02. September 2024
Das Ergebnis der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen zeigt: Die AfD wird als glaubwürdige Opposition zur Ampel wahrgenommen. Wenn Die Linke wieder stark werden will, muss sie ihr diesen Platz streitig machen.
Thüringens AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke bei einer Wahlkampfrede auf dem Erfurter Domplatz, 31. August 2024.
Es gab keine größeren Überraschungen bei den gestrigen Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Aber das macht die Ergebnisse nicht weniger beunruhigend. Wie bereits zahlreiche Kommentatoren und Politikerinnen festgestellt haben, markiert der Wahlsieg der AfD eine neue politische »Zäsur«. Das starke Ergebnis der AfD, die Niederlage der Ampelparteien und der beinahe kometenhafte Aufstieg des BSW bestätigen einmal mehr, wie unzufrieden große Teile der Bevölkerung sind – und wie viele von ihnen lieber eine rechtsextreme Regierung hätten als die jetzige.
Für die Linke jedenfalls, ob in oder außerhalb der Partei, kann das Ergebnis nur als ein weiterer herber Rückschlag interpretiert werden, der auf grundsätzliche ungelöste Probleme hinweist. Denn sowohl im Umgang mit der rechtsextremen Gefahr als auch in dem Versuch, eine eigene inhaltliche Akzentuierung zu setzen, ist sie gescheitert. Auch wenn sie es wollte, ein Weiter-so kann es nicht geben – dafür ist sie inzwischen zu schwach.
Wie die Umfragen in den Wochen vor der Wahl weithin voraussagten, ist die AfD nun die stärkste Partei in Thüringen. Angeführt von einem mehr oder weniger offenen Neonazi trägt der Sieg der Partei aus gutem Grund eine große symbolische Bedeutung. Doch so abstoßend Björn Höcke und seine Anhängerinnen und Anhänger auch sein mögen, das Ergebnis als überwältigende Begeisterung für faschistische Politik in der Thüringer Bevölkerung zu interpretieren, wäre verfrüht. Im Vergleich zu dem Ergebnis von 2019 hat die AfD in Thüringen etwa 160.000 neue Wählerinnen und Wähler gewonnen. Insgesamt stimmten knapp unter 400.000 Menschen für die AfD, etwa 20 Prozent der Gesamtbevölkerung des Bundeslands. Das ist alles andere als eine gute Nachricht. Die AfD ist aber, gemessen an ihrer Mitgliederzahl von um die 50.000, noch weit davon entfernt, eine Massenpartei oder gar Massenbewegung zu sein. Sogar die schwächelnde Linkspartei hat ähnlich viele Mitglieder.
Das ist insofern relevant, weil es wichtig ist, sich im Klaren darüber zu sein, welche Bedrohung uns gerade bevorsteht – und welche nicht. Was Thüringen und Sachsen erleben, ist (zumindest noch) kein Durchmarsch des Faschismus, sondern ein rechtspopulistisches Aufbäumen, das wir bereits in vielen anderen europäischen Ländern beobachten konnten. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, was das Erstarken der AfD für die deutsche Politik bedeuten wird, müssen wir nur einen Blick auf unsere Nachbarn werfen.
»Nur wenige Monate nach bundesweiten Anti-AfD-Mobilisierungen, die das Berliner Institut für Bewegungs- und Protestforschung als die größte Protestwelle in der bundesdeutschen Geschichte bezeichnete, ist die AfD wieder auf Erfolgskurs.«
In den letzten Jahren waren oder sind rechtsextreme Parteien in den Niederlanden, Italien, Polen, Ungarn und Österreich an der Regierung. Auf der Basis wirtschaftlicher Ängste und fremdenfeindlicher Ressentiments haben sie eine restriktive Migrationspolitik verfolgt und das Recht auf Asyl zum Teil ausgehebelt. Je nach nationalem Kontext haben sie auch eine Art gesetzlich verankerte Homophobie in ihre Programme aufgenommen. Insgesamt tragen sie dazu bei, das politische Klima zu verrohen und Stimmung gegen marginalisierte Gruppen zu machen. Wirtschaftlich hingegen weichen sie vom neoliberalen Mainstream nicht ab. Nur in Ungarn und in geringerem Maße in Polen hat die extreme Rechte Versuche unternommen, den Staat in ihrem Sinne grundlegend umzugestalten. Zumindest in Polen ging dieser Versuch nach hinten los – die Wählerinnen und Wähler warfen sie im letzten Jahr aus der Regierung.
Ein ähnliches Szenario könnte jetzt der Bundesrepublik bevorstehen. Die sogenannte Brandmauer wird wohl vorerst halten, aber sollte die AfD mittelfristig ihre derzeitige Wahlstärke beibehalten, wird es für die Parteien der Mitte auf Dauer schwierig, sie komplett aus der Regierung herauszuhalten – auch weil die Verschärfungen in der Migrationspolitik inzwischen dafür sorgen, dass große Teile des AfD-Programms zur Not auch mit einer bürgerlichen Regierung umsetzbar sind. Diejenigen, die die Vorstellung einer AfD-Regierung erschreckend finden, und insbesondere diejenigen auf der linken Seite des politischen Spektrums, sollten daraus eine wichtige Lektion ziehen. Nur wenige Monate nach bundesweiten Anti-AfD-Mobilisierungen, die das Berliner Institut für Bewegungs- und Protestforschung als die größte Protestwelle in der bundesdeutschen Geschichte bezeichnete, ist die AfD wieder auf Erfolgskurs. Damals wurde aber auch in Thüringen und Sachsen demonstriert. In Erfurt, Leipzig, Weimar und anderen Städten gingen Zehntausende auf die Straße und prangerten die AfD als antidemokratische, ja faschistische Partei an. Auch beim Essener Parteitag der AfD Ende Juni und in den letzten Wochen gab es immer wieder Kundgebungen und Demonstrationen gegen sie.
Nicht wenige Kommentatorinnen und Kommentatoren spekulierten, dass die Proteste das Blatt im Kampf gegen die Rechtspopulisten wenden könnten. Kleine Einbrüche in den Umfragewerten der AfD schienen diese These zu bestätigen: Die Proteste dienten der Re-Stigmatisierung und damit der Entnormalisierung der AfD. Sie würden die Hardcore-Anhänger der Partei nicht abschrecken, könnten aber zumindest Protestwählerinnen davon überzeugen, ihre Stimme einer anderen Partei zu geben und die jüngsten Zugewinne der AfD wieder nichtig machen.
Obwohl frühere Massenmobilisierungen gegen rechts in Österreich, Frankreich oder den Niederlanden bereits Anlass zur Skepsis an dieser Prognose hätten bieten können, wissen wir nun mit Sicherheit: die Strategie der Großdemonstration ist gescheitert. Im schlimmsten Fall könnte es sogar sein, dass zumindest im Osten die Stigmatisierungsversuche aus der Mitte eher dazu führten, die AfD als die Oppositionskraft schlechthin erscheinen zu lassen. Jedenfalls ist die AfD inzwischen in den Augen vieler Ostdeutscher politisch normalisiert und das wird voraussichtlich auch erst einmal so bleiben. Nun muss überlegt werden, wie man ihr diesen Status als stärkste Oppositionskraft wieder streitig machen kann. Und das bedeutet wiederum, die Probleme der Linken genauer ins Auge zu fassen.
Für den schrumpfenden Teil der Wählerschaft, der sich immer noch als sozialistisch versteht, waren die Ergebnisse der letzten Nacht eine bittere Pille. In Thüringen, der letzten Hochburg der Linkspartei, verlor sie fast zwei Drittel ihrer Stimmen, und das trotz der unbestreitbaren Beliebtheit des Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. In Sachsen scheiterte sie erstmals an der Fünf-Prozent-Hürde und konnte sich nur dank zweier Direktmandate in Leipzig halten. Insbesondere der Erfolg von Nam Duy Nguyen, der einen durchweg professionellen Haustürwahlkampf geführt und die Partei mehr oder weniger vor dem politischen Aus bewahrt hat, scheint ein wenig Vergewisserung zu bieten, dass »wer kämpft, kann gewinnen«. Aber die demografischen, sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen, mit denen Die Linke in dieser kosmopolitischen Studierendenstadt konfrontiert ist, sind kaum repräsentativ für Sachsen insgesamt. Im Großen und Ganzen scheint die Partei den Rest ihrer traditionellen Basis im Osten verloren zu haben, vor allem an das BSW.
Der Erfolg des BSW wiederum bestätigt, was die Anhängerinnen und Anhänger Wagenknechts in ihrer ehemaligen Partei schon seit vielen Jahren sagen, nämlich dass Wagenknechts Positionen in der Parteibasis weitaus beliebter waren, als manche Funktionärinnen und Aktivisten gerne zugeben wollten. Die Daten der Wählerwanderung von gestern Abend zeigen, dass das BSW große Teile der Wählerschaft der Linkspartei kannibalisiert hat. Auch wenn die Gründerinnen und Gründer des BSW nicht müde werden zu betonen, man wolle den Menschen vor allem eine »seriöse Alternative« zur AfD bieten, so ist es doch kaum gelungen, den Rechtspopulisten Wählerinnen und Wähler abzuziehen. Der Erfolg zeigt aber auch, dass es das BSW, anders als etwa die Linkspartei versteht, an Sorgen und laufende Konflikte innerhalb der Wählerschaft anzuknüpfen. Während Die Linke eine breite Palette an sozialdemokratischen Forderungen aufstellte, aber strittige Themen zu vermeiden versuchte, fokussierte sich das BSW auf jene Themen, die die Bevölkerung gerade umtreiben: Waffenlieferungen an die Ukraine, die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen, Migration und Energiepreise.
»Wagenknecht ist nur ein Symptom für das viel größere Debakel der Linkspartei im Osten: Sie hat sowohl den Status der Volkspartei als auch den der Protestpartei verloren.«
Wie Oliver Nachtwey letzte Woche in der FAZ schrieb, war die Wählerbasis von Die Linke schon immer gespalten. Während man sich in der Ablehnung der vertikalen Ungleichheit zwischen den Reichen und dem Rest einig war, war sie in praktisch jeder anderen Frage gespalten. Ein eher »progressives« Lager – vermutlich das hochgebildete, kosmopolitische Segment ihrer Wählerschaft, das zunehmend die aktive Mitgliedschaft und den Apparat dominiert – stand einem »konservativen« Block gegenüber, der sich auf ländliche, östliche Gebiete konzentriert. Wagenknechts politische Innovation bestand darin, diese Spaltung zu erkennen und sie zur Grundlage ihrer jüngsten »linkskonservativen« Wende zu machen. Ihr eigentümliches Charisma und ihre Omnipräsenz in den Medien taten ihr Übriges.
Regelmäßig wird Wagenknecht vorgeworfen, Die Linke zu sabotieren, in der Migrationsfrage den Rechten hinterherzulaufen und damit zum Rechtsruck in der Gesellschaft beizutragen. Sicherlich haben ihre Auslassungen über »tickende Zeitbomben«, »Ausländerkriminalität« und »unkontrollierte Gewalt« in den letzten Wochen unmissverständlich deutlich gemacht, wie sehr sie sich vom linken Lager entfernt hat und wie weit ihre Bereitschaft geht, (auch) am rechten Rand auf Stimmenfang zu gehen. Doch Wagenknecht ist nur ein Symptom für das viel größere Debakel der Partei Die Linke im Osten: Sie hat sowohl den Status der Volkspartei als auch den der Protestpartei verloren, aber bisher keine neue Identität gefunden.
Mit Ausnahme von Bodo Ramelow, der allein durch seine Popularität so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal der Partei darstellt, waren die Wahlkämpfe in beiden Bundesländern kaum von denen der anderen Mitte-Links-Parteien zu unterscheiden. Slogans wie »Heimat ohne Hass« oder »Menschlich. Stark. Gerecht.« hätten auch von den Grünen, der SPD oder sogar der CDU kommen können. Die Art von ostdeutscher Identitätspolitik, die die Linke lange betrieben hat, wurde inzwischen von der AfD monopolisiert. Dies lässt der Partei eigentlich nur eine mittelfristige Option: eine aggressivere Oppositionspolitik.
Affekte sind natürlich nicht alles in der politischen Auseinandersetzung, aber in einer Zeit, in der über zwei Drittel der Bevölkerung mit der Bundesregierung unzufrieden sind, könnte man von einer sozialistischen Oppositionspartei erwarten, mit etwas schärferer Zunge zu sprechen und diese Unzufriedenheit für sich zu nutzen. Stattdessen versucht Die Linke im Osten, sich als der sozialere Flügel des demokratischen Lagers zu positionieren, der aber keine grundsätzlicheren gesellschaftlichen Veränderungen verfolgt oder als Fundamentalopposition zum Status quo auftritt. Das mag funktioniert haben, als die Partei noch mit bekannten, charismatischen Führungspersönlichkeiten bestückt war, aber jetzt, wo die meisten von ihnen in den Ruhestand gegangen sind und eine neue, deutlich weniger erfahrene und weitgehend unbekannte Generation das Ruder übernimmt, funktioniert das nicht mehr.
Die Frage, ob Die Linke noch die Kurve kriegt, wird schon seit Jahren gestellt. Die gestrigen Wahlen ändern wenig an der grundsätzlichen Krise der Partei, aber unterstreichen zumindest nochmal schmerzlich, wie existenziell die Situation für Die Linke mittlerweile geworden ist.
Das BSW ist, das muss man sagen, keine rechte Partei. Aber sie ist auch keine linke Partei, wie ihre Vertreterinnen und Vertreter gerne betonen. Auch ist es ihr, wenn man den vorläufigen Zahlen von gestern Abend glauben darf, nicht gelungen, das Erstarken der AfD zu stoppen. Das BSW hat sich vielmehr einen neuen Platz zwischen der CDU auf der einen Seite und den ehemaligen Genossinnen und Genossen auf der anderen Seite geschaffen. Für das BSW muss das erst einmal nichts bedeuten – sein Ziel, die Ampelparteien vor sich herzutreiben, scheint es bereits zu erreichen. Für Die Linke hingegen bedeutet es, dass zumindest theoretisch noch Platz im politischen Spektrum für eine demokratisch-sozialistische Partei ist – aber nur, wenn es in der Bevölkerung noch Bedarf an einer demokratisch-sozialistischen Partei gibt.
»Für rechte Regierungen ist es leichter als für linke, ihre Kernklientel materiell an sie zu binden, ohne die grundsätzlichen Strukturen der Wirtschaft anzufassen.«
Der Satz, »Die Linke wird gebraucht«, fällt regelmäßig in parteiinternen Debatten über die Zukunft der Partei. Marxistinnen und Marxisten dürften dem abstrakt gesprochen erst einmal zustimmen: Solange wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, »braucht es« eine sozialistische Partei, die den Kampf für eine sozialistische Gesellschaft organisiert. Aber sie wird dies nicht tun können, indem sie sich damit begnügt, gegenüber ihrer schrumpfenden Kernwählerschaft zu betonen, dass nur sie – im Vergleich zu abtrünnigen Ex-Genossinnen und Ex-Genossen – wirklich eine linke Kraft ist. Linke Parteien, wie auch die Linkspartei zu ihren besseren Zeiten, sind dann erfolgreich, wenn sie einen signifikanten Teil der Bevölkerung, der ihre Ideologie nicht unbedingt teilt, davon überzeugen kann, dass sie ihre Interessen am besten vertritt. Das schafft Die Linke in Deutschland, und erst recht in Ostdeutschland, offenbar nicht mehr.
Kann sich das noch ändern? Einfach wird es nicht. Nachtwey schreibt, dass soziale Verteilungskonflikte in Deutschland zunehmend nicht nur als vertikal, also zwischen oben und unten, wahrgenommen werden, sondern auch als horizontale Konflikte zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Hierin liegt auch der Kern für den Erfolg der Rechtspopulisten in vielen Ländern: Nachdem der linke Aufbruch der 2010er großenteils darin gescheitert ist, aus seinem politischen Momentum die Kraft für echte politische Veränderungen zu schöpfen, liefern Rechtspopulisten, zwar in geringerem Umfang und meistens auf Kosten marginalisierter Gruppen, zumindest kleine materielle Gewinne für ihre Wählerschaft – sei es in Form von Familienkrediten und Steuererleichterungen oder dem Versprechen von weniger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch Migrationsbegrenzung. Für rechte Regierungen ist es leichter als für linke, ihre Kernklientel materiell an sie zu binden, ohne die grundsätzlichen Strukturen der Wirtschaft anzufassen. Die AfD schafft das zwar noch nicht, aber betrachtet man die Beweggründe von AfD-Wählerinnen und -Wählern, scheinen immer mehr davon zu glauben, dass sie dies kann. Das macht sie nur noch gefährlicher.
Angesichts der politischen Stimmung im Land und der Lage der Linkspartei selbst sind die Aussichten auf unmittelbare politische Gestaltung auf Landesebene erstmal ziemlich düster. Das könnte aber auch ein Segen sein, denn jede Regierungsbeteiligung der Linken würde zwangsläufig auch bedeuten, den Status als einzige Oppositionskraft wieder an die AfD abzugeben und die gesellschaftliche Polarisierung entlang von kulturellen und horizontalen Achsen weiter festzuschreiben. Um dem Rechtspopulismus mittel- und langfristig das Wasser abzugraben, braucht es stattdessen Kräfte, die den Konflikt zwischen oben und unten wieder in den Mittelpunkt rücken, und die Menschen davon überzeugen, dass der Verteilungskampf in erster Linie nicht horizontal verläuft, sondern zwischen oben und unten. Wer diese Perspektive preisgibt, um möglicherweise eine AfD-Regierungsbeteiligung kurzfristig zu verhindern, ebnet ihr langfristig den Weg zu jener gesellschaftlichen Hegemonie, die ihre Geistesverwandten anderswo in Europa bereits innehaben.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.