es durch eine andere binäre Logik ersetzt wurde (wie beim Brexit), wurden die alten Loyalitäten durchkreuzt. Im Vergleich zu der Zeit unmittelbar nach der Finanzkrise konnte Labour zwar im letzten Jahr in relativen wie absoluten Zahlen einen Stimmenzuwachs für sich verbuchen, zugleich ging es in Schottland und den ehemaligen Industriezentren – die für den Brexit stimmten – weiter bergab.
Für den ehemaligen Labour-Vorsitzenden Tony Blair sind die Mitglieder das Problem. Wie er in einer Rede vom Februar diesen Jahres betonte, würden »sektiererische linksradikale« Strömungen die Partei zu »unrealistischen Positionen« drängen. Und so sei der Parteivorsitz gezwungen, »innerhalb der Partei eine andere Sprache zu sprechen als in der Öffentlichkeit«. Blair wiederholt hier eine Behauptung, die von den Medien, die Corbyn fast ausschließlich kritisch gegenüberstanden, öfter aufgestellt wurde: Die Neuzugänge der Partei kämen einer Masseninfiltrierung gleich. Unter diesem Vorzeichen wurde die 2015 gegründete Graswurzelbewegung »Momentum« beständig als »entristisches« Projekt dargestellt und auf eine Stufe mit der trotzkistischen Gruppe Militant (auch Militant Tendency) gestellt, die in den 1980er Jahren Versuche unternahm, die Partei zu unterwandern.
In seiner Rede empfahl Tony Blair dem neuen Labour-Vorsitz, die bestehende Parteibasis aufzulösen und eine neue zu etablieren. Dieses neoliberal-zentristische Unterfangen zielt außerdem darauf ab, auch die Wählerinnenbasis auszutauschen. In den letzten vier Jahren betonten Blair und seine Verbündeten, dass Labour die Partei der Remain-Wählerinnen werden müsse – genau wie die Tories die Partei des Brexit geworden seien. In den Augen des rechtsliberalen Flügels der Partei, genauso wie auch für viele Expertinnen und Experten, brachte der Brexit einen neuen politischen Antagonismus hervor, der weniger von ökonomischen als kulturellen Differenzen gezeichnet ist. Folgt man dieser Analyse, dann ist es Corbyns vermeintlich altbackenem Sozialismus anzulasten, dass sich kein breites Mitte-Links-Projekt aufbauen ließ. Ein solches hätte die Mittelschicht der Liberal Democrats und der pro-europäischen Tories mit einer Politik der Offenheit, Toleranz und des Kosmopolitismus versöhnen können.
Die Behauptung, dass die pro-Corbyn-Fraktion innerhalb der Partei engstirnige Nationalistinnen und Nationalisten seien, ist nur schwer nachvollziehbar. Ziehen wir etwa Blairs Indikator für Offenheit – also eine pro-europäische Haltung – heran, zeigt sich, dass 87 Prozent aller Labour-Mitglieder 2016 für den Verbleib in der EU gestimmt haben und im Gegensatz dazu lediglich 63 Prozent aller Labour-Wählerinnen. Corbyn reagierte auf das Ergebnis des Referendums bei den Wahlen 2017 in dem er den Wählerinnen und Wählern einen »soften« Brexit zusicherte und zugleich versprach, die Werte von Labour in die neuen Beziehungen mit der EU einzuschreiben. Konfrontiert mit Spaltungsdrohungen seitens liberaler Parlamentarierinnen, gab Corbyn im Verlauf der darauffolgenden 18 Monate Stück für Stück dem Druck nach und ließ die Zugeständnisse an die Wählerinnen und Wähler, die für einen Austritt aus der EU gestimmt hatten, fallen. Bei der Wahl 2019 versprach er, ein zweites Referendum anzustreben, das neben der Option zum Verbleib in der EU auch einen Plan für den Austritt enthalten würde – eine Abstimmung, bei der er selbst neutral bleiben wollte. Der Versuch, es beiden Seiten recht zu machen, war uneindeutiger, als schlicht zur Remain-Partei zu werden. Es war auch ein Zeichen für Corbyns Einsicht, dass die Partei nicht riskieren dürfte, durch den Brexit allein definiert zu werden – er hatte erkannt, dass Labour ein Wirtschaftsprogramm vorlegen müsste, das arbeitende Menschen über die Brexit-Frage hinaus zusammenbringen könnte.
Eine Partei, die alle repräsentiert, gibt es nicht. So war für die französische Sozialistische Partei der 1980er die Entscheidung zwischen einem Bekenntnis zum europäischen Projekt oder zum Sozialismus schlussendlich auch eine Entscheidung zwischen verschiedenen Wählerinnengruppen. Der Zwiespalt bei Labour zeigt sich vor allen Dingen darin, dass die Partei immer sowohl die Gewerkschaften als auch die liberalen Teile der Mittelschicht vertrat. Seit den 1990ern gelang es Letzteren auf organisatorischer Ebene die Oberhand zu gewinnen, indem sie die Sozialpolitik Europa überließen, die Gewerkschaften als Wählerinnenblock verkleinerten und Karrieristen ohne Wurzeln in der Arbeiterinnenbewegung den Weg frei machten. Dieser Widerspruch erreichte seinen Höhepunkt unter Corbyns Führung. Labour wurde sozialistischer als jemals zuvor, während zugleich die strukturelle Kontrolle der Partei durch die Arbeiterinnenklasse ihren historischen Abwärtstrend fortsetzte.
Corbyn versagte, weil er der arbeitenden Klasse zwar eine bessere Gesundheitsversorgung und Investitionen in die öffentliche Infrastruktur versprach, diese Klasse gleichzeitig aber nicht als politisches Subjekt erkannte. Die Partei war weiterhin von denjenigen Mitgliedern dominiert, die am gebildetsten waren und über das größte kulturelle Kapital verfügten – und es gelang Corbyn nicht, dieses Missverhältnis zu überwinden. So gesehen hätte der Versuch, den Mitgliedern mehr Einfluss zu gewähren – also der eher urbanen, bürgerlichen Basis noch mehr Kontrolle zu überlassen – dazu geführt, dass Labour sich noch weiter von seinen Wählerinnen entfernt. Nicht zuletzt hätte dies auch Blairs politische Linie fortgesetzt, die darauf abzielte, die engen Beziehungen zu den Gewerkschaften zu lösen und an deren Stelle eine neue Basis atomisierter, vornehmlich online registrierter Anhängerinnen treten zu lassen. Diese Tendenz lässt sich auch bei den Repräsentantinnen selbst beobachten: 2017 kamen gerade einmal 8 Prozent aller Abgeordneten aus dem Arbeiterinnen- und Dienstleistungssektor. 1987 waren es noch 29 Prozent und in der Zwischenkriegszeit mehr als 70 Prozent.
In der Brexit-Frage zeigte sich diese Spaltung wie unter einem Brennglas. Während die meisten Corbyn-Unterstützerinnen bei der Wahl 2017 noch entschieden abstritten, dass Labour das Referendum von 2016 aufheben wolle, hatte sich Labour Ende 2018 genau dafür ausgesprochen. Dies hatte zur Folge, dass man 5 Millionen Labour-Anhängerinnen, die für den Brexit gestimmt hatten (und der restlichen Gesellschaft), nicht nur erklären musste, dass der Brexit nicht so wichtig sei wie etwa das Thema der Gesundheitsversorgung. Man musste diese Wählerinnen und Wähler auch davon überzeugen, darauf zu vertrauen, dass eine Partei, die noch nicht einmal zu einer klaren Positionierung zum Brexit in der Lage war, dazu befähigt wäre, ein ambitioniertes, radikal transformatives politisches Programm durchsetzen. Und so klangen Corbyns Labour Party und ihr Haustürwahlkampf infolgedessen wie ein wohlwollendes Charity-Projekt: »Ihr habt zwar beim EU-Referendum falsch gewählt, aber glaubt uns, sobald der Brexit vorbei ist, machen wir euer Leben besser.«
Der Vorsitzende der Labour Party Ian Lavery drückte es so aus: Es habe zwar Labour-Regionen gegeben, die sowohl klar für als auch gegen einen Brexit gestimmt hatten, doch die Befürworterinnen und Befürworter für ein zweites Referendum seien überall in der Minderheit. Demonstrationen für solch einen »People’s Vote« waren überwiegend weiß und kamen zu großen Teilen aus der Mittelschicht – von Menschen also, die zuvor keine politische Niederlage erfahren hatten, von der ihre eigenen materiellen Verhältnisse ernsthaft beeinträchtigt worden waren. Der ehemalige Journalist Paul Mason hat einmal folgende stereotype Darstellung herangezogen: Zwar sei der pensionierte Bergarbeiter, der für den Brexit stimmte, klassenpolitisch gesprochen kein »authentischerer« Arbeiter als die Pflegekraft aus dem multi-ethnischen Stadtteil London-Hackney, die für »Remain« stimmte (oder eben auch die schottischen Remain-Wählerinnen oder die migrantischen Britinnen, die für einen Brexit stimmten). Doch die Forderung nach einem zweiten Referendum vermochte es nicht, diese unterschiedlichen Gruppen zu vereinen oder eine verbindende Klassenpolitik zu befördern. Die Haltung, die nach außen getragen wurde implizierte, dass die Wahl von 2016 wertlos gewesen war und dass man die Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf der »falschen Seite« standen, besser aufgeben sollte.
Das Problem war, dass die Partei als Ganzes nicht wie Corbyn agierte. Dies rührte zunächst daher, dass die parlamentarische Labour Party (PLP), Corbyn nie unterstützt hatte. Im sogenannten »Chicken Coup«-Sommer von 2016, bei dem versucht wurde, Corbyn durch den moderat-rechten Owen Smith zu ersetzen, votierten die Labour-Abgeordneten mit 172 zu 40 Stimmen für einen linken Parteivorsitz. Die Medien ereiferten sich darüber, dass einige Labour-Abgeordnete von Unterstützerinnen und Unterstützern Corbyns angegriffen worden seien. Sie nutzten diesen moralischen Aufschrei, um Bemühungen der linken Momentum-Bewegung und der Gewerkschaft Unite anzuprangern, bestehende Abgeordnete mit Linken zu ersetzen. Doch in gerade einmal sechs von 632 Wahlkreisen stimmten die Mitglieder schlussendlich dafür, ihre bestehenden Parlamentarierinnen austauschen zu lassen, unter denen auch ein Verbündeter Corbyns war. Die PLP war also weiterhin durchsetzt von Karrierepolitikern und deren Sitze, so glaubte man, waren sicher. Die meisten unter ihnen waren von Tony Blair und Gordon Brown dort hingebracht worden.
Finanziert durch die Gewerkschaften, doch repräsentiert durch vornehmlich liberale Parlamentsabgeordnete, kollidierte Corbyns Anti-Establishment-Kurs mit der organisatorischen Realität von Labour. Zwar wurden in den letzten Wochen vor der Wahl 2019 einige Abgeordnete der arbeitenden Klasse aus dem Norden der Brexit-Wahlkreise zentraler in die Kampagne eingebunden. Doch es gelang Labour nicht, Gewerkschaftsmitglieder oder Aktivistinnen der arbeitenden Klasse ins Rampenlicht zu rücken. Der Mangel an Parlamentarierinnen oder zumindest Journalistinnen, die Corbyn unterstützten, hatte zur Folge, dass einige alternative und linke Medienfiguren zu »Stellvertreterinnen« der Labour-Führung avancierten. Doch dies bestärkte eine Dynamik, in der Aktivistinnen, die von der BBC oder Sky News auserlesen wurden, eine völlig unverhältnismäßige Rolle in der öffentlichen Darstellung Labours einnahmen. Die Repräsentantinnen und Repräsentanten der Gewerkschaften und die eigentliche Kampagne gingen in der medialen Berichterstattung unter. In den Medien wurden Linke hauptsächlich zum Brexit oder Corbyns vermeintlichem Antisemitismus ausgequetscht. Die wirtschaftspolitischen Ankündigungen der Partei kamen erst wenige Wochen vor der Wahl, sodass keine Zeit blieb, tiefgreifende Unterstützung für sie aufzubauen.
Dieses Versäumnis, eine tiefere Basis zu schaffen und damit die politische Teilhabe der arbeitenden Klasse wiederzubeleben, war ein Grund für die Niederlage im Dezember – das ist in der Zwischenzeit noch deutlicher geworden. Besonders bemerkbar wurde dies im anschließenden ambitionslosen Wettbewerb um den Vorsitz, wobei die Demoralisierung der pro-Corbyn-Linken eine fast unangefochtene Rückkehr zur liberalen, moderaten Linken ermöglichte. Die Unterstützung der Linken Rebecca Long-Bailey durch Momentum hat sich nie in den Massenkundgebungen oder in einem Gefühl der Möglichkeit niedergeschlagen, wie sie Corbyns eigene Kampagne für den Vorsitz kennzeichneten. Stattdessen wurde die Bühne für die Krönung des »sicheren« Kandidaten Starmer bereitet. Ein glatter Kandidat, der bei den Mitgliedern für sich warb, indem er ihnen ein ganzseitiges Foto von seinem inzwischen berühmt gewordenen »wählbaren Haarschnitt« zeigte. Es gab kaum eine substanzielle politische Diskussion – jegliche Debatte unter den Kandidatinnen und Kandidaten war stattdessen von einem höflichen Konsens über die Notwendigkeit geprägt, »wieder eine Verbindung zu den Gemeinden herzustellen«. Nach Jahren vernichtender partei-interner Kämpfe konnte Starmer die Grundstimmung zugunsten der »Einheit der Partei« dennoch am wirksamsten mobilisieren. Bei den Abgeordneten kam er als »glaubwürdige« pro-europäische Figur gut an und den Mitgliedern versprach er, dass er an Corbyns zentralen politischen Programmpunkten bezüglich öffentlicher Dienstleistungen und Verstaatlichungen festhalten würde.
Jede politische Debatte wäre natürlich mehr eine Angelegenheit der Signalisierung politischer Prioritäten als der tatsächlichen Aufstellung von Regierungsprogrammen gewesen – nicht zuletzt angesichts des massiv veränderten Kontextes nach dem Ausbruch der Corona-Epidemie. Doch Starmers Reaktion auf diese Krise gibt selbst Anlass zur Sorge. Während die Tories eine Reihe mutiger wirtschaftlicher Interventionen – darunter ein Rettungspaket in Höhe von 350 Milliarden Pfund – durchgeführt haben, hat sich der künftige Labour-Vorsitzende dazu fast so sehr ausgeschwiegen wie Joe Biden in den USA und sich stattdessen auf Forderungen nach kleinen Ergänzungen wie eine Erhöhung der Unterhaltszahlungen für Kinder um 10 Pfund pro Woche beschränkt – zweifellos eine willkommene Unterstützung, aber kaum Ersatz dafür, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen. Was die Einheit der Partei angeht, deutet das Schattenkabinett von Starmer darauf hin, dass es nur eine symbolische Vertretung der Linken geben wird, während die meisten Spitzenpositionen an zentristische Abgeordnete übergeben werden, die unter Blair und Brown gewählt wurden. Während Starmer von rhetorischen Zugeständnissen an Corbyn immer weiter abgewichen ist, hat ihn die Stimmung unter den Abgeordneten und die Weigerung, »politisierte« Antworten auf COVID-19 zu geben, in kürzester Zeit zu kleinen, technokratischen Einmischungen bewegt, wie sie im Buche der Manager stehen könnten.
Starmers Forderung nach Einheit war immer mit Vorsicht zu genießen – er selbst unterstützte den »Chicken Coup« gegen Corbyn im Jahr 2016. Und heute setzen ihn diejenigen in der Partei unter Druck, die jede Spur der letzten fünf Jahre auslöschen wollen – sei es durch die Verdrängung kürzlich eingestellter Parteimitarbeiterinnen und -mitarbeiter oder vielleicht sogar durch die Schließung linker »fraktioneller« Apparate wie Momentum.
Die letzten Jahre der britischen Politik warnen uns sicherlich vor zuversichtlichen Prognosen. Auch wenn die gegenwärtige Krise alle möglichen Szenarien aufwirft, sollten wir uns nicht zu schnell einbilden, dass eine solche Unbeständigkeit der Linken in die Hände spielen wird. Seit Corbyns überraschendem ersten Wahlsieg und der Verbesserung seines Ergebnisses bei der zweiten Vorsitzendenwahl 2017 haben sich die Sozialistinnen und Sozialisten oft auf die Wunschvorstellung verlassen, dass Stürme der Begeisterung die zweifelnden Fachleute eines Besseren belehren würden. Das hat manchmal funktioniert – aber es war kein Ersatz für die weitaus härtere Arbeit, eine dicht verwurzelte Organisation in den Gemeinden der arbeitenden Bevölkerung aufzubauen, die in der Lage war, neue Führungsfiguren von außerhalb der liberalen Mittelschicht aufzurichten und den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie die Kontrolle über den politischen Prozess zurückgewinnen konnten. Wenn Starmer den Liberalen wieder die Kontrolle über die Parteimaschinerie überträgt, ist das ein Anzeichen dafür, dass wir für die verpassten Gelegenheiten der letzten fünf Jahre teuer bezahlen werden.
Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung eines Beitrags aus Jacobin N° 1, »Jenseits der Sozialdemokratie«.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).