29. Oktober 2020
Auf eine Untersuchung zum Antisemitismus in den Reihen der britischen Labour-Partei folgte die Suspendierung des Ex-Parteichefs Jeremy Corbyn. Doch wie der ganze Skandal ist die Untersuchung vor allem eins: eine politische Waffe.
Jeremy Corbyn beim Parteitag von Labour 2018.
Mitte Oktober unterrichtete ein BBC- Journalist seine Zuschauer, der ausstehende Bericht der Gleichstellungs- und Menschenrechtskommission (EHRC) zu Antisemitismusvorwürfen gegen die britische Labour-Partei »verspreche vernichtend zu werden«. Doch der Prozess hinter der Erstellung des Reports wirft vor allem ein schlechtes Licht auf die EHRC-Kommission und die britischen Medien, die sich zu den überwältigenden Hinweisen auf die Parteilichkeit der Untersuchung konsequent ausschwiegen.
Die langwierige Saga begann im Juni 2019, als die EHRC bekannt gab, Labour wegen möglicher Verstöße gegen die Gleichstellungsgesetzgebung zu untersuchen. Zuvor waren Beschwerden von zwei Gruppen eingegangen, der Campaign Against Antisemitism (CAA) und der Organisation Jewish Labour Movement (JLM).
Für die große Mehrheit der britischen Journalistinnen und Journalisten war bereits diese Ankündigung eine vernichtende Anklage gegen den damaligen Parteiführer Jeremy Corbyn. Dass die EHRC eine solch folgenschwere Entscheidung traf, könne nur bedeuten, dass Labour unter Corbyn von Antisemiten durchsetzt war. Und dass die Parteiführung die Schuld für diesen schändlichen Verfall trug.
Natürlich steht und fällt diese Annahme mit der Glaubwürdigkeit der EHRC selbst. Die Kommission wurde 2007, in den letzten Jahren der Administration von Blair und Brown, gegründet und vereinte die Zuständigkeiten von drei vorhergehenden Gremien zur Durchsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen. Obwohl formell von der britischen Regierung unabhängig, ist sie eine öffentliche Einrichtung und erhält ihre Mittel vom Staat.
Die EHRC sah sich seit der Machtübernahme von David Cameron 2010 mit drastischen Budgetkürzungen konfrontiert. Betrug es damals noch 63 Millionen Pfund, ist es heute auf 17 Millionen Pfund geschrumpft. Wohl auch deswegen vermied es die EHRC im weiteren Verlauf tunlichst, Cameron oder seine Nachfolger allzu hart zu kritisieren. Im Juli 2020 berichteten zwei ehemalige EHRC-Kommissare – Simon Woolley, der einzige Schwarze der Kommission, und Meral Hussein-Ece, der einzige Muslim – dem Magazin Newsweek, dass sie 2012 nicht wieder in ihre Ämter berufen worden seien, weil sie in Fragen des Rassismus »zu energisch und laut« gewesen seien.
Rechtsanwalt Geoffrey Bindman – ehemaliger Rechtsberater der Commission for Racial Equality, deren Funktionen die EHRC bei ihrer Gründung übernahm – erklärte, der EHRC sei »nicht mit angemessenen Ressourcen ausgestattet und neigt dazu, Themen zu bearbeiten, die nicht unbedingt die dringlichsten sind«. So wurde etwa der Bericht der EHRC über Rassismus an britischen Universitäten von 2019 heftig kritisiert, weil er gleichwertig auch über die angebliche Diskriminierung von Weißen berichtete, sowie gegen Engländer an schottischen und walisischen Hochschulen.
Im Jahr 2016 kritisierte die Labour-Politikerin Harriet Harman, Vorsitzende des Menschenrechtsausschuss des britischen Parlaments, die Ernennung von David Isaac zum neuen EHRC-Vorsitzenden. Wie Harman bemerkte, leistet Isaacs Anwaltskanzlei Pinsent Masons einen »signifikanten Anteil ihrer Arbeit« für die britische Regierung: »Der Löwenanteil von Isaacs Einkommens stammt von einer Organisation, die ein direktes Interesse an den Ergebnissen seiner Arbeit hat. Wie man so schön sagt: ›Wer den Pfeifer zahlt, bestimmt die Musik‹«.
Im November 2019 zuletzt kam die BBC-Sendung Newsnight in den Besitz eines geleakten Briefes der operativen Leiterin der EHRC, Rebecca Hilsenrath, in dem sie den Vorsitzenden Isaac beschuldigt, der konservativen Regierung zu nahe zu stehen: Isaac, so Hilsenrath, »lehnt es regelmäßig ab, öffentlich Position zu Themen zu beziehen, die sich für die Regierungspartei als problematisch erweisen könnten«.
Das Bild, das sich so ergibt – von einem Gremium, das von der konservativen Regierung mit der Androhung weiterer Budgetkürzungen an der kurzen Leine gehalten wird – stimmt voll und ganz mit dem öffentlichen Agieren der EHRC überein. Dieses bestand stets darin, den Weg des geringsten Widerstands zu beschreiten. Im Mai 2019 forderte der Britische Zentralrat der Muslime (MCB) die EHRC auf, »zu untersuchen, ob die Konservative Partei gegen die Bestimmungen des Gleichstellungsgesetz verstoßen habe«, indem sie ein feindseliges, diskriminierendes Umfeld für Muslime als Mitglieder oder potenzielle Mitglieder der Partei schuf.
Der MCB legte ein umfangreiches Dossier vor, um seine Beschwerde mit Belegen zu unterfüttern. Es zeigte, wie die Konservativen in ihren Wahlkampagnen direkt Muslime ins Visier genommen und führenden Persönlichkeiten ihrer Partei – einschließlich ihres Vorsitzenden Boris Johnson – erlaubt hatten, ungestraft diskriminierende, antimuslimische Äußerungen zu machen. Dutzende grob verletzende Kommentare von konservativen Ratsmitgliedern, Kandidaten und anderen öffentlichen Vertretern wurden dokumentiert.
Da der Zentralrat der Muslime keine Antwort von der EHRC erhielt, wiederholte er seine Forderung nach einer Untersuchung im November 2019. Die EHRC erklärte daraufhin lediglich, dass sie die eingegangene Beschwerden prüfe, »um festzustellen, ob Handlungsbedarf besteht«. Im März 2020 legte der MCB ein neues Dossier mit mehr als dreihundert weiteren Beschwerden gegen islamophobes Verhalten vor. Wiederum erklärte die EHRC gegenüber Journalisten, dass man weiterhin »aktiv nachdenke, was man, wenn überhaupt, unternehmen könnte«.
Im Mai 2020 schließlich lehnte die Kommission den Antrag des MCB formell ab. Eine Untersuchung sei »nicht verhältnismäßig«, da die Konservativen bereits versprochen hätten, selbst eine interne Prüfung einzuleiten. Der MCB stellte klar, dass diese interne Untersuchung nichts sei als eine Übung in »Schönfärberei, die dazu dient, die hunderten von uns identifizierten Vorfälle islamfeindlicher Diskriminierung aus den Reihen der Konservativen Partei zu verbergen«. Kurz darauf deckte Basit Mahmood von Newsweek auf, dass eines der EHRC-Kommissionsmitglieder, Pavita Cooper, bei ihrem Eintritt in die Kommission nicht angegeben hatte, dass sie auch als Großspenderin und Fundraiserin für die Konservative Partei agiert.
Doch es bräuchte noch nicht einmal die direkte Einflussnahme von Seiten der Regierung. Die Tories sind bis zu den nächsten Parlamentswahlen an der Macht, möglicherweise bis weit darüber hinaus. Sie haben die uneingeschränkte Unterstützung einer zutiefst parteiischen Zeitungsindustrie, deren Redaktionen verlässlich Sturm gegen jedes Gremium blasen, das der Regierung Ärger bereitet. Allein der Wunsch der Führungsspitze der EHRC (deren Mülltonnen die konservative Presse im Falle einer Konfrontation mit der Regierung ganz buchstäblich durchwühlen würde) nach einem ruhigen Leben ist bereits eine völlig ausreichende Erklärung für ihr Widerstreben, es mit einer Partei aufzunehmen, in der es ganz offensichtlich auf allen Ebenen von Rassisten wimmelt.
Die Entscheidung der EHRC, eine Untersuchung gegen Labour zu starten, stellte kein solches Dilemma dar. Tatsächlich wurde sie von der britischen Presse allgemein begrüßt, einschließlich ihrer kleinen nicht-konservativen Nischen. Auch die liberalen Zeitungen hatten sich während der Amtszeit Jeremy Corbyns auf die konventionelle Medienerzählung des »Labour-Antisemitismus« eingeschossen und sie hatten keinen Anlass, diese Erzählung nun in Frage zu stellen.
So wurden die Gruppen, die die Untersuchung veranlasst hatten, keiner tieferen Prüfung unterzogen. Die Campaign Against Antisemitism (CAA) ist im selben Sinne eine Graswurzelkampagne gegen Antisemitismus, wie der Bund der Steuerzahler eine Graswurzelkampagne für die effiziente Verwendung öffentlicher Gelder ist – das heißt: überhaupt nicht. Die CAA wurde im Sommer 2014 gegründet, während der Gaza-Streifen unter heftigem israelischen Bombardement stand. Ihr Kerngeschäft besteht darin, Kritikerinnen und Kritiker der israelischen Regierung mit erfundenen Antisemitismus-Vorwürfen zu desavouieren, etwa in Angriffen auf die Aktionswochen gegen Apartheid in Israel an britischen Universitäten. In dieser Hinsicht folgt sie dem Ansatz von US-Gruppen wie der Anti-Defamation League und dem Simon Wiesenthal Center. Das Institut für Jüdische Politikforschung kritisierte einen frühen Bericht des CAA über Antisemitismus in Großbritannien und beschrieb ihn als »unverantwortlich« und »mit Fehlern übersät«.
Die Gruppe trat in der Kampagne gegen Jeremy Corbyn in den Vordergrund und führte sogar eine eigene Umfrage über antisemitische Einstellungen in Großbritannien durch, wobei sie willkürlich die Art und Weise änderte, wie sie den Antisemitismus maß, um negative Schlagzeilen über die Labour Party erzeugen zu können.
Die Organisation Jewish Labour Movement andererseits leugnet stets entrüstet, eine pro-israelische Lobbygruppe zu sein; führende Mitglieder behaupten im Gegenteil, starke Kritiker der rechten Regierung des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu zu sein. Doch während des Labour-Parteitags 2016 diskutierte der damalige Vorsitzende der Gruppe, Jeremy Newmark, Seite an Seite mit Netanjahus Botschafter Mark Regev über Strategien zur Untergrabung der Palästina-Solidarität in der britischen Arbeiterbewegung. Im Februar 2020 veranstaltete das JLM gemeinsam mit den Labour Friends of Israel ein Auswahlgespräch der Kandidatinnen und Kandidaten für den Labour-Vorsitz. Der Journalist Robert Peston, der die Veranstaltung moderierte, forderte die Kandidaten auf, ihre Unterstützung für die sogenannte Nakba zu bekräftigen, die Vertreibung hunderttausender Palästinenserinnen und Palästinenser im Jahr 1948.
Glücklicherweise haben wir die Gelegenheit, die Beschwerde des JLM bei der EHRC zu prüfen, da diese am Vorabend der Parlamentswahlen 2019 durchgesickert ist (die Vorlage des CAA ist noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt). Eine genaue Prüfung des JLM-Dossiers zeigt, dass es voll ist mit Unwahrheiten, Trivialitäten, Falschdarstellungen und logischen Fehlern.
Im Abschnitt über Jeremy Corbyn wird zum Beispiel behauptet, es sei »ein Video aufgetaucht, das Herrn Corbyn 2014 in Tunesien zeigt, wie er einen Kranz neben den Gräbern jener Terroristen niederlegt, die 1972 israelische Olympioniken ermordeten«. Tatsächlich sind die Männer, die den Anschlag von München in jenem Jahr ausführten, in einem ganz anderen Land, nämlich in Libyen, begraben. Corbyn wurde auch beschuldigt, einen Kranz für den PLO-Kommandeur Abu Iyad niedergelegt zu haben. Selbst wenn die Verwerflichkeit einer solchen Geste eventuell diskutierbar wäre, war sie in Wirklichkeit einfach nie geschehen.
In dem Abschnitt über Corbyn's angebliche Vergehen wird ihm auch vorgeworfen, er habe gesagt, dass »die Zionisten ... keine englische Ironie verstehen« und besteht darauf, dass »Zionisten« hier ein Codewort für »Juden« sei. In Wirklichkeit sagte Corbyn nichts über »Zionisten« als allgemeine Kategorie: Seine Worte bezogen sich auf eine kleine Gruppe von militanten, rechtsgerichtete Zionisten, die versuchten eine Veranstaltung mit dem palästinensischen Botschafter in London zu sprengen.
Charakteristisch für Corbyn war seine Bemerkung – die sich ganz auf die Prämisse stützte, dass die Zwischenrufer im Gegensatz zum Botschafter Engländer waren – viel sanfter, als es ihr rüpelhaftes Verhalten verdiente. Man fragt sich, warum sie es permanent für notwendig halten, die Fakten in eine völlig unkenntliche Form zu verbiegen, wenn Corbyns Bilanz tatsächlich so vernichtend ist, wie seine Kritiker behaupten.
In der JLM-Vorlage wird behauptet, der Labour-Abgeordnete Ian Austin sei einer antisemitischen »Viktimisierung« ausgesetzt worden, als er zu einer Disziplinaranhörung einbestellt wurde, weil er den Parteivorsitzenden Ian Lavery angeschrien und beleidigt hatte. Die JLM beschreibt dies als eine »hitzige Diskussion über Antisemitismus«. Doch Augenzeugen berichten, Austin habe kein Wort über Antisemitismus verloren, Lavery jedoch als »Bastard« und »Wichser« bezeichnet. Austin, der sich einst damit brüstete, dass hochrangige Persönlichkeiten der Labour-Partei seine Ansichten zur Einwanderungspolitik mit jenen der Nazi-Partei BNP verglichen hatten, trat in der Folge aus der Labour-Partei, kandidierte bei den Wahlen 2019 für Boris Johnson und erhielt von diesem für seine Dienste einen Sitz im Oberhaus.
In einem klassischen Beispiel für die Zirkelschlüsse der falschen Erzählung vom »Labour-Antisemitismus«, betrachtete das JLM die fehlende Akzeptanz ihrer offensichtlich überzogenen Erählung nur als einen weiteren Beweis für die »Antisemitismuskrise« der Partei: »Eine YouGov-Umfrage unter Parteimitgliedern ergab, dass 68 Prozent der Befragten Antisemitismus für ein großes Problem halten, 77 Prozent jedoch glaubten, dass die Antisemitismusvorwürfe »übertrieben« oder »aufgebauscht« würden, um Corbyn und der Partei zu schaden«. Für das JLM scheint es inakzeptabel zu sein, dass die große Mehrheit der Labour-Mitglieder mit klarem Blick sah, was ihnen ins Gesicht starrte.
Nachdem die Medien mehrere Jahre lang eingehend über den »Antisemitismus in der Labour-Partei« berichtet hatten, baten akademische Forscher Mitglieder der Öffentlichkeit, zu raten, wie viel Prozent der Labour-Mitglieder des Antisemitismus beschuldigt worden waren. Die durchschnittliche Schätzung lag bei etwa einem Drittel. Dreihundert Mal höher als die tatsächliche Zahl – die sich auf kaum 0,1 Prozent belief.
Diese Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität war eine Folge irreführender Berichterstattung in gigantischem Ausmaß, für die es in der modernen britischen Geschichte, wenn überhaupt, nur wenige Präzedenzfälle gab. Die Fähigkeit der Labour-Mitglieder, angesichts dieses Sturms auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, war durchaus lobenswert, so frustrierend sie auch für einige gewesen sein mag.
Der Umstand, dass die JLM-Vorlage so locker mit den Tatsachen spielt, die auf öffentliche Aufzeichnungen beruhen, lässt erahnen, wie womöglich mit Themen umgegangen wird, zu denen es keine solchen Aufzeichnungen gibt. Es ist kaum zu glauben, dass die EHRC in diesem Dossier eine ausreichende Grundlage für eine Untersuchung fand, während sie zugleich die erschöpfende Bestandsaufnahme des MCB zum Tory-Rassismus als unzulänglichen Ausgangspunkt beiseite schob. Die Doppelmoral, die die Kommission gegenüber der Labour Partei und den Tories an den Tag legt, ist aus dem Weltall erkennbar.
Ähnlich wie die BBC-Panorama-Sendung »Ist Labour antisemitisch«, die kurz nach der Ankündigung der EHRC-Untersuchung ausgestrahlt wurde, stützt sich die JLM-Vorlage stark auf die Aussagen ehemaliger Labour-Funktionäre, die Corbyn und seine Verbündeten beschuldigten, Antisemiten unter den Parteimitgliedern zu schützen.
Ein durchgesickerter Bericht, der unter der Aufsicht der ehemaligen Generalsekretärin der Labour-Partei, Jennie Formby, erstellt wurde, hat seither schlagende Beweise dafür geliefert, dass diese selbsternannten »Whistleblowers« selbst bestenfalls grob inkompetent im Umgang mit Antisemitismusbeschwerden waren und Fälle monatelang liegenließen, anstatt sie umgehend zu bearbeiten. Es ist unbestreibar, dass sich die Bearbeitung solcher Fälle ab 2018, unter der Leitung Formbys, beschleunigte.
Ein zu enger Fokus auf die Behandlung von Beschwerden würde jedoch das Gesamtbild vernachlässigen. Medienberichte über »Antisemitismus in der Labour Party«, die ebenso viel mit tatsächlichen antisemitischen Vorfällen zu tun hatten wie Bericht über »Sozialbetrug« mit tatsächlichen Betrugszahlen haben, beruht auf der Annahme, dass es nach 2015 zu einem dramatischen Anstieg der antisemitischen Tendenzen unter Labour-Mitgliedern kam. Genau hier liegt der eigentliche Betrug.
Denn in Wahrheit gibt es keinerlei Hinweise auf eine wesentliche Zunahme des Antisemitismus unter der Führung Corbyns. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass antisemitische Ansichten in Labour häufiger anzutreffen waren, als in den anderen großen Parteien. Und es gibt auch keine Hinweise darauf, dass Labour-Mitglieder mit größerer Wahrscheinlichkeit antisemitisch waren, als ein zufälliger Querschnitt der britischen Öffentlichkeit. Tatsächlich scheinen sie es in erheblich geringerem Maße zu sein. Was sich nach 2015 änderte, war die massiv erhöhte Kontrolle durch die nationalen Medien und verschiedene Kampagnengruppen, die nach Beweisen für den »Antisemitismus der Labour-Partei« suchten.
Wären die anderen britischen Parteien – oder die Labour-Partei vor Corbyn – in gleicher Weise überprüft worden wäre, hätte man mit Sicherheit den gleichen winzigen Prozentsatz ihrer Mitglieder gefunden, die in den sozialen Medien antisemitische Ansichten äußerten. Und wenn die britischen Medien entschieden hätten, dass dies ein ausreichender Grund für die Erklärung einer »Antisemitismuskrise« sei, wäre auch hier eine Krise entstanden. Das Konzept einer »Rassismuskrise« oder »Islamophobie-Krise« der Tories hat sich im britischen Nachrichtenzyklus nie durchgesetzt, egal wie ungeheuerlich die Bilanz der Partei ist. Die Erklärung der Krise beruht ganz eindeutig nicht auf objektiven Kriterien.
Genauso wenig wie ein Mann seinen eigenen Schatten zu Boden ringen kann, konnte der Disziplinarprozess der Labour-Partei unmöglich eine »Antisemitismuskrise« lösen, die vor allem auf der Ebene des Mediendiskurses existierte. Sicherlich gab es in diesem Prozess strukturelle Mängel, die durch individuelle Versäumnisse verstärkt wurden, wie man dies in jeder großen bürokratischen Organisation erwarten würde. Die Herausforderung, diese Mängel und Versäumnisse in Angriff zu nehmen, wurde noch dadurch erschwert, dass das Beschwerdesystem von interessierten Akteuren innerhalb und außerhalb der Partei mit fadenscheinigen Antisemitismus-Anschuldigungen überhäuft wurde und feindliche Parteifunktionäre den Prozess behinderten. Der durchgesickerte Formby-Bericht enthält reichlich Beweise für beides.
Doch selbst das perfekteste Disziplinarverfahren hätte die Meta-Kontroverse um den »Labour-Antisemitismus« nicht entschärfen können. Die britischen Medien entschieden kollektiv, dass es eine Angelegenheit von dringender nationaler Bedeutung sei – genug, um den Nachrichtenzyklus wochenlang zu dominieren –, dass eine kleine Handvoll Labour-Mitglieder ohne öffentliches Profil oder Autoritätspositionen in der Partei antisemitische Ansichten geäußert hatten.
Dieselben Medien arbeiteten derweil angestrengt an einer neuen Deifinition des »Antisemitismus«, bis dieser nicht mehr viel mit Vorurteilen gegenüber Jüdinnen und Juden zu tun hatte, sondern vor allem die Haltung gegenüber Israel betraf. In einer letzten Wendung prangerten sie jeden, der dieses klapprige Konstrukt in Frage stellte, als »Antisemitismusleugner« an.
So einmal in Gang gesetzt war die Erzählung des »Labour-Antisemitismus« ein Perpetuum Mobile, das so lange seinen eigenen Treibstoff erzeugte, wie Corbyns Gegner es für notwendig erachteten. Der Hauptmangel der Corbyn-Führung in dieser Hinsicht war ihr Versagen, sich energisch zu verteidigen, anstatt ungerechtfertigte Zugeständnisse zu machen, die Tage oder Wochen des Friedens erkauften, auf Kosten von Monaten oder Jahren des Schmerzes.
Daniel Finn ist Features-Redakteur bei Jacobin. Er ist der Autor des Buches »One Man’s Terrorist. A Political History of the IRA«.
Daniel Finn ist Redakteur bei Jacobin.